Häussler, Matthias, Der Genozid an den Herero. Krieg, Emotion und extreme Gewalt in „Deutsch-Südwestafrika“. Velbrück, Weilerswist 2018. 348 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Im Jahr 1966 veröffentlichte der ostdeutsche Historiker Horst Drechsler sein Werk mit dem Titel „Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft. Der Kampf der Herero und Nama gegen den deutschen Imperialismus 1884-1915“, welches das Vorgehen der deutschen Schutztruppe im heutigen Namibia und den Verlauf, den die zwischen 1904 und 1908 ausgefochtenen Pazifizierungskriege gegen die genannten Indigenen nahmen, als Völkermord in Vollzug einer konsequent umgesetzten Vernichtungsstrategie einstuft. Diese intentionalistische Perspektive hat den Blick der Historiker auf die Ereignisse lange bestimmt. Das allgemeine Interesse galt vornehmlich der Person des verantwortlichen Kommandeurs der Schutztruppe, Generalleutnant Lothar von Trotha, dessen rücksichtslose Kriegsführung und dessen Proklamation vom 2. Oktober 1904, die sämtliche Herero des Landes verwies, und zwar unter Androhung der sofortigen Erschießung bei einem Aufgriff innerhalb der Grenzen des deutschen Kolonialgebietes (vgl. den Wortlaut S. 190f., Anm. 111), das Vorliegen einer frühen genozidalen Intention zu belegen scheinen. Dabei werde häufig „so vorgegangen, dass Äußerungen Trothas angeführt werden, die auf rassistisch-eliminatorische Motivationen schließen lassen. Die betreffenden Äußerungen werden so aus ihrem jeweiligen Kontext herausgelöst und zu einem ideologischen Profil verdichtet, auf dessen Grundlage deutlich werden soll, dass Trothas Maßnahmen auch wirklich darauf abzielten, die Herero als Gruppe zu vernichten. Weil Trotha ein ‚Unmensch‘ rassistisch-eliminatorischer Gesinnung war, so der Schluss, zielten seine gewaltsamen Praktiken auf die Ausrottung der Herero“ (S. 15f.).
Dass diese Lesart zu kurz greift und die Realität des Geschehens verzerrt, weist die vorliegende, von dem Soziologen Trutz von Trotha (1946 – 2013) angeregte und an der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaft der Universität Luzern eingereichte Dissertation Matthias Häusslers nach. Seine Untersuchung erzählt „im Kontrast zu dem vorherrschenden Narrativ […] eine Geschichte der Misserfolge und der Rückschläge, in der sie auch den Genozid an den Herero situiert“, denn „diese Sicht auf den Krieg und den Genozid“ bilde für ihn, Häussler, „den Ausgangspunkt der Erklärung der genozidalen Eskalation“ (S. 11). Um jene erschließen und beschreiben zu können, sei eine nähere Auseinandersetzung mit den wirkmächtigen Elementen der Komplexität, des Rassismus und der Emotion vonnöten.
Die Wahrnehmung der kolonialen Herrschaft in Deutsch-Südwestafrika als komplexes System führe zur Erkenntnis, dass „die ‚Pazifizierung‘ […] von Gegensätzen wie ‚staatlich/privat‘, ‚Metropole/Kolonie‘ oder ‚Militär/Zivil‘ geprägt (war). Die Entfesselung extremer Gewalt ging aus einem Spannungsfeld heterogener und teilweise antagonistischer Kräfte hervor. Sie ist nur als ein Prozess zu entschlüsseln, der sich schrittweise aus den Beziehungen von Akteuren herstellte, die aus mitunter eingeschränkter Perspektive und den Imperativen spezieller Handlungslogiken gehorchend eigene Zielsetzungen und Interessen verfolgten. Aus den vielfältigen Interaktionen konnten neue, vorab nicht voll zu antizipierende Konstellationen hervorgehen, die über die eigentlichen Absichten der beteiligten Akteure hinauslagen. Die Gewalt hatte nicht einen einzigen, sondern eine ganze Reihe von Urhebern“ (S. 20). Konkret interagierten etwa als Vertreter der Kolonialmacht in der Zentrale Berlin das Reichskolonialamt, der Große Generalstab und auch Kaiser Wilhelm II. höchstpersönlich, an der Peripherie in Deutsch-Südwestafrika die koloniale Gesellschaft und der Kolonialstaat als ein „schwacher Staat, der weder imstande noch wirklich willens war, der Privatisierung der Gewalt durch Siedler und Soldaten Einhalt zu gebieten“, und damit zugleich eine „Despotie der weißen Erobererschicht“ förderte, deren wachsende Maßlosigkeit für den bewaffneten Widerstand der Herero ursächlich wurde (S. 19). Den damals allgegenwärtigen Rassismus erachtet Matthias Häussler als „wichtige Bedingung der Eskalation“, indem dieser „den Grund für die Normalisierung von Abweichungen“ legte: „Fraglos lieferte der Rassismus deutschen Siedlern und Soldaten […] immer wieder Motive, um Afrikaner zu demütigen, zu verletzen oder zu töten; zugleich bewog er aber auch die vielen ‚Bystander‘ und Amtsträger dazu, wegzusehen oder ‚ein Auge zuzudrücken‘. […] (D)ie schier unüberwindliche Distanz, welche die ‚Weißen‘ zu den ‚Eingeborenen‘ hielten, brachte es auch mit sich, dass ihnen das Schicksal der Indigenen bestenfalls gleichgültig war. Im Schatten dieser Gleichgültigkeit konnten selbst schwerste Verbrechen verübt werden, ohne dass jemand Anstoß daran nahm“ (S. 24f.). Als ein beredtes Beispiel dafür, wie wenig den Behörden das Leben eines Afrikaners galt, wird an mehreren Stellen (so S. 299 und S. 305) das überlieferte Schicksal des Frachtfahrers James erwähnt, der während eines Transports erkrankte und daraufhin kurzerhand von einem Soldaten erschossen wurde, wofür der Täter lediglich mit sieben Wochen Haft belegt wurde. In der vom Rassismus dominierten Kolonialgesellschaft seien Furcht und Misstrauen stets präsente Emotionen gewesen. Das Ausbleiben des militärischen Erfolges über die Herero habe dann das Selbstbild der Kolonialherren erheblich beschädigt und diese Kränkung den in der Gewaltsoziologie bekannten „Scham-Wut-Mechanismus“ ausgelöst: „Emotionen bestimmten mehr und mehr die Kriegführung, und dieser Umstand hatte desaströse Folgen“ im Hinblick auf die „Entfesselung genozidaler Gewalt“ (S. 29).
Im System dieser Koordinaten versucht sich der Verfasser an einer dichten Beschreibung des Gewaltprozesses über insgesamt fünf Abschnitte. Zunächst erörtert er die Lage und das Verhalten der Siedler bis zum Einsetzen des Aufstandes der Herero. Im zweiten Teil werden die Maßnahmen des Gouverneurs Theodor Leutwein, die Reaktion in Berlin und die Entsendung und Kommandoübernahme Lothar von Trothas – de facto die Etablierung einer Militärdiktatur – geschildert. Im Fokus der dritten Sektion steht der Feldzug, zunächst die Operationen unter Leutwein, dann unter Trotha mit der Schlacht am Waterberg im August 1904, der Verfolgung der sich dem Gegner entziehenden Herero, Trothas Proklamation und die Dynamik der Entgrenzung. Ein weiteres Kapitel setzt sich mit den sogenannten Dynamiken des Kleinen Krieges und der durch Angst und Verbitterung wesentlich motivierten Brutalisierung des deutschen Militärs in der Kolonie auseinander, bevor im letzten Abschnitt der Kurswechsel, die Ablösung Trothas durch Gouverneur Friedrich von Lindequist, die Lage der Herero in den Konzentrationslagern und das radikale Kalkül der zivilen Behörden thematisiert werden. Ein übergreifendes Schlusskapitel fasst auf elf Seiten noch einmal die wesentlichen Erkenntnisse der Studie zusammen.
Mit Recht hält der Verfasser fest, dass es gar nicht so sehr auf die Bestimmung eines Zeitpunkts, also „die Lokalisierung des ‚genozidalen Moments‘“, ankomme, sondern vor allem darauf, „den Verlauf von Entwicklungen zu rekonstruieren“ (S. 310). Schon vor dem Ausbruch des Herero-Aufstandes verfolgte Gouverneur Leutwein das „Ziel, die Indigenen mit ihrem Schicksal als Heloten zu versöhnen […]. Von der Selbständigkeit mußte ihnen […] nichts mehr bleiben als die Erinnerung. Hand in Hand mit einer solchen Friedenspolitik konnte in Fällen von Unbotmäßigkeit eine allmähliche Entwaffnung der Eingeborenen, verbunden mit Auflösung der Stammesverbände, gehen“ – für den Verfasser bereits ein „ethnozidale(r) Fluchtpunkt“ (S. 94f.). Während Leutwein aber noch in erster Linie die wirtschaftlichen Interessen der Kolonie im Auge hatte und dementsprechend ein Zweck-Mittel-Kalkül verfolgte, verlangte das ferne Berlin einen „politische(n) Vernichtungskrieg“, der sich „nicht primär gegen die Herero-Gesellschaft und ihre Mitglieder, sondern gegen ihre politischen und sozialen Strukturen richtete“ und zugleich „für die strategische Entgrenzung des Feldzuges sorgte“. Erklärtes Ziel war die „bedingungslose Unterwerfung der Aufständischen“, die man klassisch-militärisch durch ein großes entscheidendes Gefecht erzwingen wollte: „Hätte Trotha am Waterberg den erhofften Sieg davongetragen, müssten wir heute möglicherweise nicht von einem Genozid sprechen“. Nachdem dies nicht gelang und die meisten Herero in die wasserarme Omaheke-Wüste entkommen waren, habe Trotha, der wider besseres Wissen eine Siegesmeldung nach Berlin gesandt hatte, seinen Feldzug ebenso obsessiv wie erfolglos fortgesetzt. „Als sich abzuzeichnen begann, dass sich die Herero nicht auf britisches Gebiet würden retten und auch nicht in der Omaheke würden halten können, war Trotha umso entschlossener, an den Absperrungsmaßnahmen festzuhalten. Er war nicht nur bereit, die Ausrottung der Herero in Kauf zu nehmen, sondern war begierig, sie nach Kräften zu betreiben. Die verleugnete Scham war bereits in Wut und Hass umgeschlagen, und mit den Herero konnte Trotha zugleich die Spuren seines militärischen Scheiterns auslöschen“. Hand in Hand mit den Entbehrungen auch auf Seiten der Schutztruppe sei eine zunehmende Brutalisierung der Soldaten gegangen, „zwar ein unerwünschter Effekt des sich hinziehenden Feldzuges“, aber dennoch ein Mittel, „dies[en] auch in seiner genozidalen Phase am Laufen zu halten“ (S. 310f.). Der Gang des Geschehens schuf in letzter Konsequenz Fakten, hinter die zurückzufallen die Kolonialherren nicht mehr bereit waren: „Die Herrschaftsphantasien der Weißen entgrenzten. Davon zeugen nicht nur die Zustände in den Konzentrationslagern, sondern auch die Verhältnisse in den späteren ‚Friedenszeiten‘. Gewalt gegen ‚Eingeborene‘ war in einem Maße normal, dass es manchem Besucher aus dem Reich regelrecht die Sprache verschlug“ (S. 312). Offensichtlich sei, dass all das nicht das Ergebnis eines Masterplans gewesen sein könne: „Blicken wir auf das Gesamtgeschehen einschließlich der Gewaltverhältnisse, die der eigentlich genozidalen Phase voran- und schließlich aus dieser noch hervorgingen, springt […] gerade das Fehlen einer kohärenten zentralen Steuerung ins Auge“ (S. 313).
Die Thesen Matthias Häusslers überzeugen nicht zuletzt auch deshalb, weil die von ihm als zentral erachteten Elemente der Komplexität, des Rassismus und der Emotion auch die Entwicklung des wohl größten Genozids des 20. Jahrhunderts, des Holocaust, hinreichend zu erklären vermögen. Die moderne Holocaustforschung konnte unter Korrektur älterer simplifizierender und intentionalistisch gefärbter Ansätze (man denke hier nur an die ebenso lange wie vergebliche Suche nach einem schriftlichen Vernichtungsbefehl Hitlers) belegen, dass sich der Entschluss zur physischen Vernichtung des jüdischen Volkes allmählich im Interaktionsfeld verschiedener Akteure mit jeweils unterschiedlichen Interessen zwischen Zentrale und Peripherie herausbildete. Die geistige Grundlage für diesen Prozess war zweifellos die rassistische Ideologie des Nationalsozialismus mit ihrer Lehre von der Überlegenheit der „arischen“ Völker und der Inferiorität des als gefährlich erachteten Judentums. Eine kontinuierliche Propaganda sorgte für die Verbreitung dieses Denkens und machte es so zu einer alltäglichen Selbstverständlichkeit, die „Gleichschaltung“ der staatlichen Institutionen, insbesondere der Polizei und der Gerichte, gewährleistete, dass Täter bei selbst nach damaligem Verständnis rechtswidrigen Übergriffen auf jüdische Menschen und jüdisches Gut nur selten ernsthafte Konsequenzen zu befürchten hatten. Somit zeigt auch der Weg hin zum Holocaust, vergleichbar der genozidalen Entwicklung in Deutsch-Südwestafrika, ganz deutlich das Merkmal der „Normalisierung von Abweichungen“. Diese Desensibilisierung erleichterte zweifellos vielen Deutschen, schließlich auch den Massenmord weitgehend ohne emotionale Anteilnahme zu registrieren und zu tolerieren oder sich gar persönlich aktiv daran zu beteiligen. Da die rassistische Propaganda des NS-Staates den Zweiten Weltkrieg zum Rassenkampf („arisches“ Germanentum gegen „jüdischen Bolschewismus“ und „jüdisches Finanzkapital“) und den Sieg zu einer Frage des Überlebens hochstilisiert hat, ist es zudem kein Zufall, dass der Höhepunkt des Holocaust zeitlich mit militärischen Rückschlägen an den Fronten zusammenfiel, die den deutschen „Endsieg“ immer unwahrscheinlicher machten. Diese ernüchternde Situation förderte und verstärkte Emotionen wie Furcht und Hass, die rationale Nützlichkeitserwägungen zunehmend verdrängten und mittels des oben erwähnten „Scham-Wut-Mechanismus“ die Vernichtungsmaschinerie zu Höchstleistungen antrieben. Somit zeigen die beiden Genozide trotz ganz unterschiedlicher historischer Kontexte markante Parallelen dort, wo es um jene Aktivatoren geht, deren Interagieren die kumulative Radikalisierung möglich machte und vorantrieb.
Matthias Häussler stützt seine überzeugende Arbeit, die unrichtige Annahmen widerlegt, einen wichtigen Beitrag zur historischen Klärung des Genozids an den Herero im beginnenden 20. Jahrhundert leistet und damit zugleich eine probate Folie zur Untersuchung anderer Völkermorde anbietet, auf eine breite Basis an Literatur und Quellen, darunter das handschriftliche Original des Kriegstagebuchs Lothar von Trothas aus dem Archiv der Familie von Trotha. Unter anderem wertet er neben deutschen und britischen auch Archivbestände Namibias, der Republik Südafrika und Botswanas aus. Britisches Material kompensiert zum Teil die verlorengegangenen Aktenbestände der deutschen Schutztruppe und enthält als seltene Besonderheit auch zeitgenössische Stimmen der Herero und Nama. Für die geographische Orientierung sorgt der sich über zwei Buchseiten erstreckende Abdruck einer zeitgenössischen Karte Deutsch-Südwestafrikas im Maßstab 1: 3.150 000, die auch die Siedlungsgebiete der indigenen Stämme ausweist (S. 344f.). Wie bei den meisten Dissertationen üblich, verfügt die Studie aber leider über keine Suchregister.
Kapfenberg Werner Augustinovic