Gebhardt, Miriam, Wir Kinder der Gewalt. Wie Frauen und Familien bis heute unter den Folgen der Massenvergewaltigungen bei Kriegsende leiden. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019. 301 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.
Die Unterschiedlichkeit von Geschlechtern ist für viele Lebewesen seit sehr frühen Zeiten ein allgemeines Wesensmerkmal, das innerhalb der Primaten auch den Menschen einschließt und für ihre Erhaltung und Vermehrung grundlegende Bedeutung hat. Dementsprechend ist für die Geburt eines neuen Menschen aus in der Natur vorgegebenen, logisch oder sachlich wohl nicht zwingend notwendigen Gründen die Verschmelzung einer Eizelle einer Frau mit einer Samenzelle eines Mannes erforderlich. Zur Erreichung dieses Zieles sind Leib, Geist und Seele des Menschen mit gewissen Eigenschaften und Möglichkeiten ausgestattet, die ab der Geschlechtsreife manche Frauen sich Männern und manche Männer sich Frauen triebhaft oder willentlich zuwenden lassen, woraus primär kurze Lust und langes Glück sowie sekundär neben Freude und Sicherung auch Schmerzen und Leiden entstehen können.
Grundsätzliche Voraussetzung der dafür erforderlichen Paarung ist anscheinend ein beiderseitiges, durch nicht genau bekannte Voraussetzungen gesteuertes Interesse der Beteiligten, das in einem mehr oder weniger schnellen Aufeinanderzugehen die Verwirklichung des erstrebten Zieles gelingen oder auch scheitern lassen kann. In diesem natürlichen Rahmen hat der Mensch wohl schon früh aber auch die Vergewaltigung entwickelt, bei der ein Beteiligter dem anderen gegen dessen Willen mit Gewalt seinen eigenen Willen zu einer körperlichen Vereinigung der Geschlechtsteile aufzwingt und Widerstand mit Machtmitteln rücksichtslos bricht. Da Männer infolge der allgemeinen Entwicklung durchschnittlich größer, kräftiger und schneller geworden sind als Frauen oder auch Kinder, sind diese eher Opfer und jene eher Täter als umgekehrt.
Mit einem besonderen Aspekt dieser zeitlosen Problematik hat sich die in Freiburg im Breisgau 1962 geborene, nach einer journalistischen Ausbildung und dem Studium von Sozialgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Landesgeschichte und neuerer deutscher Literatur in München seit 1988 in Münster 1998 bei Clemens Wischermann über das Familiengedächtnis – Erinnerungsstrategien im deutsch-jüdischen Bürgertum 1890-1932 promovierte und nach einer Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem Sonderforschungsbereich Norm und Symbol an der Universität Konstanz dort 2008 für neuere und neueste Geschichte mit einer Schrift über die Angst vor dem kindlichen Tyrannen – eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert habilitierte, danach als außerplanmäßige Professorin tätige Verfasserin bereits 2015 befasst, indem sie unter dem Titel „Als die Soldaten kamen“ die Vergewaltigungen deutscher Frauen am Ende des zweiten Weltkriegs untersuchte. Ihr wichtigstes Ergebnis, dass nach ihrer Schätzung mindestens 860000 Menschen durch die Truppen aller Sieger und Besatzer direkte Gewalt erfahren haben, baut sie in dem vorliegenden Werk aus. Nunmehr geht es ihr über die Folgen der vielfach zu Geburten unerwünschter Kinder führenden Massenvergewaltigungen bei Kriegsende an Frauen und Familien.
Gegliedert ist die sehr interessante und bewegende Studie nach einem Vorwort und einer Einleitung in fünf Einzelstudien und daraus entwickelten allgemeinen Erkenntnissen. Diese betreffen Eleonore S. – ein „Franzosenkind“ sucht die Liebe (Kindheiten im Nachkrieg), Maria K. singt „Silent Night“ und findet Halt bei Nonnen (eine „erstaunlich unempfindliche“ Generation?), Klara M. pflegt die von Sowjets verschleppte Mutter und springt vom Turm (Erziehung zur Abhärtung), Marianne F. ist seit der Vertreibung wie aus der Zeit gefallen (Gefahr und Moral zwischen Krieg und Befreiung) sowie Karl T. wollte immer nur, dass es für seine Mutter vorbei sei (Sex und Angst und die Folgen bis heute). Möge es der Autorin mit ihren eindringlichen Ausführungen gelingen, möglichst viele Leser der Gegenwart über Langzeitwirkungen von Gewalt aufzuklären und dadurch die mit zahllosen Schwächen behaftete Menschheit vielleicht ein wenig in Richtung auf Freiheit und Schutz zu bessern, auch wenn die berichteten Geschehnisse als Vergangenheit nicht mehr zu ändern sind und der natürliche Egoismus auch in Zukunft immer wieder neue Schäden an Körper, Geist und Seele von Menschen bewirken wird.
Innsbruck Gerhard Köbler