Bruckmüller, Ernst, Österreichische Geschichte. Von der Urgeschichte bis zur Gegenwart. Böhlau. Wien 2019. 692 S., 11 Abb., 11 Kart,
Im Jahr 2020 wird man sich an eine Reihe wichtiger Vorkommnisse erinnern müssen, wie z. B. an 100 Jahre Verfassungsgebung, 75 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs und Geburtsstunde der Zweiten Republik, 25 Jahre EU-Mitgliedschaft und 20 Jahre Verhängung der „Sanktionen der Vierzehn“ gegen die österreichische Bundesregierung (s. dazu die folgenden Ausführungen). Um diese wichtigen Ereignisse aber entsprechend würdigen und nachverfolgen zu können, bedarf es eines fundierten Geschichtswissens, für das bisher stets „der Zöllner“ herangezogen wurde. Den nach historischen Fakten Suchenden wurde einfach empfohlen, „schlag doch im Zöllner nach“ (s. Haller, G., Von der Venus von Willendorf bis zu Ibiza. Die Presse am Sonntag, vom 8. Dezember 2019, S. 46) Bei der von Erich Zöllner verfassten „Geschichte Österreichs: von den Anfängen bis zur Gegenwart“, die 1961 erstmals erschienen und in der Folge mehrfach nachgedruckt wurde, handelte es sich demgemäß um das bisher unbestrittene Standardwerk zur österreichischen Geschichte, das enzyklopädisch angelegt war und alle wichtigen Daten dazu enthielt.
Aufbauend auf seinem Buch „Sozialgeschichte Österreichs“ (2001) legte nunmehr Ernst Bruckmüller im Mai 2019 seine gegenständliche Publikation „Österreichische Geschichte. Von der Urgeschichte bis zur Gegenwart“ vor, die es innerhalb weniger Monate geschafft hat, zu dem Standardwerk zu werden, wie dies bisher „der Zöllner“ gewesen war. Bruckmüller, emeritierter Professor für Wirtschaftsgeschichte und Sozialgeschichte der Universität Wien und seit 1991 Vorsitzender des Instituts für Österreichkunde, kam dabei der Aufforderung zweier slowenischer Kollegen und Freunde, nämlich Peter Vodopivec und Peter Štih, nach, für eine in Slowenien erscheinende Reihe von Nationalgeschichten, den Österreich-Band zu übernehmen (vgl. Bruckmüller, E., Österreichische Geschichte 11). Daraus entstand zunächst 2017 eine einschlägige Publikation, die - mit den mannigfachen Jubiläen des Jahres 2018 angereichert - vom Autor in der Folge zu seinem gegenständlichen magnum opus weiter ausgestaltet wurde.
Diese herausragende Bewertung der Publikation „Österreichische Geschichte“ von Ernst Bruckmüller soll keineswegs den Wert der vielfältigen aktuellen Arbeiten und Sammelbände zur österreichischen Geschichte – wie z. B. Geschichte Österreichs, hg. v. Thomas Winkelbauer, Thomas, Vocelka, Karl, Geschichte Österreichs - Kultur, Gesellschaft, Politik, Niederstätter, Alois, Geschichte Österreichs (Ländergeschichten), Ackerl, Isabella, Geschichte Österreichs in Daten: Von der Urzeit bis 1804 (Bd. 1), Von 1804 bis Heute (Bd. 2), Brauneder, Wilhelm, Geschichte der österreichischen Staaten. Ein Grundriss, Beller, Steven, Geschichte Österreichs, u. a. m. – schmälern, sondern lediglich ausdrücken, dass die Publikation Bruckmüllers die umfassendste und tiefschürfendste Darstellung der österreichischen Geschichte darstellt, die gegenwärtig am Markt ist.
Auf die Frage, ob er mit seiner Monographie denn vorhatte, eine Neuauflage des „Zöllner“ zu schreiben, verneinte Bruckmüller dies kategorisch (s. Haller, Von der Venus von Willendorf bis zu Ibiza, Die Presse am Sonntag, vom 8. Dezember 2019, S. 46) und verwies auf seinen eigenen Zugang zu den jeweiligen elf Großkapiteln, deren Schwerpunkt ohne Zweifel auf der Darstellung der insgesamt 600 Jahre währenden Herrschaft des Hauses Habsburg liegt, die mehr als die Hälfte des Buches umfasst. Die elf Großkapitel zeichnen sich dabei durch eine umfassende und ausgewogene Darstellung der jeweiligen geschichtlichen Vorkommnisse aus und stellen keineswegs ein „Thesenbuch“ dar, das provokant auf Zustimmung oder Widerspruch ausgerichtet ist. Bruckmüller will auch gar nicht allein für ein fachkundiges Publikum geschrieben haben, sondern wendet sich an die gesamte interessierte Leserschaft.
Dass Bruckmüller mit seiner „Österreichischen Geschichte“ vor allem aber auch „volksbildnerische“ Intentionen verfolgt, geht aus einem Interview mit dem Redakteur einer österreichischen Tageszeitung anschaulich hervor. Dabei verweist Bruckmüller auf eines der größten Probleme der Demokratie, dass diese nämlich „ein Grundeinverständnis ihrer Bevölkerung über das Bestehende benötigt, ansonsten beginnt dieses Bestehende unwiderruflich zu zerbröseln. Dieses Grundeinverständnis, egal, ob man es jetzt Nationalbewusstsein oder Patriotismus nennt, muss genauso wie ein Landes- und Europabewusstsein gepflegt werden, weil es ja nicht von selbst entsteht“ (Interviewaussage, zitiert bei Hämmerle, W., Man muss doch die Stadt lesen können, Wiener Zeitung vom 12. Dezember 2019, S. 21).
Die „Österreichische Geschichte“ Bruckmüllers schlägt in 11 Kapiteln: „Vom Beginn menschlicher Besiedlung bis zur Völkerwanderung, Das frühe Mittelalter, Das Hochmittelalter, Das späte Mittelalter, Die frühe Neuzeit, Die Monarchia Austriaca im 18. Jahrhundert, Kaisertum Österreich, Das Zeitalter Franz Josephs, Erste Republik und Diktatur 1918 – 1938, Die Herrschaft des Nationalsozialismus 1938 – 1945, Die Zweite Republik“ einen großen Bogen von der Urgeschichte bis zur Gegenwart, wobei Bruckmüller als Wirtschaftsgeschichtler und Sozialgeschichtler anlassbezogen immer wieder interessante und bisher so nicht gewürdigte Aspekte in seine historischen Darstellungen einfließen lässt. Noch plastischer und anschaulicher wäre diese umfassende geschichtliche Darstellung Bruckmüllers aber dann geworden, wenn er sich dabei auch ein bisschen als „Politikwissenschaftler“ geriert hätte, was aber im Grunde eine „ultra petitio“ darstellt. Was damit gemeint ist, soll abschließend an einem signifikanten Beispiel dargestellt werden.
Obwohl Bruckmüller in seinem Kap. 11.4 „Von Vranitzky zu Schüssel. Österreich und Europa“ einen kurzen Hinweis auf die Reduktion der Kontakte der Regierungen aller EU-Staaten mit der Regierung von Wolfgang Schüssel aufgenommen hat (s. Bruckmüller, Österreichische Geschichte, S. 614f.), geht daraus nicht einmal ansatzweise der Umstand des darin enthaltenen größten außenpolitischen Eklats in der Zweiten Republik hervor (s. dazu Hummer, W., Die „Maßnahmen“ der Mitgliedstaaten der Europäischen Union gegen die österreichische Bundesregierung – Die „EU-Sanktionen“ aus juristischer Sicht, in: Österreich unter „EU-Quarantäne“. Die „Sanktionen der 14“ gegen die österreichische Bundesregierung aus politikwissenschaftlicher und juristischer Sicht – Chronologie, Kommentar, Dokumentation, hg. v. Hummer, W./Pelinka, A., 2002, S. 50ff.). Die anderen EU-Mitgliedstaaten verhängten nämlich am 4. Februar 2000 wegen der (vermeintlichen) Beteiligung der FPÖ unter Jörg Haider an der österreichischen Bundesregierung unter Wolfgang Schüssel über Österreich die sog. „Sanktionen der Vierzehn“, obwohl Haider als Vizekanzler in der Folge zurücktrat und diese Position Riess-Passer überließ.
Die „Sanktionen der Vierzehn“ erfolgten ohne Rechtsgrundlage und bestanden inhaltlich aus folgenden drei Maßnahmen: (1) Mit Mitgliedern der österreichischen Bundesregierung dürfen keine offiziellen bilateralen Kontakte auf politischer Ebene unterhalten werden, (2) österreichischen Bewerbern um Posten in internationalen Organisationen darf keine Unterstützung gewährt werden, (3) österreichische Botschafter dürfen in ihren jeweiligen Empfangsstaaten nur noch auf technischer Ebene empfangen werden.
Die unüberlegt und ohne Ausstiegsszenario konzipierten „Sanktionen der Vierzehn“ wurden nach über sieben Monaten am 12. September 2000 wieder aufgehoben, da der am 8. September 2000 vorgelegte „Bericht der drei Weisen“ die Bundesregierung hinsichtlich xenophober Vorgänge entlastet hatte. Auch nach Aufhebung der Sanktionen verharrten die 14 EU-Mitgliedstaaten längere Zeit in einer „Trotzreaktion“ und waren nicht bereit, sich bei Österreich wegen dieser vorschnellen „Verurteilung auf Verdacht“ zu entschuldigen und damit Genugtuung zu leisten. Österreich wiederum wehrte sich weder rechtlich noch politisch gegen die Verhängung der Sanktionen und litt in der Folge noch jahrelang an dem damit verbundenen enormen Imageschaden.
Interessanterweise wurde am 2. Juli 2019 der bisherige belgische Ministerpräsident, Charles Michel, für die Zeit vom 1. Dezember 2019 bis zum 31. Mai 2022, als Nachfolger von Donald Tusk, zum Präsidenten des „Europäischen Rates“ gewählt. Ohne auch nur im Geringsten eine „Sippenhaftung“ konstruieren zu wollen, muss in diesem Zusammenhang aber angemerkt werden, dass Charles Michel der Sohn von Louis Michel ist, der als früherer Vize-Premier und belgischer Außenminister einer der führenden Protagonisten für die Verhängung der „Sanktionen der Vierzehn“ gegen Österreich war, und sich nicht genierte, die groteske Aussage zu machen, „dass es unmoralisch sei, in Österreich – unter einer Koalitionsregierung mit Beteiligung der xenophoben FPÖ – seinen Schiurlaub zu verbringen“ (s. Hummer, W., Die komplexe Neubesetzung wichtiger Ämter in der EU – verbunden mit einem Blick zurück auf die „Sanktionen der Vierzehn“, EU-Infothek vom 3. Dezember 2019).
Innsbruck Waldemar Hummer