Assmann, Jan, Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne. Beck, München 2018. 352 S.

 

Der Psychiater, Psychologe und Philosoph Karl Jaspers hat immer wieder seine wissenschaftlichen Erkenntnisse popularisiert und mit dezidierten Stellungnahmen die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland bis zu seinem Tode im Jahre 1969 begleitet. Mit einer Jüdin verheiratet, wurde er in der Zeit des Nationalsozialismus zwangspensioniert, erhielt Publikationsverbot und musste ständig um das Leben seiner Frau fürchten. Enttäuscht über den Wiederaufbau der deutschen Universitäten nach dem Zweiten Weltkrieg nahm er 1948 einen Ruf an die Universität Basel an. Das erste Werk, das er danach veröffentlichte, war die geschichtsphilosophische Betrachtung „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“ im Jahre 1949. Darin vertritt er die These, dass es in der Geschichte der Menschheit eine „Achsenzeit“ gegeben habe, in der sich der Übergang vom „Mythos“ zum „Logos“ vollzogen habe. Der Mensch sei sich des „Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen“ (Jaspers) bewusst geworden. Nach Jaspers Ansicht habe diese Ära nicht nur die „Grundkategorien hervorgebracht, in denen wir bis heute denken,“ sondern er will hier auch schon den Übergang zum Monotheismus sehen, indem er glaubt, dass in dieser Ära auch die „Ansätze der Weltreligionen geschaffen“ wurden, „aus denen die Menschen bis heute leben“. Mit einem Satz: „Es entstand der Mensch, mit dem wir bis heute leben.“ Dieser ausgezeichnete Abschnitt der Weltgeschichte scheint ihm „rund um 500 vor Christus zu liegen, in dem zwischen 800 und 200 stattfindenden geistigen Prozeß.“ Der entscheidende Beleg für diese These ist dem Philosophen die Tatsache, dass in diesem großzügig bemessenen Zeitraum in unterschiedlichen Kulturen unabhängig voneinander weise Männer aufgetreten sind, die vergleichbare Lehren vertreten hätten. So in China Konfuzius und Laotse, in Indien die Upanischaden und Buddha, im Iran Zarathustra, in Palästina die Propheten und schließlich in Griechenland Homer wie die großen Philosophen und Tragiker.

 

Um diese These, die noch nicht einmal ein Drittel von Jaspers Darlegungen ausmacht, geht es nun in dem Buch von Jan Assmann. Dabei steht für ihn nicht deren wissenschaftliche Haltbarkeit im Vordergrund, sondern sowohl deren Entstehen seit der Aufklärung als auch deren Weiterwirken in der Gegenwart. Zur These selbst hat Assmann nämlich ein ambivalentes Verhältnis. Einerseits überzeugt sie ihn kaum; andererseits mag er sie aber auch nicht vollständig zurückweisen. Denn er glaubt, sie für die Kulturwissenschaften und besonders deren weltgeschichtlichen Perspektiven fruchtbar machen zu können.

 

Für den Ägyptologen springt natürlich ins Auge, dass in der gesamten Achsenzeit-Diskussion die ägyptische Kultur vollständig ignoriert wird. Das ist insofern verständlich, als dort zum besagten Zeitraum kein vergleichbarer Weiser auftrat und sich nicht die angesprochene geistige Entwicklung vollzogen hat. Die Vernachlässigung Ägyptens ist aber bei einem Nebenaspekt der Achsenzeitdebatte ein erhebliches Manko. Es wird dort nämlich behauptet, dass eine entscheidende Voraussetzung für die Menschheitsentwicklung ebenfalls die Staatsbildung gewesen sei und dass diese untrennbar mit der Erfindung der Schrift in China und Indien zusammenhänge. Dies weist Assmann mit vollem Recht durch den Einwand zurück, dass es Staat und Schrift in Ägypten schon 1000 Jahre zuvor gegeben habe. Er teilt allerdings die vor allem von Hegel verbreitete Ansicht, dass die Staatsbildung Schrift voraussetze. Diese wird aber dadurch widerlegt, dass die Inkas und Azteken effektive Staaten, doch keine eigentliche Schrift hatten.

 

Doch das wesentliche Anliegen des Buches ist es, die Entstehung und Rezeption der These von der Achsenzeit von deren erster Publikation bis zur Gegenwart aufzuzeigen. Zum ersten Mal nachweisbar ist das Erstaunen über das gleichzeitige Auftreten großer Lehrer der Weisheit kurz vor der französischen Revolution bei dem Iranisten Abraham-Hyacinthe Anquetil-Duperron. Bei seiner Edition der heiligen Schriften des Zoroastrismus fiel ihm auf, dass gleichzeitig mit Zarathustra Konfuzius in China und Pherekydes in Griechenland ein neues Verständnis von Mensch und Welt lehrten. Ihm folgte der Sinologe Jean-Pierre Abel-Rémusat, der deutlicher die Gemeinsamkeiten der Philosophen herausstellte und sie aus seiner Fachperspektive noch um Laotse wie den Taoismus bereicherte. Bis zu Karl Jaspers fügten andere noch die Propheten des Alten Testaments und manchen griechischen Philosophen hinzu. Sie boten je nach Epoche und Weltanschauung recht verschiedene Deutungen zur Erklärung dieses Phänomens von der „List der Vernunft“ bis hin zum Wirken Gottes in der Geschichte. Das im chronologischen Fortschreiten der Abhandlung mit Hegel und Eric Voegelin zwei Abweichler von der Idee vorgestellt werden, überzeugt nicht, denn zusätzliche oder gar tiefergehende Erkenntnisse werden dadurch nicht gewonnen.

 

Karl Jaspers hatte also schon mehr als ein Dutzend Vorläufer, als er sein Konzept der Achsenzeit entwickelte. Auch dieses stellt Assmann, wiederum breit in Werk und Biografie verortet, vor. Daher lag Jaspers Bedeutung nicht in der Entdeckung dieses Wendepunkts der Menschheitsgeschichte, sondern wie Assmann zurecht betont, in der Bedeutung, die er diesem gibt. Man kann dem Autor nur zustimmen in der Bewertung dieser Deutung als „die kühnste, ja abenteuerlichste“. Diese Hochschätzung, ja man könnte sogar sagen Überschätzung, kommt in dem Begriff der „Achse“ zum Ausdruck. In der Geschichte der Menschheit sei nach der Achsenzeit, so Jaspers, nichts mehr so gewesen wie vor ihr. Für Jaspers sei dies der Ansatz gewesen, um seine Gegenwart von der christlich-eurozentrische Sicht auf die Geschichte hin zu einer Weltgeschichte zu führen, die von der Gleichwertigkeit unterschiedlicher Großkulturen ausgeht. Das Motiv aus dem heraus dies geschah, war sicherlich auch die Überzeugung, dass das christlich-eurozentrische Denken für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts eine Mitverantwortung trage. Zumindest unterschwellig scheint dieser Impetus immer wieder durch.

 

Es ist faszinierend zu sehen, wie Assmann deutlich macht, wie Jaspers hier in christlich-eurozentrischen Kategorien denkend ein Konzept entwickelt, dass genau dieses Denken überwinden will. Wie für das christliche Geschichtsverständnis die Geburt Jesu die Weltgeschichte in ein Vorher und Nachher unterteilt, so die Achse das säkulare Geschichtsverständnis. So wie für die Christen mit Jesus den Menschen die Erlösung möglich wurde, so wurde es für die säkulare Menschheit durch die Lehren der Weisen der Achsenzeit möglich, Mensch im humanistischen Sinne zu werden und zu bleiben. So wie es für die Christen ein Mysterium ist, dass Gott aus Liebe zu den Menschen seinen Sohn gesandt hat, so ist es ein Mysterium, dass diese Denker der Menschheit in den unterschiedlichen Kulturen zur gleichen Zeit aufgetreten sind.

 

Von Jaspers selbst ist zu wenig unterschieden und von seinen Adepten zu wenig beachtet worden, dass seine Ausführungen keine über den Gang der Weltgeschichte sind, sondern nur über einen Teil von ihr, nämlich über die geistig-philosophische Entwicklung der Menschheit. Daher verwundert es auch nicht, dass Jaspers Thesen in der Geschichtswissenschaft so gut wie überhaupt nicht rezipiert worden sind. Und es ist interessant, dass erst ein Vierteljahrhundert nach ihrer Publikation die von vorwiegend Soziologen, Religionswissenschaftlern (und eben nicht Theologen, wie Assmann meint), Philosophen und Kulturwissenschaftlern geführte Debatte einsetzt. Die große Enttäuschung dieses Buches ist es, dass genau dieser gegenwärtigen Debatte gerade einmal 25 Seiten gewidmet werden, die deren Bedeutung und Vielfalt nicht gerecht werden.

 

Um hier tiefer zu gehen, hätte leicht der Teil über die Vorläufer von Jaspers gekürzt werden können. Denn eine Schwäche des Buches ist es, dass das Anliegen dadurch umgesetzt wird, dass zwölf Vertreter vorgestellt werden. So entstehen mehr Porträtskizzen als eine Monographie. Denn Assmann geht nicht nur auf die Ausführungen der jeweiligen Autoren zur Achsenzeit ein, sondern bettet diese, oft breit referierend und ausführlich zitierend, in das jeweilige Werk ein. Dadurch erfährt der Leser viel Überholtes, Abseitiges und Verstiegenes, das alles mit Recht vergessen ist. Wer kennt noch Eduard Maximilian Röth? Warum muss der Leser wissen, was Ernst von Lasaulx über das Wirken Gottes in der Geschichte gedacht hat? Und warum muss man sich, wenn man sich für die Achsenzeit interessiert, mit Victor von Strauß und Torney auf die Suche nach der Urreligion machen? Dadurch, dass die Darstellung in breiten Einzelporträts erfolgt, sind die jeweiligen Einsichten über die Achsenzeit unverbunden und verliert die Argumentation an Durchschlagskraft. Es bleibt bei sicherlich anregenden einzelnen Einsichten, doch fehlt eine Gesamterkenntnis.

 

Am Schluss legt man dieses Buch mit dem Gefühl aus der Hand, dass die Geschichte nichts so sehr liebt wie die Ironie. Denn die von vielen Forschern erarbeitete und von Jaspers für die Gegenwart wiederbelebte These von der Achsenzeit wollte den Übergang vom Mythos zum Logos bewusst machen und ist selbst ein Mythos geworden. Wie Assmann klug expliziert, wird eine Theorie dann mythisch, „wenn die Grundannahmen, auf denen sie beruht, nicht weiter überprüft und hinterfragt, sondern vorausgesetzt und zur Grundlage von Denken, Forschen und Handeln gemacht werden.“

 

Eichstätt / Römerberg                                                           Karsten Ruppert