Gebhardt, Miriam, Wir Kinder der Gewalt. Wie Frauen und Familien bis heute unter den Folgen der Massenvergewaltigungen bei Kriegsende leiden. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019. 301 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Schon in ihrer 2015 veröffentlichten, vom Rezensenten an dieser Stelle besprochenen Studie „Als die Soldaten kamen“ hat sich die als außerplanmäßige Professorin an der Universität Konstanz Geschichte lehrende Verfasserin mit dem Massenphänomen der Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs in differenzierter Form auseinandergesetzt und dabei manches Klischee entlarven können. Dazu zählt unter anderem die Korrektur der weit verbreiteten Meinung, dass diese Verbrechen ausschließlich von Angehörigen der Roten Armee begangen worden wären, denn tatsächlich sei gut ein Drittel der realistisch insgesamt auf knapp 900.000 direkte Gewaltopfer geschätzten Fälle den Westalliierten anzulasten. Sowohl die Beschaffenheit der individuellen menschlichen Psyche als auch gesellschaftliche Einstellungen sorgten dafür, dass eine derartige Gewalterfahrung erhebliche Auswirkungen auf die weitere Biographie der Betroffenen (nicht ausschließlich, aber weit überwiegend Frauen) zeitigte. Damit sei aber auch das Leben ihrer Nachkommen in Mitleidenschaft gezogen worden, jener „Kinder der Gewalt“, denen sich nun Miriam Gebhardts aktueller Band widmet. Sie versteht darunter als Untergruppe der sogenannten „Besatzungskinder“ sowohl „Kinder, die aus Vergewaltigungen entstanden sind“, als auch solche, die „von Vergewaltigungsopfern der Siegerarmeen aufgezogen wurden“, wobei der Zeitraum ihrer Zeugung von vor Kriegsende bis in die 1960er-Jahre reichen könne. Statistisch nachgewiesen sei für diese Menschen „ein deutlich höheres Risiko, psychisch zu erkranken“, wie auch „das im Vergleich zur Normalbevölkerung vielfach erhöhte Risiko, eigene traumatische Erfahrungen wie Kindsmissbrauch, sogar Vergewaltigungen zu durchleben. Spätere psychische und psychosomatische Erkrankungen lassen sich aber auch auf die häufigen Wechsel der Bezugspersonen beziehungsweise Phasen der Heimunterbringung, auf die ambivalente Beziehung zu den Müttern, die fehlenden leiblichen und die ablehnenden Ziehväter, die Abhängigkeit von potentiell feindlichen und missbräuchlichen Familienangehörigen und die Erfahrungen der Diskriminierung und Stigmatisierung im sozialen Umfeld zurückführen“ (S. 10f.).

 

Den Kern der Darstellung bilden die durch ausführliche Interviews erhobenen konkreten Lebensgeschichten von fünf Vergewaltigungsopfern und ihrer Nachkommen. In den ersten beiden Fällen wurden die interviewten Frauen unmittelbar im Akt der Vergewaltigung durch einen Franzosen bzw. durch einen Amerikaner gezeugt und konnten ihre leiblichen Väter nie kennenlernen. Die folgenden drei Beispiele stellen aus späteren Beziehungen geborene Menschen – zwei Frauen und einen Mann – vor, deren Mütter einst im Osten multiplen Missbrauch durch Rotarmisten erlitten hatten. In einigen Fällen waren in die Gespräche auch Vertreter der Enkelgeneration der Vergewaltigungsopfer eingebunden. Wie sehr sich auch die geschilderten Schicksale im Detail voneinander unterscheiden, so sind sie doch verbunden durch die gravierenden Beeinträchtigungen im Alltag – häufig beispielsweise in Form von Bindungsstörungen im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen –, mit denen nicht nur die Opfer der Übergriffe, sondern in hohem Ausmaß auch deren Kinder zu kämpfen hatten. Da die Vergewaltigungen aus Scham verdrängt und kaum jemals ausgesprochen wurden, belasteten sie als unverarbeitete „Erbschuld“ (S. 20) weiter das Leben der Familien. Manch „Kind der Gewalt“ konnte so erst nach Ausgrenzung, Suchterfahrungen und dem Scheitern von Beziehungen über verständnisvolle Menschen, eine therapeutische Aufarbeitung oder über soziales Engagement einen selbstbestimmten Weg finden.

 

Von den dargelegten Schicksalen ausgehend, erkundet die Verfasserin mit den Mitteln des Historikers das gesellschaftliche Terrain, dessen Kenntnis zum Verständnis und zur plausiblen Einordnung der individuellen Erlebnisse unerlässlich ist. Dabei zeigt sich, dass sich in den Lebensgeschichten komplexe Einflüsse verdichten, die eine generalisierende Interpretation nicht zulassen. Es ist eine beeindruckende Fülle an Faktoren, welche die Studie in Form exkursartig ausgeführter Passagen thematisiert. Als Kernfrage kristallisiert sich vor allem jene nach dem Mechanismus der Tradition traumatischer Erlebnisse über Generationen hinweg heraus. Miriam Gebhardt ist zurückhaltend mit der Feststellung zwingender Kausalitäten und betont stattdessen, dass „die volkstümlichen Vorstellungen zur transgenerationalen Weitergabe von Traumata den fachlichen Erkenntnissen enteilt“ seien (S. 205). Verschiedene Modelle und Ansichten, auf welchem Weg die Übertragung erfolge, stünden konkurrierend oder sich ergänzend nebeneinander: „Manche Wissenschaftler orientieren sich eher an den konkreten und sichtbaren Weitergabeprozessen zwischen Generationen, etwa in der Erziehung, manche interessieren sich mehr für die unbewusste Verselbstständigung des historischen Traumas. So vielfältig die Vorstellungen sind, so kontrovers ist auch die Debatte um die Theorie der transgenerationalen Traumatisierung: Sie reicht von blinder Übernahme (vor allem in der populären Literatur über Kriegskinder und Kriegsenkel) bis hin zur Ablehnung in Teilen der Fachwelt“ (S. 207). Ansätze zu Erklärungsmodellen lieferten die Neurowissenschaften (These der Übertragung prozeduraler Körper-Erinnerungen im Erbgut), die Psychoanalyse („Das Kind übernimmt unbewusst das Ereignis, das Leid, die Verdrängung, ohne es verstanden und in seine Lebensgeschichte aktiv integriert zu haben“; S. 210), die systemische Familienpsychologie („Dynamik familiärer Systeme auf der Grundlage von wechselseitigen Loyalitätsverpflichtungen und Schuldkonten zwischen den Generationen“; S. 211) und die Sozialisationsforschung (Einflussnahme der traumatisierten Erlebnisgeneration auf ihre Nachkommen durch spezifische Erziehungsstile und Sozialisationsstile, Einfluss der Umwelt).

 

Die Verfasserin nimmt auch den Wandel in den Blick, dem kriegsbedingte sexuelle Gewalt seit 1945 im gesellschaftlichen Bewusstsein unterliegt. Zunächst habe jene überwiegend noch als „quasi naturhafte Begleiterscheinung jedes militärischen Konfliktes[,] als gelebtes ‚Recht des Siegers‘, als Tribut an die männlichen Triebüberschüsse, als unschöne, aber unvermeidbare Demütigung des geschlagenen Kriegsgegners“ gegolten. Die folgende „lange Inkubationszeit der juristischen Normen“ resultiere aus dem Besatzungsstatus, der den deutschen Behörden bis 1955 die Hände gebunden habe, und den unzureichenden, oft nicht objektiv kalkulierbaren Verfolgungshandlungen der alliierten Militärbehörden, in denen Vergewaltigungsopfern nur ein Zeugenstatus eingeräumt worden sei. Erst in den 1970er-Jahren seien die Vergewaltigung und der Gewaltbegriff generell neu definiert worden und in den Konflikten der 1990er-Jahre in Ruanda und Jugoslawien von der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen worden. Die eingesetzten Internationalen Tribunale bewerteten erstmals in ihren Urteilen 1998 „Vergewaltigung und sexuelle Gewalt als Völkermordhandlung“ und 2001 „Vergewaltigungen im Zusammenhang mit kriegerischen Aktionen als schwere(n) Verstoß gegen die Genfer Konvention und somit als Verstoß gegen die Menschlichkeit“. Mit der am 31. Oktober 2000 verabschiedeten UN-Resolution 1325 wurden „Konfliktparteien erstmals ausdrücklich aufgefordert, die Rechte von Frauen zu schützen und Frauen gleichberechtigt in Friedensverhandlungen und Wiederaufbau einzubeziehen. Darin wird auch die nachhaltige Integration der Opfer und der Kinder, die aus Vergewaltigungen entstanden sind, ausgesprochen. 48 Staaten haben seither nationale Aktionspläne zur Umsetzung der Resolution erarbeitet. Der Aktionsplan der Bundesregierung umfasst die Bereiche ‚Prävention‘, ‚Vorbereitung von Einsätzen, Aus-, Fort- und Weiterbildung‘, ‚Beteiligung‘, ‚Schutz‘, ‚Wiedereingliederung und Wiederaufbau‘ sowie ‚Strafverfolgung‘“ (S. 215ff.).

 

Nicht weniger als unter den unzureichenden juristischen Rahmenbedingungen hätten die „Kinder der Gewalt“ aber auch unter dem ablehnenden oder zumindest indifferenten gesellschaftlichen Klima zu leiden gehabt: Identitätsprobleme in Bezug auf Vater und auch Mutter seien Hand in Hand mit materieller Diskriminierung gegangen. So verständigte man sich 1955 mit dem „Gesetz zur Abgeltung von Besatzungsschäden“ zwar darauf, „nach und nach immer mehr Fälle von kriegsbedingt in Vergewaltigungen gezeugten Kindern mit einer Rente auszustatten“, doch waren „die Hürden […] für die betroffenen Frauen und Familien sehr hoch, fast immer zu hoch“ (S. 230). Unter anderem hatten die Antragstellerinnen Zeugen beizubringen, um nachzuweisen, dass es sich tatsächlich um eine gewaltsame Zeugung gehandelt habe. So führte „die besonders prekäre finanzielle Situation der Kinder der Gewalt oft zu extremer Armut mit den üblichen Konsequenzen: schlechtere Gesundheit, schlechtere Bildungs- und Berufsmöglichkeiten. Mit dieser Diskriminierung signalisierte der Staat den Kindern der Gewalt, dass ihm ihr Schicksal gleichgültig war“ (S. 233). Längerfristige individuelle psychische Folgen, die sich etwa in einer überzogenen Leistungsorientierung und Bindungsproblemen manifestierten, können so nicht wirklich überraschen. Darüber hinaus verweist Miriam Gebhardt aber auch auf mögliche kollektive Wirkungen der „mentalen und emotionalen Erbschaften der Massenvergewaltigung“ (S. 256), unter anderem auf eine denkbare „deutsche Disposition für Ängstlichkeit“, beobachtbar unter anderem in extremis in einer übersteigerten Sorge um die Sexualität der Jugend in den 1950er-Jahren, wo „nach einer zeitgenössischen apokalyptischen Schätzung sage und schreibe vierzig Prozent der Jugendlichen moralisch unmittelbar gefährdet (waren). […] Der Furor der Sittenwächter und Sozialtechniker war offensichtlich für die realen Verhältnisse blind und schrieb der Jugend eine eingebildete Gefährdung zu, der nur mit strikter Kontrolle und prompten Strafmaßnahmen beizukommen sei“ (S. 260). So ziehe sich „ein roter Faden durch die Geschichte, an dem sich reale und imaginierte, persönlich erlittene und kollektiv empfundene Ängste vor sexualisierter Gewalt festmachen konnten“ (S. 273).

 

Die Ausführungen zeigen, wie breit die Verfasserin ihr Thema nicht nur historisch, sondern auch individualpsychologisch und sozialpsychologisch kontextualisiert. Ihre Materialbasis ist im Einzelnen in den Endnoten des knappen Anmerkungsapparats sowie in dem Verzeichnis der Quellen und Literatur nachgewiesen. Für Betroffene listet der Anhang als hilfreiche Ansprechpartner sieben relevante Institutionen und Einrichtungen der Selbsthilfe inklusive der Web-Adressen auf. Die lesenswerte Studie kann nicht zuletzt dazu anregen, über das engere Thema hinaus generell den Umgang mit Verbrechensopfern im Hinblick auf seine Angemessenheit und mögliche allgemeine Folgen für die Gesellschaft kritisch zu hinterfragen.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic