Aly, Götz, Europa gegen die Juden 1880-1945. Fischer, Frankfurt am Main 2017. 431 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.
Die Juden als die Angehörigen der Religionsgemeinschaft Judentum lassen sich in ihrer Frühgeschichte zwar nicht eindeutig feststellen, werden aber wohl zuerst um Jerusalem, Hebron und Beer Sheva fassbar. Nach niedergeschlagenen Aufständen gegen die Herrschaft der Römer breiten sie sich anscheinend unter Bewahrung ihrer besonderen Religion und ihres besonderen Rechtes sowie möglicherweise unter Nutzung ihrer besonderen Bildung in einzelne Gebiete Spaniens, des Reiches der Franken und Italiens aus und verlegen sich dabei auf Tätigkeiten als Händler. Danach werden sie nicht zuletzt wegen ihrer wirtschaftlichen Erfolge immer wieder abgelehnt und verfolgt.
Das vorliegende, kompakte Werk des in Heidelberg 1947 als Nachfahre des königlich-preußischen Kammertürken Friedrich Aly geborenen, in Heidelberg, Leonberg und Gräfelfing geschulten, in München an der Deutschen Journalistenschule und an der Freien Universität Berlin in Geschichte und politischer Wissenschaft ausgebildeten, 1978 bei Reinhart Wolff und Wolf-Dieter Narr mit einer Dissertation über seine Erfahrungen in dem Bezirksamt Spandau promovierten, 1994 Berlin in Politikwissenschaft habilitierten und 2006 in den Stiftungsbeirat des Jüdischen Museums in Berlin berufenen Verfassers geht demgegenüber von der jüngeren Vergangenheit aus. Es gliedert sich in insgesamt neun Kapitel. Sie sind betitelt mit von der Judenfrage zum Holocaust, die Rückkehr der Unerwünschten, Propheten künftiger Schrecken um 1900, die Behäbigen hassen die Rührigen, Frieden, Bürgerkrieg, Pogrom 1918-1921, gegen Minderheiten und Migranten, Nationen entrechten Juden 1918-1939, Vertreiben und Deportieren 1938-1945 und Zivilisationsbruch.
Der Verfasser beginnt seine Eingangsfragen „welches Heim hat der Jude?“ mit der Feststellung, dass mit stürmisch steigender Tendenz bis 1914 mehr als zwei Millionen osteuropäischer Juden vor kollektiver Verfolgung auf der Suche nach Sicherheit und Glück ohne Möglichkeit einer Rückkehr nach Amerika auswanderten. In der Folge beschreibt er anschaulich das abweisende, nationalistisch bekräftigte Verhältnis vieler Menschen zu jüdischen Mitmenschen. Er begründet es ansprechend mit dem Kampf um die an Leistung gebundenen Pfründen der Moderne seit den 1880er Jahren, in dem das allgemeine, für den Einzelnen unsichere soziale Aufwärtsstreben den Antisemitismus so förderte, dass der massenhafte soziale Aufstieg den Holocaust ermöglichte und der zivilisatorische Fortschritt den vor allem von Adolf Hitler und seinen nationalsozialistischen Anhängern verwirklichten Zivilisationsbruch begünstigte.
Innsbruck Gerhard Köbler