Gradenwitz, Riccobono und die Entwicklung der Interpolationenkritik. Methodentransfer unter europäischen Juristen im späten 19. Jahrhundert, hg. v. Avenarius, Martin/Baldus, Christian/Lamberti, Francesca u. a. Mohr Siebeck, Tübingen 2018 (= Ius Romanum 5). VIII, 331 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.
Texte können keine eigene Rechte haben und dort, wo kein Urheberrecht besteht, hat auch der Urheber eines Textes keine rechtlichen Möglichkeiten gegen die Veränderung des Textes und damit auch nicht gegen die Interpolation als die spätere, von fremder Hand vorgenommene und nicht als solche kenntlich gemachte Einfügung in einen Text oder Veränderung eines Textes. Dementsprechend wurden an vielen älteren Texten zahlreiche Veränderungen vorgenommen, die nur schwer erkennbar sind: Dies betrifft auch zahlreiche lateinische Rechtstexte des Altertums, an denen sich die Interpolationenforschung entwickelt hat.
Der vorliegende Band vereinigt nach seinem kurzen Vorwort der vier Herausgeber Beiträge einer Tagung, die in der Villa Vigoni (Loveno di Menaggio) von dem 26. April bis zu dem 29. April 2016 unter dem Titel Juristischer Methodentransfer im späten 19. Jahrhundert – Rätsel zwischen Heidelberg, Berlin und Palermo stattgefunden hat. Insgesamt handelt es sich dabei um zehn einer Einleitung der Herausgeber folgende Studien. Sie betreffen vor allem Otto Gradenwitz (1860-1935), Paul Koschaker und Otto Gradenwitz‘ Schüler Salvatore Riccobono (1864-1958).
Ziel ist die Herausarbeitung von Einflüssen, welche die deutsche Romanistik und die italienische Romanistik aufeinander ausübten, wobei die Grundsätze der Textkritik und teilweise das Familienrecht des römischen Altertums sowie des 19. Jahrhunderts in den Mittelpunkt gestellt und auch einige unveröffentlichte Dokumente berücksichtigt wurden. An dem Ende kann Martin Avenarius das in den gedruckten Beiträgen und in weiteren, nicht in den Band aufgenommenen Studien entwickelte neue Gesamtbild der methodischen Grundüberzeugungen Gradenwitz‘, Riccobonos und anderer Romanisten auf acht Gesichtspunkte konzentrieren, in deren Rahmen der Verfasser darauf hinweist, dass in Gradenwitz‘ Heidelberger Habilitationsschrift über das Senatusconsultum Velleianum von 1883 Interpolationenkritik noch keine Rolle spielte, aber in der Schrift Interpolationen in den Pandekten von 1887 deutlich in dem Mittelpunkt steht. Insgesamt stellt der vielfältige interessante, durch ein Namensregister, ein Sachregister und ein Quelleregister abgerundete Band erfreulicherweise die Interpolationenforschung auf eine aktualisierte neue Grundlage, die dem europäischen Wissenschaftstransfer überzeugend besondere Bedeutung zuspricht.
Innsbruck Gerhard Köbler