Gusy, Christoph, 100 Jahre Weimarer Verfassung – Eine gute Verfassung in schlechter Zeit. Mohr Siebeck, Tübingen 2018. 328 S. Besprochen von Karsten Ruppert.

 

Die Auseinandersetzung mit der Weimarer Republik und mit deren Verfassung hat unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt. Ihr Höhepunkt lag zweifellos in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Über den damaligen Erkenntnisstand sind auch die zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema, die anlässlich des 100. Jahrestags der Gründung der Weimarer Republik erschienen sind, nicht hinausgekommen. Denn die meisten waren Zusammenfassungen von Bekanntem oder aber Gelegenheitsschriften ohne wissenschaftlichen Ertrag. Zu den wenigen Büchern, die dennoch eine Auseinandersetzung lohnen, gehört sicherlich das zu besprechende von dem Bielefelder Staatsrechtslehrer Christoph Gusy, einem der besten Kenner der Weimarer Reichsverfassung. In der jahrzehntelangen Debatte um dieses Dokument und seine historische Bedeutung haben sich zwei Lager herausgebildet. Das eine weist überwiegend auf die Strukturmängel der Verfassung hin und macht diese für das Scheitern der Republik mitverantwortlich. Das andere feiert die Verfassung als eine große staatsrechtliche Errungenschaft und betont deren Chancen und Potenziale. Christoph Gusy bekennt sich eindeutig zu diesem Lager.

 

Im ersten Kapitel wird der Text der Verfassung präsentiert und auf die ausländischen Vorbilder wie die zeitgenössische Debatte um die Reichsverfassung eingegangen. Die entscheidende These lautet hier, die Verfassungsberatungen waren in einem beträchtlichen Umfang durch die Länderverfassungen, die Oktober-Reformen und die Entscheidungen des Rats der Volksbeauftragten vorgeprägt. Der Tagungsort sei nicht so sehr wegen der Unruhen in Berlin gewählt worden, sondern weil er näher zu Süddeutschland gewesen sei. Denn der Erhalt des Reiches, dessen Einheit zum Zeitpunkt der Beratungen höchst gefährdet war, war vielleicht das oberste Ziel der Verfassungsgebung überhaupt. Darauf weist Gusy zu Recht hin, weil dieses Motiv heute allzu oft vergessen wird. Schon während der Beratungen zeichneten sich die späteren Konfliktlinien und Spaltungen an dem Streit über die Staatssymbole ab.

 

Dem Verfassungsausschuss wird Fleiß und Kompetenz bescheinigt. Weniger die Stärke der Fraktionen war hier entscheidend als Kenntnisse und der Wille, einen Konsens zu finden. Es ist richtig zu betonen, dass die bürgerlichen Parteien keine Scheu hatten, im Ausschuss mit den Oppositionsparteien zusammenzuarbeiten. Dabei hätte etwas stärker herausgestellt werden müssen, dass die Verfassung deswegen und weil die allzu stark von der Regierungsarbeit absorbierte Sozialdemokratie kaum Experten auf diesem Feld vorzuweisen hatte, wenig von dieser geprägt wurde.

 

Dabei bildet das erste Kapitel nicht nur einen Einstieg in den Text, sondern zeigt auch die zeitgenössische Situation auf: die Debatte um eine neue Reichsverfassung wird ebenso dargestellt wie ihr Bezug zu den Verfassungen des Auslands, die zur gleichen Zeit entstehen.

 

Das zweite Kapitel befasst sich mit der Entstehungsgeschichte. Wie üblich wird die Rolle des Staatssekretärs im Reichsamt des Innern, Hugo Preuß, stark herausgestellt. Er habe selektiv auf die unterschiedlichen Traditionen der deutschen Verfassungsgeschichte, die Länderverfassungen und ausländische Vorbilder zurückgegriffen und sich für ein starkes Parlament, Freiheitsrechte und politische Mitwirkungsrechte entschieden. Den Föderalismus des Kaiserreichs habe er abgemildert. Immerhin wird konzediert, dass der Vorsitzende des Verfassungsausschusses der linksliberale Conrad Hausmann und der Vorsitzende des Unterausschusses für Grundrechte, Konrad Beyerle vom Zentrum, ebenfalls prägend waren. Durch die Herausstellung der Personen, insbesondere von Preuß, wird der Einfluss der Parteien unverhältnismäßig vermindert. Bezeichnend, dass die Zugehörigkeit zu den Parteien nie erwähnt wird. Kennzeichen des aus diesen Beratungen hervorgegangenen Regierungssystems sei dessen doppelte Legitimation durch Parlamentarismus und Volkswahl des Staatsoberhaupts gewesen.

 

Das dritte Kapitel ist insofern eine Bereicherung, als es über die Verfassung hinausgeht. Es wird der Richtungsstreit in der zeitgenössischen Staatsrechtslehre ausgebreitet. Allerdings bringt sich der Verfasser etwas um die Wirkung seiner Ausführungen, da er sehr allgemein auf Denkrichtungen und Entwicklungslinien eingeht, die für die meisten Leser nur schwer verständlich sind, da deren Urheber niemals genannt werden. Es ist sicherlich nicht falsch, dass die Kritiker der Verfassung unter den Staatsrechtslehrern deren negatives Bild in der Bundesrepublik geprägt haben, Doch war deren Rolle dabei nicht so wirkungsvoll, wie sie hier herausgestellt wird.

 

Mit dem vierten Kapitel beginnt die Darstellung „wichtiger Institutionen und Konflikte“.

 

Zuzustimmen ist Gusy, wenn er die gängige Ansicht zurückweist, dass die in der Verfassung vorgesehene Möglichkeit von Plebisziten die Republik nachhaltig geschädigt habe. Denn sie hätten den Demagogen ein ideales Feld zur Betätigung eröffnet. Das aber hatten sie auch sonst mehr als genug. In den 14 Jahren auf Reichsebene sind nur zwei Volksentscheide durchgeführt worden, die beide scheiterten. "Solche Ergebnisse waren gewiss nicht geeignet, die Republik aus den Angeln zu heben“. Plebiszite seien „in der Republik keine Krisenursachen, sondern Krisenindikatoren“ gewesen. Es ist sicherlich richtig, dass die wiederholten Reichstagsauflösungen und die fortgesetzten Regierungskrisen ein „wesentlich höheres Destruktionspotential“ entfalteten. Die Schlussfolgerungen, die Gusy aus seiner Beschäftigung mit der Volksgesetzgebung in der Weimarer Republik zieht, ist überraschend. Er ist nämlich der Überzeugung, dass die damals mit diesem Institut gemachten Erfahrungen keinesfalls dafür gesprochen haben, plebiszitäre Elemente im Grundgesetz auszuschließen. Diese Ansicht wird genau so wenig ohne Widerspruch bleiben wie die, dass die These, die Republik sei an ihren Plebisziten gescheitert eine Erfindung der Nachkriegszeit gewesen sei.

 

Die Funktion des Reichspräsidenten im Verfassungsgefüge stellt Gusy in einen größeren Zusammenhang, indem er das Ringen der Nationalversammlung nachzeichnet, ein Gleichgewicht zwischen Reichstag und Reichspräsident herzustellen. Nachdem im Laufe der Beratungen die zahlreichen Einwirkungsmöglichkeiten des Staatsoberhauptes auf das Parlament reduziert wurden, blieb nur noch dessen Recht, den Reichstag aufzulösen, und Notverordnungen zu erlassen. Dass diese gegenüber den ursprünglichen Vorstellungen deutlich reduzierte Machtstellung einmal ausschlaggebend sein würde für das Schicksal der Republik, konnte in Weimar in der Tat niemand ahnen.

 

Zu milde geht der Verfasser mit den parlamentarischen Kräften um, wenn er auch nicht verschweigt, dass die Regierungsarbeit viel zu oft durch das destruktive Verhalten des Parlaments lahmgelegt wurde. Der Reichstag hat nicht nur in der Staats- und Wirtschaftskrise seit dem Ende der zwanziger Jahre versagt, sondern schon zu Beginn der Republik in der Zeit der zahlreichen Ermächtigungsgesetze. Nur mit Wohlwollen kann man ihm bescheinigen, dass er wenige Jahre seine Aufgabe, durch Gesetzgebung politisch zu gestalten, nachgekommen ist. Das muss deutlich auch gegenüber neueren kulturgeschichtlichen Studien festgehalten werden, die dieses Bild zu revidieren versuchen. Die Parteien und Fraktionen hätten sehr viel mehr in die parlamentarische Disziplin und das Übernehmen von Verantwortung eingespannt werden müssen, als es die Verfassung vorsah. Und das Wahlrecht tat ein Übriges. Wenn der erste Reichsinnenminister David mit Stolz verkündete, dass Deutschland das demokratischste Wahlrecht der Welt habe, da auch noch die letzte Stimme zähle, dann hatte er leider Recht. Der entscheidende Fehler der parlamentarischen Bestimmungen der Reichsverfassung wie des Wahlrechts war, dass sie einem Ideal nachstrebten, das für die Realität nichts taugte. Eine Fehlentscheidung, die allerdings der Rat der Volksbeauftragten zu verantworten hatte.

 

Häufig sei in der Verfassung die Berufung auf das Volk, das als eine Einheit angesehen wurde und daher naturrechtlich, vorstaatlich und nicht positivrechtlich begriffen wurde. Entgegen der konstitutionellen Tradition seien Abgeordnete und Parlament als Staatsorgane konzipiert worden. Bedenkenswert ist der Hinweis, dass zur Zeit der Weimarer Republik und danach der Parlamentarismus zu vorschnell diskreditiert worden sei, ohne das Gegenbild in den Ländern zur Kenntnis zu nehmen. Die Demokratie wurde in der Weimarer Republik stark mit dem Parlamentarismus gleichgesetzt. Die Schaffung einer parlamentarischen Republik sei vorentschieden gewesen in der Verfassung sei es nur noch um deren Ausgestaltung gegangen; sie sollte die Antithese zur konstitutionellen Monarchie sein.

 

Eine Stärke des Buches ist es, dass breit auf den Verfassungsschutz eingegangen wird. Denn dadurch kann Gusy überzeugend darlegen, dass sehr wohl Möglichkeiten gegeben waren, gegen die Feinde der Verfassung vorzugehen. Wenn dies auch in den frühen zwanziger Jahren getan wurde, so schwand der Wille deutlich gegen Ende des Jahrzehnts. Der Hauptgrund, dass Politik und Justiz allmählich resignierten, war aber wohl nicht, sich alle Kooperationsmöglichkeiten offen zu lassen. Ausschlaggebend dafür war eher der schwindende Rückhalt für das politische System, der das Selbstbewusstsein der republikanischen Kräfte unterhöhlte, und die Justiz für das rechtsradikale Zerstörungspotenzial immer blinder machte.

 

Es ist schon richtig, dass Beamte, Angestellte des öffentlichen Dienstes und Richter aus der Monarchie übernommen wurden. Woher denn sonst? Deren monarchische Sozialisation war aber das geringste Problem. Die Verwaltung hat die Republik weder ausgehöhlt noch gestürzt. Auch diejenigen, die Vorbehalte hatten, haben ihre Pflicht erfüllt. Wo der politische Wille, republikanische Staatsdiener zu formen, vorhanden war, hat es durchaus Erfolge gegeben, insbesondere in den Ländern, in denen auch damals schon der größte Teil der Staatsdiener beschäftigt war. Das größte Land Preußen hat es vorgemacht.

 

In der Weimarer Reichsverfassung war sogar ein Verfassungsgericht vorgesehen – „damals im internationalen Vergleich fast ohne Beispiel“. Allerdings waren dessen Kompetenzen nicht derart präzise ausgestaltet wie später beim Bundesverfassungsgericht. In diesem Punkt wurde von „Weimar“ gelernt. Doch sei die Verfassungskonkretisierung, die der „Staatsgerichtshof“ nicht leisten konnte, weitgehend von der „Staatsrechtswissenschaft“ erbracht worden. Da viele Staatsrechtslehrer der Republik distanziert gegenüberstanden, wurde die Weimarer Verfassung an einer vermeintlich überpositiven Staatsidee, die verfassungsrechtliche Legalität an einer „staatstheoretisch begründeten Legitimität“ gemessen – und im Ergebnis verworfen. So interpretierte z. B. Carl Schmitt das Notstandsrecht nach Art. 48 nicht im Sinne einer Ausnahme zum Schutz der Verfassung, sondern gerade umgekehrt als Ausdruck einer dem Verfassungsrecht vorgeordneten oder übergeordneten Staatlichkeit.

 

Die Grundrechte und Grundpflichten werden als „Sozialverfassung der Republik“ bezeichnet. Gelobt wird, dass die Weimarer Reichsverfassung einen Grundrechtskatalog gehabt habe, der Vorbild für vergleichbare Bestimmungen bis in die Gegenwart geworden sei. Hier wieder dasselbe Phänomen, das man so oft an der Reichsverfassung beobachten kann. Vorbildlich in der Theorie, doch schwach in der Praxis. Denn kompetenter als sonst erfährt man hier, dass die Gerichte sich so gut wie gar nicht an die Grundrechte gebunden fühlten.

 

Nichts Neues bietet das Buch hinsichtlich des Weges des nationalsozialistischen Führers Adolf Hitler zur Macht und damit zur endgültigen Zerstörung der Weimarer Republik. Interessant ist allerdings, in welchem Umfang die Staatsrechtslehre die Legalität dieses Prozesses bescheinigt hat.

 

 „Die Weimarer Republik ist nicht an ihrer Verfassung zugrunde gegangen“, also nicht an dem, was eine Betrachtung im Nachhinein gern als „Geburtsfehler“ ausgemacht hat. „Eher ist umgekehrt die Verfassung untergegangen, als und weil die von ihr verfasste Republik preisgegeben wurde.“ Und die politische Willensbildung ist nun einmal durch keine noch so gute Verfassung im Vorhinein zu lenken. So die Überzeugung des Verfassers, die auch im Untertitel des Buches „Eine gute Verfassung in schlechter Zeit“ zum Ausdruck kommt. Er spricht sogar von einem „Meilenstein von Freiheit und Demokratie in der Verfassungsgeschichte“.

 

Historiker werden bemängeln, dass Gusy die Realität, in der sich die Verfassung zu bewähren hatte, zu wenig berücksichtigt. Er bleibt durchgehend auf der Ebene der staatsrechtlichen Literatur und Debatten. Er erreicht so ein hohes reflexives Niveau. Da er aber seine Einsichten so gut wie nie an der Wirklichkeit der Weimarer Republik überprüft, bleibt Skepsis gegenüber seiner oft wiederholten These, dass die Weimarer Reichsverfassung eine große Chance gewesen sei. So geistvoll manche seiner Überlegungen sind, so sind sie doch auch wieder so allgemein, dass sie fast banal klingen: die Verfassung wirkte in ihrer Zeit, die Zeit wirkte zurück auf die Verfassung; die Republik ist nicht an der Verfassung zugrunde gegangen, sondern die Verfassung scheiterte, weil die von ihr verfasste Republik sie aufgegeben habe. Solche Aussagen sind nicht falsch, doch so unkonkret, dass sie wenig besagen. Es wird vor allen Dingen vergessen, dass keine politische Kraft, die die Verfassung geschaffen hat, diese so wollte. Sie war eine typisch deutsche idealistische Kopfgeburt, die die spezifisch deutschen Traditionen der Politik ebenso wenig berücksichtigte wie die chaotische Lage zur Zeit ihrer Entstehung und noch weniger die Aufgaben, die sich in der Zukunft stellen würden.

 

Eichstätt/Römerberg                                                              Karsten Ruppert