Beer, Daniel, Das Totenhaus. Sibirisches Exil unter den Zaren. Fischer, Frankfurt am Main 2018. 624 S., 30 Abb., 4 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Über sein monumentales Werk „Der Archipel GULAG“ (1974) hat Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn einst das stalinistische Lagersystem nachdrücklich im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit verankert. Während man so beeindruckt auf den Repressionsapparat der sowjetischen Herrschaft fokussierte, geriet aus dem Blick, dass, „lange bevor der Sowjetstaat seine Lager errichtete, Sibirien bereits ein riesiges offenes Gefängnis mit einer über 300 Jahre langen Geschichte (war)“ (S. 22). Bei den Vertreibungen nach Sibirien konzentrierten sich die Bolschewiki nicht mehr, wie einst die Zaren, „in erster Linie auf Zwangsisolation und Strafkolonien für Verbrecher und Andersdenkende sowie auf Zwangsarbeit für eine besonders gefährliche Minorität“, sondern widmeten sich nun vordringlich „der rücksichtslosen Ausbeutung von Sträflingsarbeit im industriellen Maßstab“ unter dem Vorwand „gesellschaftlicher Säuberung“ und „individueller Rehabilitation“ (S. 519). Diejenigen, die aus der unmittelbaren eigenen Erfahrung „zaristische und sowjetische Gefängnisse in Sibirien miteinander vergleichen konnten“, blickten dann zumeist „wehmütig auf ihre Haftbedingungen vor der Revolution zurück“ (S. 521).

 

Dem Verfasser Daniel Beer zufolge, der an der University of London das Fach Modern European History lehrt, bildeten „Eroberung und Kolonisation des östlichen Kontinents durch Russland die Ursprünge des Verbannungssystems. […] Seit den frühesten verzeichneten Beispielen ermöglichte die Verbannung den Zaren nicht nur, ihre widerspenstigen Untertanen aus dem europäischen Russland zu vertreiben, sondern auch, sie an verschiedenen strategischen Punkten überall in Sibirien in den Dienst als Siedler und Zwangsarbeiter zu pressen“ (S. 29f.). Wie seine weiteren Ausführungen zeigen, war dieses Bestrafung und Kolonisation symbiotisch zusammenführende Projekt aus gravierenden Gründen zum Scheitern verurteilt. So sei der russische Staat nicht in der Lage gewesen, die für die ordentliche Administration des Verbannungswesens erforderlichen materiellen und personellen Ressourcen aufzubringen. Die aus solcher Mangelwirtschaft resultierenden Missstände zogen einen Strudel der Gewalt nach sich, der nicht nur die Verbannungsstätten, sondern ganz Sibirien in Mitleidenschaft zog. Politisch Verbannte wurden durch das Exil keineswegs, wie beabsichtigt, neutralisiert, sie vermochten sich vielmehr dort zu vernetzen, zu radikalisieren und geschickt die öffentliche Meinung für ihre Anliegen zu vereinnahmen. Am Ende figurierte das russische Verbannungssystem überall in Europa als inakzeptables, anachronistisches Stigma der zaristischen Autokratie. In der Studie werden aus Polizeiberichten, Eingaben, gerichtlichen Unterlagen und offiziellen Schreiben, die einst der zaristische Verwaltungsapparat abgelegt hat und die sich heute „in Archiven in Moskau und St. Petersburg sowie in Ortschaften und Städten überall in Sibirien (befinden)“ sowie „aus der Fülle veröffentlichter Memoiren und Tagebücher […] die Erfahrungen von Revolutionären und gewöhnlichen Verbrechern in Sibirien seit der Krönung Alexanders I. im Jahr 1801 bis zur Abdankung Nikolaus‘ II. 1917 wiederhergestellt“ (S. 27).

 

Zwischen der Einleitung, welche die Geschichte der nach einem Aufruhr 1591 ins westsibirische Tobolsk verbannten und auf Bitten der Bewohner nach 300 Jahren 1891 in ihren Heimatort zurückgeführten Glocke von Uglitsch gleichsam als absurdes Symbol für das fragwürdige Verbannungssystem insgesamt erzählt, und dem kurzen Nachwort „Rotes Sibirien“ entfaltet sich der Inhalt in 14 Kapiteln, die jeweils schwerpunktmäßig ganz bestimmte Aspekte des sibirischen Exilwesens in den Blick nehmen. Vorab veranschaulichen vier Karten (Russisches Reich 1875, Sibirien 1910, Nertschinsker Bergbaubezirk 1870, Sachalin 1890) die relevante Topographie, ein eine Druckseite umfassender Abriss „Die Verwaltung Sibiriens“ (S. 16) erläutert die administrativen Strukturen des Raums während des 19. Jahrhunderts, wo über längere Zeit zwei Generalgouvernements (Westsibirien, Ostsibirien) neben einigen wichtigen, direkt der Zentralregierung unterstehenden Einheiten (z. B. der Bergbaubezirk Nertschinsk in der Region Transbaikalien) bestanden. Kapitel 1 („Ursprünge der Verbannung“) beschreibt die mit dem Exilwesen einhergehenden Intentionen der russischen Autokratie und die rechtliche und praktische Umsetzung der Verbannung. Im Blickpunkt des folgenden Abschnitts „Der Grenzpfosten“ stehen die von Entbehrungen, Übergriffen und Korruption geprägten Umstände der Reise nach Sibirien, die viele Häftlinge aus gutem Grund „(im Rückblick) für den qualvollsten Teil ihrer Verbannung (hielten)“ (S. 84). Mit dem Abschnitt 3 („Zerbrochene Säbel“) rücken mit den Beteiligten am Dekabristenaufstand von 1825 und ihren Angehörigen politische Akteure in den Mittelpunkt, deren Alltag im sibirischen Exil in den beiden Folgeabschnitten („Die Minen von Nertschinsk“, „Die Dekabristenrepublik“) eingehend beleuchtet wird. Den Dekabristen folgten die polnischen Rebellen von 1830/1831 („Sybiracy“) in die sibirische Verbannung. Kapitel 7 („Die Gefängnisfestung“) widmet sich den unmenschlichen Zuständen in den Haftanstalten und den Lebensbedingungen in den Häftlingsgemeinschaften, Kapitel 8 „Im Namen der Freiheit“ der nächsten Generation polnischer Nationalisten, die ab 1862 abermals mit ihrem Unabhängigkeitskampf gescheitert waren und nun in großer Zahl in die infrastrukturell bereits überforderte sibirische Exilorganisation strömten. Wie wenig die Behörden in der Lage waren, Fluchtversuche und den Drang der Verbannten zurück nach Westen zu unterbinden sowie der damit verbundenen, ausufernden Gewaltkriminalität im ganzen Land Herr zu werden, erzählt Abschnitt 9; es sei zu vermuten, „dass im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ein Drittel der 300.000 Verbannten in Sibirien auf der Flucht gewesen sein könnte“ (S. 301). Von Exzessen extremer Gewalt berichten auch die Kapitel „Die Insel Sachalin“ – dort sollte auf dem öden Eiland in völliger Verkennung der von Verelendung, Prostitution und moralischem Verfall geprägten Realität die idealisierte Exilantenfamilie als „Werkzeug der Rehabilitation, als Garantin des Fleißes und als Bollwerk gegen die Unordnung“ (S. 335) instrumentalisiert werden – und „Die Peitsche“, eine anschauliche Darstellung der grausamen Prügelstrafen und ihrer Folgewirkungen. Abschnitt 12 „Wehe den Besiegten“ thematisiert die zunehmende Radikalisierung und Verhärtung der Fronten zwischen der Staatsmacht und den politischen Exilanten ab den 1870er-Jahren, 1881 fiel Zar Alexander II. einem Sprengstoffanschlag zum Opfer. Ungeschicktes und fehlerhaftes Vorgehen der sibirischen Verwaltung zog Ereignisse wie die „Jakutsker Tragödie“ und die „Tragödie von Kara“ nach sich, die weltweit rezipiert wurden und „der moralischen Glaubwürdigkeit und der Legitimität des zaristischen Regimes einen schweren Schlag (versetzten), während es gegen die revolutionäre Bewegung kämpfte“ (S. 438). Zudem mehrten sich nun auch in Russland einflussreiche Stimmen, die das Verbannungssystem zu Recht als Hemmschuh für die verstärkt geforderte Neubewertung Sibiriens und für eine effiziente Erschließung und Nutzung des sibirischen Potentials betrachteten („Der schrumpfende Kontinent“). Obwohl sich das Regime Reformansätzen in dieser Richtung zunächst nicht gänzlich verschließen wollte, verschärfte es die Repressionen wieder massiv nach der ersten Russischen Revolution von 1905; die staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen in dieser „Ära der Militärgerichte und Exekutionen“ (S. 495) beantworteten die Revolutionäre ihrerseits vermehrt mit der Ermordung von Staatsdienern. Wie das Schlusskapitel „Der Schmelztiegel“ festhält, „erwiesen sich die sibirischen Gefängnisse für die staatliche Niederschlagung der Revolution als unerlässliche, wenn auch ambivalente Waffen. Die mit verbitterten und feindseligen Revolutionären vollgestopften Anstalten wurden aus schlichten Orten der Verwahrung und Bestrafung zu Brutstätten des unversöhnlichen, auf Rache dringenden Hasses, der das Reich 1917 überrollte“ (S. 515).

 

Schon das Gesetzbuch von 1649 habe das Recht des Zaren verankert, seine Untertanen zu verpflanzen, „wohin immer der Souverän es anordnet“ (S. 56), 1753 habe Zarin Elisabeth „den Galgen offiziell durch Zwangsarbeit in Sibirien“ ersetzt, Kapitalverbrecher „erklärte man für ‚zivilrechtlich tot‘“. Solche „Zivilhinrichtungen dienten […] dazu, den Täter zu demütigen und zu traumatisieren“ (S. 38). Völlige Willkür erlaubte das von gerichtlicher Kontrolle unabhängige Instrument der „administrativen Verbannung“, das jeden treffen konnte, dessen Verhalten oder Überzeugungen unerwünscht waren: „Menschen wurden in aller Stille verhaftet und ohne Berufungsrecht aus der russischen Gesellschaft entfernt. […] Durch bürokratische Inkompetenz, Käuflichkeit und Gleichgültigkeit entstand ein Labyrinth absurder Vorschriften, zwielichtiger Anklagen und geheimer Verhaftungen“. Grundeigentümer nützten die Gelegenheit, sich auf diese Weise „ungehorsamer oder nichtsnutziger oder ihnen einfach unsympathischer Leibeigener zu entledigen. […] Bauerngemeinden und Kaufmannsgilden wurde nicht nur das Recht gewährt, die Rückkehr von Häftlingen abzulehnen, ein Erlass von 1763 ermächtigte sie zudem, ihre eigenen Mitglieder administrativ nach Sibirien verbannen zu lassen, sogar wenn deren Schuld nicht bewiesen war und sie sich bloß verdächtig gemacht hatten. […] Der Spielraum war dabei nahezu unbegrenzt. Jeder – von Dieben, Mördern und Vergewaltigern bis hin zu Opfern von Verleumdung, Aberglauben und des Giftkessels der Dorfpolitik – konnte sich plötzlich angekettet in einem nach Osten marschierenden Konvoi wiederfinden“ (S. 46ff.). Noch im Jahr 1900 sei „die Hälfte der rund 300 000 Exilanten […] durch administrative Bescheide ihrer eigenen Gemeinschaften, unter Umgehung der Gerichte, nach Sibirien geschickt worden“ (S. 474). Eine neue Gesetzgebung habe dann den Kaufmannsgilden diese Befugnis entzogen, nicht aber den Dorfversammlungen, denen bei Anwendung der weit auslegbaren Kategorie des „unmoralischen Verhaltens“ weiterhin alle Möglichkeiten zur Verfügung gestanden hätten. Der unübersichtliche Dschungel der Normen zum Verbannungswesen insgesamt sei in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts vom Generalgouverneur Sibiriens, Michail Speranski, überarbeitet worden, seine „administrative(n), strafrechtliche(n) und logistische(n) Reformen bestimmten das Verbannungswesen für den Rest des Jahrhunderts“ (S. 52). Von den Gerichten unter der Autokratie hatten Beschuldigte nicht viel zu erwarten, wie die folgende Feststellung zeigt: „Für Militärgerichte unter Nikolaus I. galt stillschweigend, dass der Befehl zur Verhandlung zugleich der Befehl zur Verurteilung war“ (S. 149). Hält man sich dieses sich über Jahrhunderte erstreckende Defizit an moderner rechtsstaatlicher Kultur vor Augen, so wird man die stoische Gelassenheit weiter Teile der russischen Bevölkerung sowohl in Anbetracht des seinerzeitigen stalinistischen Terrors als auch der demokratiepolitisch kritischen Verhältnisse im gegenwärtigen Russland besser verstehen.

 

Rechtsgeschichtlich von Interesse sind des Weiteren auch die Ausführungen des Bandes zu den Häftlingsgenossenschaften, den sogenannten Artels. Diese nahmen „gewissermaßen die Traditionen des Bauerndorfes wieder auf“ und „beherrschten sämtliche Lebensaspekte der Konvoiangehörigen. Ihre Hauptaufgabe war die kollektive Verteidigung ihrer Mitglieder gegen die Behörden. Das Artel wurde von einem gewählten Oberhaupt, dem Ältesten, geleitet, und seine Mitglieder handelten auf der Basis von Traditionen, die sowohl geschäftliche Betätigungen als auch die Verwaltung von Geldmitteln regelten und drastische Disziplinar- und Strafmaßnahmen vorsahen. […] Obwohl das Artel keine offizielle Organisation war, erkannte die Exilverwaltung seine Existenz und […] seine Notwendigkeit an. Die Behörden ignorierten nicht nur viele ungesetzliche Praktiken der Artels, sondern verließen sich auch auf deren Entgegenkommen, um die Konvois organisieren zu können“ (S. 78f.). Zeitgenössische gebildete Beobachter hätten bereits betont, „dass das russische Dorf in gesetzlicher Hinsicht eine ganz andere Welt sei. Die allgemeine Auffassung von Verbrechen, Gerechtigkeit und Bestrafung stand häufig im starken Gegensatz zur offiziellen Gesetzeskultur. Bauern waren in der Lage, das gleiche Verbrechen entweder brutal zu ahnden oder es bewusst zu ignorieren, je nachdem ob das Opfer zu ihrem Dorf gehörte oder nicht. Oft verhielten sie sich nachsichtig, wenn es um Gewalttaten an Frauen, Mitgliedern anderer Religionen oder Fremden ging“ (S. 239f.). In den Festungen und Siedlungen übten die Artels gleichsam als „Staatswesen der Verbrecherwelt“ weiter Macht und Einfluss aus: „Das einzige Verbrechen, das die Gemeinde nicht duldete, war Verrat. […] Strafen wurden zuweilen im Einklang mit den besten Traditionen der Bauerngemeinschaft kollektiv ausgeteilt. […] Wer Zuflucht bei den Behörden suchte, wurde unweigerlich zur Strecke gebracht und ermordet, selbst wenn man ihn in ein anderes Gefängnis verlegte“ (S. 253ff.). Es böte sich an, komparativ genauer herauszuarbeiten, inwieweit diese inoffiziellen Strukturen in vergleichbaren Kontexten, etwa im System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, in rezenten Anstalten des Strafvollzugs oder in den Syndikaten der organisierten Kriminalität, eine analoge Phänomenologie erkennen lassen und wo nachweisbar russische Spezifika vorliegen.

 

1850 trat mit Fjodor Dostojewski ein Verbannter in das sibirische Zwangsarbeitssystem ein, dessen „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ (1861 - 1862) dem vorliegenden Band den Titel leihen. Diese seien „das einflussreichste Buch“ gewesen, „das im gesamten 19. Jahrhundert über die sibirische Verbannung veröffentlicht wurde“, und „eines der ersten Beispiele einer Flut von Veröffentlichungen unter Alexander II. und seinen Nachfolgern, in denen die widerwärtigen Details des sibirischen Verbannungssystems zur Prüfung durch die Öffentlichkeit dokumentiert wurden“ (S. 233). In den 1890er-Jahren hat Anton Tschechow, ein weiterer Großer der russischen Literaturgeschichte, die Strafkolonie auf Sachalin besucht; der auf Basis seiner detaillierten Aufzeichnungen erstellte Text „Die Insel Sachalin“ sollte „entscheidend dazu beitragen, die öffentliche Meinung gegen das sibirische Verbannungssystem aufzubringen“ (S. 346). So war „für die immer dichter werdenden Reihen der Gegner des Zarismus um die Wende des 20. Jahrhunderts das Verbannungssystem eine schwärende Anklage der Unmenschlichkeit des Staates“ (S. 476), das jedoch dann, wie eingangs dargestellt, selbst den kommunistischen Umbruch überdauern sollte.

 

Der Stil, in dem der Verfasser seine Studie vorträgt, überzeugt durch seine Anschaulichkeit und Flüssigkeit, auf weitschweifige theoretische Exkurse verzichtet er. So entsteht eine dichte und spannende Beschreibung der Umstände, die unter der zaristischen Herrschaft das Leben der Verbannten in Sibirien prägten und die in den eindrucksvollen Schwarzweiß-Abbildungen auch visuell zum Ausdruck kommen. Die Geschichte der sibirischen Verbannung erscheint dabei, gemessen an ihren Intentionen, als großer Misserfolg: Weder sei es den Machthabern gelungen, mit Hilfe dieses Instruments die prosperierende Erschließung der riesigen Landmasse effizient voranzutreiben, noch vermochten sie die Exponenten liberaler und radikaler Überzeugungen zu isolieren und das Überleben der zaristischen Autokratie nachhaltig abzusichern.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic