Conze, Eckart, Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt. Siedler, München 2018. 559 S., Abb., 2 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Mit dem Hundertjahrjubiläum des Endes des Ersten Weltkriegs 1918 sind auch die dem Waffengang folgenden Pariser Friedensverträge erneut verstärkt in den Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung gerückt. Obwohl Versailles als die den Verhandlungen mit dem Deutschen Reich zugewiesene Lokalität bekanntlich neben Trianon, Neuilly, St. Germain und Sèvres nur eine unter mehreren Örtlichkeiten war, an denen die Sieger den Besiegten ihre Bedingungen oktroyierten, steht gerade dieser Name oft als Synonym für den Gesamtkomplex der Verträge. Das ist kein Zufall, denn aus einer retrospektiven Perspektive liegt das Augenmerk weitgehend auf der deutschen Geschichte und insbesondere auf dem Phänomen des Nationalsozialismus, dessen mit dem Scheitern der Weimarer Republik einhergehender Aufstieg in dem Topos vom Kampf gegen das „Diktat von Versailles“ ein wirkmächtiges Instrument zu bemühen vermochte. Aus dem Blick geraten bei einer solchen Betrachtung allerdings stets sowohl die noch im Ersten Weltkrieg wurzelnden Ursachen für die unglückselige Art und Weise, wie sich die Friedensverhandlungen schließlich gestalteten, als auch die Auswirkungen, die sie aus einer über Deutschland und Europa hinausgehenden, globalen Sicht zeitigten. Eckart Conze, Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Marburg, spürt – ohne die deutschen Belange dabei aus den Augen zu verlieren – dieser erweiterten Thematik nun in seinem jüngsten Werk nach. Den Titel lehnt er – wie es zuvor schon in ähnlicher Weise Fritz Fischer oder Oron Hale taten – an den Bestseller „The Great Illusion“ (1910) des britischen Publizisten, Unterhausabgeordneten und späteren Friedensnobelpreisträgers Norman Angell an und konstatiert fragend: „Paris war im Jahr 1919 der Ort einer großen Illusion. Es war die Illusion, nach viereinhalb Jahren eines schrecklichen Krieges […] endlich Frieden schaffen zu können, dauerhaften Frieden. Warum blieb das eine Illusion? Warum gelang es in Paris nicht, aus Hass, Gewalt und Zerstörung Versöhnung und Frieden zu schaffen?“ (S. 32).

 

Einer tragfähigen Versöhnung der Gegensätze standen zuallererst jene Feindbilder im Wege, die während des Krieges ausgebaut und über die Propaganda tief im öffentlichen Bewusstsein verankert worden waren. Dadurch wurden bei den Siegern wie bei den Besiegten in vielerlei Hinsicht Erwartungen genährt, welche die Verhandler auf beiden Seiten stark unter Druck setzten und ihren Spielraum erheblich einschränkten. „Aus Kriegszielen mussten nun Friedensziele werden, die nicht auf die nationale Mobilisierung gerichtet waren, sondern auf eine internationale, stabile politische Ordnung, die gleichwohl den eigenen nationalen Interessen entsprach. […] Im Ringen um die neue politische Ordnung prallten zudem nicht allein die unterschiedlichen Friedensvorstellungen von Siegern und Besiegten aufeinander, vielmehr erzwangen auch die divergierenden Friedensziele der Siegermächte Kompromisse, Zugeständnisse und ein Abrücken von Maximalforderungen. Enttäuschungen waren die Folge, und auch das trug dazu bei, dass die Friedensverträge von 1919 und 1920 schon bald nach der Unterzeichnung kaum noch Befürworter hatten. Stattdessen dominierten Unzufriedenheit, Frustration und Kritik nicht nur an den Verträgen und ihren Bestimmungen, sondern auch an denen, die diese Verträge ausgehandelt hatten: der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, der britische Premierminister David Lloyd George und der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau, dem man vorwarf, den Krieg zwar gewonnen, den Frieden aber verloren zu haben“ (S. 19f.).

 

Der Verfasser spricht von einer „beispiellose(n) Komplexität des Friedensschlusses und seiner Ordnungsaufgaben“, von „derartig viele(n) unterschiedliche(n) und widersprüchliche(n) Bedingungen, Vorstellungen und Interessen“, dass ein innerhalb weniger Monate zu schließender Friede „an dieser Herausforderung geradezu zwangsläufig scheitern musste“ (S. 35). Habe noch im Hinblick auf eine antibolschewistische Haltung Einigkeit bestanden, so hätte ein weitreichender Konsens über tragfähige globale Ordnungsprinzipien gefehlt. Für Frankreich sei die Sicherheit vor Deutschland oberste Maxime gewesen, während Großbritannien in erster Linie den Ausbau seines Empires vorangetrieben und die Vereinigten Staaten sich primär für eine liberal-kapitalistische Weltordnung eingesetzt hätten, um über ihr ökonomisches Gewicht auch ihre politische Macht zu mehren. Anstatt berechtigten Forderungen nach nationaler Selbstbestimmung nachzukommen, hätten die Pariser Verträge so den Imperialismus verlängert und den auf Unabhängigkeit hoffenden globalen Süden verprellt. Auf der anderen Seite sei die aus der Auflösung des Zarenreichs, des Habsburgerreichs und des Osmanischen Reiches hervorgehende nationalisierte Staatenwelt unfähig gewesen, den Wegfall der Zentralgewalt zu kompensieren, wodurch keine politische Stabilität hergestellt werden konnte und die jungen Demokratien nahezu allesamt bald autoritären Regimen zum Opfer gefallen seien.

 

Die hier angerissenen großen Linien führt das vorliegende Werk in insgesamt drei großen Abschnitten näher aus. Die „Wege aus dem großen Krieg 1916-1918“ thematisieren zunächst die unterschiedlichen Kriegsziele und Friedensinitiativen 1916/1917, die sich in Deutschland in den unvereinbaren Konzepten des „Hindenburg-Friedens“ („maximale Kriegszielforderungen und eine radikal annexionistische Politik in Verbindung mit der Verschleppung demokratischer Reformen“) und des „Scheidemann-Friedens“ („Verständigungsfrieden […] ohne Annexionen und Kontributionen […] innenpolitische Reform, Demokratisierung und Parlamentarisierung“) polarisierten (S. 61). In der Folge werden die eine internationale Friedensordnung auf demokratischer Grundlage anstrebenden Vierzehn Punkte des amerikanischen Präsidenten Wilson – nicht zuletzt eine Reaktion auf die Friedensoffensive des revolutionären Russland und auf die überzogenen Kriegsziele der eigenen Verbündeten –, der de facto ein temporäres deutsches Kolonialimperium im Osten begründende Gewaltfriede von Brest-Litowsk mit Russland und schließlich der deutsche Zusammenbruch einschließlich des desillusionierenden Waffenstillstands von Compiègne vom 11. November 1918 erörtert. Lange „klammerten sich die Deutschen in der Hoffnung auf eine weitere demokratische Entwicklung unter den Auspizien eines milden Friedens an den amerikanischen Präsidenten“, eine Illusion, die „letztlich erst mit der Übergabe der alliierten Friedensbedingungen an die deutsche Delegation in Versailles am 7. Mai 1919 endete“ (S. 148f.).

 

Die Friedensverhandlungen und ihre Problemlagen sind Gegenstand des zweiten Abschnitts, der eingangs noch einmal die Friedenserwartungen vor Konferenzbeginn sowie den Einfluss, den die Wahlkämpfe in den USA, Großbritannien und Frankreich jeweils im Hinblick auf die von diesen Staaten vertretenen Positionen entfalteten, analysiert. Einer Erläuterung der Machthierarchien und der Konferenzorganisation folgt die Darstellung der von den Großmächten und ihren Interessen dominierten Verhandlungen im globalen Kontext, wobei auch der Völkerbund trotz seiner „Fortschrittlichkeit und Innovativität im Bereich der internationalen humanitären und technischen Zusammenarbeit […] einen europäisch-amerikanischen weltpolitischen Dominanzanspruch (spiegelte) […,] (p)räziser […] einen weißen Dominanzanspruch“ (S. 249f.), und damit die Kontinuität imperialer Herrschaft gewährleistete. In der Frage des Friedens mit Deutschland geht der Verfasser genauer auf die Genese des berühmten „Kriegsschuldartikels“ 231 des Versailler Vertrags ein. Im Reparationsausschuss sei es dem amerikanischen Wirtschaftsanwalt John Foster Dulles „nicht um eine prinzipielle Aussage zur Kriegsschuld“ gegangen, sondern um eine „juristisch wasserdichte“ Abwehr der französischen und britischen Forderungen nach einer deutschen Zahlungsverpflichtung für alle Kriegskosten. Aber „weil die Deutschen bereits seit dem Herbst des Vorjahres nichts anderes erwarteten, als die alleinige Verantwortung für den Krieg zugewiesen zu bekommen, weil sie sich […] bereits im November 1918 unaufgefordert und ohne Anlass von dieser Verantwortung distanziert hatten, konnten sie nun die Formulierung des Artikels 231 nicht anders lesen als das moralische Verdikt einer umfassenden und alleinigen Kriegsschuld. Dass der Artikel zum Abschnitt ‚Wiedergutmachung‘ des Vertragsentwurfs gehörte und nicht zum Abschnitt ‚Strafbestimmungen‘ […], änderte an dieser Wahrnehmung ebenso wenig etwas wie der Wortlaut des Artikels 232, in dem die Absicht […] klar zutage trat, der umfassenden Verantwortung beziehungsweise Haftung eine begrenzte Zahlungsverpflichtung gegenüberzustellen“ (S. 321f.). Damit verblieb in Deutschland „eine trotzige Opposition, die sich aber kaum noch auf das Kriegsende beziehen konnte, sich dafür aber umso stärker auf den Kriegsbeginn richtete. Die Deutschen mochten zwar den Krieg verloren haben, aber schuldhaft begonnen hatten sie ihn nicht. Genau an diesem Punkt begann die Kriegsschuldfrage ihre politische Wirkung zu entfalten und sich weithin zur Kriegsunschuldlegende zu entwickeln, mit der zugleich das Kaiserreich und seine Eliten historisch entlastet wurden. Das diskreditierte […] den demokratischen Neubeginn und ließ Systemtransformation und Gesinnungswandel zweifelhaft erscheinen“ (S. 382). Weitere Inhalte des zweiten Abschnitts sind die Strafbestimmungen der Friedensverträge, wobei in diesem Zusammenhang die Forderungen, Kaiser Wilhelm II. strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, sowie die Leipziger und Istanbuler Prozesse einer eingehenden Würdigung unterzogen werden, sowie die Abwicklung des Habsburger Reiches und des Osmanischen Reiches bis zur Konferenz von Lausanne 1922/23 mit ihrer umfassenden Revision des nie in Kraft getretenen Vertrags von Sèvres.

 

Der kurze dritte und letzte Abschnitt des Werks zeigt, wie über einen allgemeinen Anti-Versailles-Konsens ein als aggressive Gewaltpolitik angelegter deutscher Revisionismus bei den Alliierten auf eine Politik des Appeasement traf und schließlich in den Zweiten Weltkrieg mündete. Diese Konstellation sei wesentlich durch die überspitzte Kritik gestützt worden, die prominente nichtdeutsche Stimmen wie John Maynard Keynes am „Karthago-Frieden“ von Versailles ventiliert hätten, womit sie der Politik des Appeasement neben dem Bestreben, einen neuerlichen blutigen Krieg zu verhindern, eine zweite moralische Grundlage mit der Überzeugung gegeben hätten, „die deutsche Revisionspolitik sei berechtigt und beruhe auf dem falschen, auch moralisch falschen, weil ungerechten Frieden von 1919“ (S. 483). Zur Instabilität der Versailler Ordnung trug zudem „vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise der Rückzug der USA auf sich selbst“ bei, der mit einem seit 1930 zu konstatierenden, neuen Unilateralismus in der deutschen Politik zusammentraf (S. 496). Im Epilog spricht der Verfasser vor allem an, wie die Nachwehen von Versailles noch unsere unmittelbare Gegenwart beeinträchtigen. Genannt werden als Beispiele der israelisch-arabische Konflikt, der sich als Grundkonflikt mittlerweile mit vielfältigen weiteren Konfliktlinien in der Region verzahnt habe, die mit dem Aufstieg Chinas verbundenen Spannungen im Fernen Osten und der Zerfall Jugoslawiens. Darüber hinaus wecke „der Wiederaufstieg von Nationalismus, Populismus und Autoritarismus in Europa und der Welt, für den heute die Namen Putin, Erdoğan, Orbán, Kaczyński, Xi Jinping, aber auch Trump stehen, Erinnerungen an die Krise Europas und der Welt in den Jahren nach 1919. Damals stellten ein nicht verarbeiteter Krieg, ein ungewollter Frieden und – auch in deren Folge – eine tiefe wirtschaftliche Krise die liberale Demokratie in Frage, und in vielen Ländern gelangten autoritäre Regierungen an die Macht. […] Geschichte wiederholt sich nicht. Die Parallelen freilich, sie sind unübersehbar“ (S. 503).

 

Mit diesem Denkanstoß beschließt Eckart Conze seine erhellenden Betrachtungen zu den Pariser Friedensverträgen, deren komplexen Herausforderungen die damaligen Akteure nicht gewachsen waren; „gewaltige Erwartungen, […] die eigentlich nur enttäuscht werden konnten“, und der permanente Druck einer „globalen Öffentlichkeit“ standen als Haupthindernisse der Verwirklichung einer neuen und stabilen globalen Ordnung im Weg (S. 492). Im Kontext der Leipziger und Istanbuler Prozesse werden die Grenzen rechtlicher Instrumente aufgezeigt, indem festgestellt wird, „dass internationales Strafrecht in hohem Maße politisiert ist, dass es politischen Rahmenbedingungen unterliegt und politischen Dynamiken ausgesetzt ist“. Es sei so durchaus nicht ungewöhnlich, wenn die beiden Ziele der Versöhnung und der Wahrung des Rechtsfriedens in Konkurrenz stünden. Den wissenschaftlichen Diskurs über Transitional Justice kennzeichnen somit kritische Fragen wie die folgenden: „Welche politischen Wirkungen lösen internationale Strafverfahren aus? Befördern sie nach Kriegen, Bürgerkriegen oder Gewaltherrschaft den Übergang zu Frieden und Demokratie? Oder behindern sie diesen Übergang durch die Verlängerung von Konflikten in den Gerichtssaal hinein? Wirken solche Gerichtsverfahren versöhnend oder vertiefen sie innergesellschaftliche Spaltungen und internationale Konflikte? In welchem Verhältnis stehen internationales Strafrecht und nationale Souveränität? Kann Völkerstrafrecht mehr sein als die Justiz der Sieger, das Recht der Mächtigen, über die Machtlosen zu urteilen?“ (S. 407). Diese Denkanstöße rütteln nicht an der grundsätzlich unbestreitbaren Notwendigkeit einer internationalen Strafgerichtsbarkeit, sondern zielen vielmehr auf die Bedingungen, unter denen eine solche sinnvoll und optimal zur Geltung gebracht werden könnte.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic