Wolfram, Herwig, Das Römerreich und seine Germanen. Eine Erzählung von Herkunft und Ankunft. Böhlau, Wien 2018. 475 S., 29 Abb., 14 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Unser „Wissen“ über die Germanen war einst größer, als die Quellen erlauben: „Archäologen waren lange Zeit gewohnt, bestimmte Kulturen mit den Germanen allgemein oder mit einzelnen germanischen Völkern zu identifizieren“, und von der Sprachwissenschaft „ging die Einteilung in Westgermanen, Ostgermanen und Nordgermanen aus“. Mit der Übernahme dieser Gliederung sei der Historiker aber „in eine selbst gestellte Falle“ geraten; die Trias habe „in der Historie viel Unheil angerichtet“ und werde daher heute von Historikern, Archäologen und auch von den Sprachwissenschaftlern zunehmend verworfen. Sinn mache aber aus Gründen der Anschaulichkeit eine geographische Zuordnung der Germanenvölker. Man könne „von Skandinaviern, von Elb-, Rhein- und Donaugermanen“ sprechen und den „Kunstausdruck ‚Ostgermanen‘ durch die quellengetreue Bezeichnung ‚gotische Völker‘ ersetzen“, womit doch „de(r) Germanenbegriff mit Vorsicht, aber auch mit Nutzen zu gebrauchen“ sei (S. 18).

 

Diese Vorsicht erfordere im Vorfeld auch die Klarlegung bestimmter Begriffe, deren plurale, bisweilen ideologisch befrachtete Konnotationen missverständlichen Wahrnehmungen Vorschub leisten könnten. Diskutiert werden in diesem Zusammenhang: die Ethnogenese (= „Volkswerdung“; da es „Abstammungsgemeinschaften niemals gab“, ein Transformationsprozess, der als erfolgreich gelten kann, „wenn ein gentiler Sondername entstanden ist“; S. 32f.) und die ethnische Identität; Stamm/Gens (= „eine multigentile Formation, die sich zwar als Abstammungsgemeinschaft begriff, aber nur eine gemeinsame Verfassung zusammenhielt“; S. 32); Tradition und Traditionskern; vor-ethnographische Daten (mündliche Überlieferung), ethnographische Fakten (literarische Aufbereitung der mündlichen Überlieferung) und die etymologisch-euhemeristische Methode (= Verfahren der antiken Autoren mit dem Ziel, „aus vor-ethnographischen Daten ethnographische Fakten zu formen, um sie dem christlich-antiken Diskurs zu öffnen und in die allgemeine, römische Historie zu übertragen“; S. 44), die primordiale Tat (= die angeblich eine neue Ethnogenese markierende Gründungstat, bestehend in der „siegreichen Überwindung eines übermächtigen menschlichen Feindes und/oder natürlichen Hindernisses mit übernatürlicher Hilfe“; S. 45) sowie Narrativ/Meistererzählung (= „die Gegenwart und Nachwelt prägende Geschichten, die nicht zuletzt Antworten auf die Frage nach Herkunft und Identität geben und daher dem Mythos verwandt sind“; S. 45). Es komme letztendlich darauf an, zutreffende, in den Quellen verankerte und daher nicht sinnvoll zu ersetzende Termini nicht aufgrund einstigen ideologisch motivierten Missbrauchs einfach über Bord zu werfen, sondern stattdessen bei ihrer Verwendung klar auf eine belastete Geschichte hinzuweisen.

 

Mit Herwig Wolfram stellt ein profunder Kenner des Metiers diese für das Verständnis des Folgenden so wichtigen Hinweise an die Spitze seiner jüngsten Publikation. Viele Jahrzehnte lang hat sich der 1934 geborene, von 1969 bis 2002 als Ordinarius für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften an der Universität Wien wirkende und von 1983 bis 2002 dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung als Direktor vorstehende Forscher intensiv mit der Geschichte der germanischen Völkerschaften befasst, allein das Literaturverzeichnis zitiert gezählte 40 Schriften aus seiner Feder. Als Standardwerk gilt insbesondere seine mit modifiziertem Titel mehrfach aufgelegte und in mehrere Sprachen übersetzte „Geschichte der Goten“ (1979). Zur gegenständlichen Thematik hat er bereits 1990 mit „Das Reich und die Germanen. Zwischen Antike und Mittelalter“ eine Arbeit auf dem damaligen Stand präsentiert. Der aktuelle Band „steht im Zeichen der Erzählung, weil der Autor unvermindert die Überzeugung vertritt, dass die Narratio nach einer gewissenhaften Textkritik die wichtigste Aufgabe des Historikers bildet“ (S. 12f.). Sie nimmt als dritter Abschnitt des Werks mit etwa 260 Seiten fast zwei Drittel des Textkorpus ein, während sich die ersten beiden Sektionen unter den Stichworten der „Sprache“ bzw. der „Namen“ mit der Klärung und Beschreibung von Begriffen sowie relevanten Kontexten (Götter, Helden, Königtum – darunter Ausführungen zu dem Cherusker Arminius, dem Markomannen Marbod, dem Quaden Vannius und dem Bataver Civilis –, spätrömische Reichsorganisation und Gesellschaft, die Christianisierung der Goten, der Kaiser und die Könige auf römischem Boden) beschäftigen. Hierbei kommen auch rechtliche Instrumente zur Sprache. So hatte beispielsweise die kaiserliche Politik stets das praktische Problem, „zwischen den Ansprüchen der römisch-germanischen Könige und einer möglichst umfassenden Erhaltung der römischen Reichsverwaltung einen gangbaren Weg zu finden“, denn „(d)ie germanischen regna auf römischem Boden waren nun einmal vorhanden“ und „(e)benso wenig konnten die ins Reichsgebiet aufgenommenen Barbaren ausgerottet oder […] zurückgeschlagen werden“. Konstantinopel habe das Dilemma „durch eine […] schöpferische Anwendung des Vertragswesens gelöst; „die foedera, die Verträge, begründeten die Anerkennung einer barbarischen Staatlichkeit stets nur auf Zeit und banden diese an die innergentile Legitimität. […] Wenn einer der Vertragspartner ausfiel, mussten die einzelnen Vertragsbedingungen jeweils neu ausgehandelt werden. Die Existenz eines Barbarenreiches stand daher jederzeit zur Disposition, war aber besonders bedroht, wenn man in Konstantinopel vorstellig werden musste, damit der Kaiser eine geplante Nachfolgeregelung anerkenne. Während der Westen mit Verträgen aller Art, von der Föderaten-Ansiedlung bis zu Eheschließungen, um sein Überleben kämpfte, sah der Osten im Vertrauen auf seine militärisch-ökonomische Stärke in der Befriedungspolitik stets nur eine vorübergehende Lösung, selbst wenn er transpersonale Abmachungen einging. […] Justinian I. führte seine Restaurationspolitik […] konsequent und ohne Kompromisse gegenüber Goten, Vandalen und anderen Barbaren durch, sobald diese selbst den Boden ihrer eigenen Legitimität verlassen hatten. […] Als der Ostgotenkönig Theodahad […] seine Cousine Amalasuintha töten ließ, sah Justinian die amalische Legitimität gebrochen und begann seinen durch nichts mehr aufzuhaltenden Gotenkrieg“ (S. 139ff.).

 

Die eigentliche „Erzählung“ beginnt mit der „Erfindung“ der Germanen durch das Römische Reich: Der Germanenname sei, „wenn überhaupt, bloß ursprünglich eine Selbstbezeichnung [gewesen] und blieb dann in Gallien als Fremdbezeichnung erhalten, als welche sie die Römer übernahmen. […] Schwach war das vielberufene germanische Einheitsbewusstsein. […] In den Augen der Kelten und Römer war ein Germane entweder ein Bewohner Germaniens oder er stammte aus diesem Land. Die antike Großraumbezeichnung umfasste die zwischen den vier nassen Grenzen lebenden Völker, von denen freilich die Nachbarn an Rhein und Donau besonders interessant waren und blieben. […] Es waren die Römer, die den Germanennamen von den unterworfenen Galliern borgten und so weit verallgemeinerten, dass aus den Völkern östlich des Rheins und nördlich der Donau die Germanen wurden“. Aber schon die Spätantike „(engte) den Germanenbegriff zunächst auf die Alemannen und dann auf die Franken als die dominierenden Völkerschaften des traditionellen, aber rheinnahen Germaniens ein. Zählten die Gutonen, die pommerschen Vorläufer der Goten, und die Vandilen, die wohl schlesischen Vorfahren der Vandalen, noch zur taciteischen ‚Germania‘, wurden die späteren Goten, Vandalen und verwandten Völker von den Germanen unterschieden und als Skythen, Goten oder mit ihren Sondernamen angesprochen“ (S. 160f.). Caesar habe „die Germanen für das breite römische Publikum […] entdeckt und zugleich in das Chaos einer ‚Anderen Welt‘ abgeschoben“, um seine Nichteroberung Germaniens zu rechtfertigen. Die Folgen seien ein mangelndes Verständnis der Römer für die barbarische Welt und – daraus resultierend – schwerwiegende Fehleinschätzungen der geostrategischen Lage gewesen: „Wie sollte […] eine Regierung in Rom […] die richtigen Präventivmaßnahmen ergreifen, wenn viele ihrer außenpolitischen Fachleute Literaten waren, die Goten, Vandalen und Hunnen in gleicher Weise als Skythen bezeichneten, das heißt, mit dem in Wirklichkeit längst verschwundenen Volk der südrussischen Steppen gleichsetzten?“ (S. 167f.).

 

Massive Angriffe auf die Reichsgrenzen unternahmen im 3. Jahrhundert Goten, Franken und Alemannen als „neue Völker der ersten Linie“, denen als „neue Völker der zweiten Linie“ Sachsen, Vandalen und Burgunder nachfolgten. Um der unsicheren „Raub- und Mangelwirtschaft“ zu entgehen, suchten deren Heerkönige „einen modus vivendi mit Rom zu finden, das heißt einen Vertrag zu schließen. […] Völkerrechtlich handelte es sich dabei um ungleiche Verträge, foedera iniqua, das heißt, die Stellung Roms war zumindest theoretisch eindeutig besser als die der barbarischen Partner […]. So wurde zwischen der Antiken Welt und der Anderen Welt der Barbaren ein Ausgleich hergestellt, der aber bewirkte, dass die Germanen – zugleich gefährlich – Gegner und Diener des Reiches wurden. […] Trotzdem war es theoretisch undenkbar, dass sich Föderaten innerhalb des Reiches jemals niederlassen könnten“ (S. 185f.). Dieses theoretisch Undenkbare wurde jedoch nach der verheerenden Niederlage des Kaisers Valens gegen die aus den Donaugoten hervorgegangenen Westgoten bei Adrianopel 378 rasch Realität: Mit den Verträgen von 380 und 382 wurden zunächst mit den ostrogothisch-hunnisch-alanischen Reitern und danach mit den Goten erstmalig Fremde als Föderaten auf Reichsboden angesiedelt. Damit bildeten die Goten „in verhältnismäßig geringer Nähe zu den Hauptstädten Konstantinopel und Ravenna eigene Verfassungseinheiten, die zu ‚Staaten im Staat‘ werden mussten“ (S. 206). Mit der hunnischen Herrschaft habe zwischen 375 und 469 noch einmal ein alternatives Angebot zum römischen Imperium bestanden: „Die Völker mussten sich entscheiden, ob sie römische oder hunnische Goten, Gepiden, Eruler, Skiren, Burgunder, ja selbst Franken werden wollten. Wer sich dieser Entscheidung zu entziehen suchte, hatte mit der gemeinsamen Gegnerschaft von Römern und Hunnen zu rechnen“ (S. 221). Als das Attilareich unterging, „brachen die Dämme, die die Hunnen in Zentraleuropa gegenüber dem Imperium errichtet hatten. Die gotischen wie die westlichen Germanen […] gingen nun erneut von der Rheinmündung bis zur Mündung der Donau gegen das Römerreich vor [… ,] die Umgestaltung der Römischen Welt vollzog sich von nun an unaufhaltsam […]. Lebendig blieb jedoch in der Romania die Überzeugung, die Freiheit des Einzelnen wie des Staates werde allein durch Recht und Gesetz erhalten wie bewahrt“ (S. 239). Die Darstellung folgt im Weiteren den bekannten Stationen der germanischen Expansions- und Konzentrationsbewegungen bis in die Zeit Karls des Großen (Tolosanisches Reich, Vandalen, Odoaker 476, Franken in Gallien, Goten in Italien, Britannien, Burgunder, Toledanisches Reich, Langobarden).

 

Insgesamt konnte „(d)ie überlegene Römische Welt von den Germanen weder erobert noch als politisch-ökonomische Einheit wieder hergestellt noch gar erhalten werden. Vielmehr setzte sich gegen den imperialen Universalismus ein gentiler Partikularismus durch, so dass aus dem konstitutionell privilegierten Römischen Bürger der Angehörige eines Volkes unter anderen Völkern mit geminderter Rechtsqualität wurde. Die Gentilisierung der Römer verband sich mit dem spätrömischen Zug zur Entstehung provinzialer Entitäten und zur Herausbildung eines landschaftsbezogenen einheimischen Patriotismus. So verstärkte das germanische Element alle diejenigen Entwicklungen und Tendenzen, die die römischen Provinzen der Zentrale entfremdet hatten“ (S. 409f.). Auf der anderen Seite „wurden die germanischen Lebensordnungen und Verfassungsstrukturen (unter dem Einfluss der römischen Staatlichkeit) von Grund auf verändert: Das Königtum erhielt eine monarchische, ja vizekaiserliche Machtfülle. Die den Königen folgenden, grundsätzlich polyethnischen Formationen schlossen sich zu neuen Gentes zusammen, in denen die alten Gliederungen und Einheiten entweder untergingen oder neue Bedeutung gewannen. Das gefolgschaftliche Element überlagerte […] die älteren Ordnungen“. Auch habe „der Rechtssymbolismus der Neuankömmlinge“ das Urkundenwesen gewandelt: „Eine Urkunde war nun nicht mehr das Ergebnis eines neues Recht begründenden Aktenlaufs, wie wir dies auch heute gewohnt sind, sondern sie begann selbst das Recht zu verkörpern, es in sich zu tragen“ (S. 421f.).

 

Immer wieder kommt der Verfasser im Zuge seiner Darstellung auf Rechtsgeschichtliches zu sprechen. So berichtet er von den Terwingen, also den einst im Gebiet des heutigen Rumänien siedelnden donauländischen Goten, dass dort ein spezielles „Richtertum die Auflösung der Gens in Krisenzeiten zu verhindern“ hatte. Dieser mächtige „Gotenrichter“, kindins, – die prominenteste Persönlichkeit in dieser Funktion war wohl Athanarich – „erhielt sein Mandat von einem Stammesrat, der aus den Fürsten und Großen bestand und dessen Beschlüsse er zu exekutieren hatte“, und war „verantwortlich für das Kultwesen, die Rechtsprechung und die allgemeine Kriegführung“. Während Haus, Burg und Dorf für die soziale Realität der Terwingen große Bedeutung besaßen – im Dorf war „der freie Gote ‚daheim‘, anahaims“, aber außerhalb desselben bereits „in der Fremde, afhaims“ –, sei die Sippe stark zurückgetreten und vorwiegend „als Rechtsgemeinschaft noch klar erkennbar. Die Annahme an Kindes statt und die für gentile Gesellschaften so wichtige Adoption, der Zustand von Gesetzlosigkeit und Außergesetzlichkeit, aber auch die Versöhnung mit dem Bruder werden mit Begriffen und Phrasen beschrieben, in denen entweder von der Sippe die Rede ist oder die mit ihrem Wortstamm zusammengesetzt sind“ (S. 194f.). An anderer Stelle ist zu erfahren, dass es noch im 11. Jahrhundert, also etwa ein halbes Jahrtausend nach der Kapitulation von Tejas Ostgoten, in Italien Menschen gegeben habe, „die das gotische Recht ‚bekannten‘, das heißt, nach gotischem Personalrecht lebten, mögen auch ihre Bekenner eher aus der fränkischen Gothia gekommen als die letzten Ostgoten in Italien gewesen sein“ (S. 345). Die westgotischen Könige von Toulouse „waren die ersten barbarischen Herrscher, die […] als Gesetzgeber auftraten, deren Kodifikationen den Sieg des römischen Vulgarrechts und die endgültige Abkehr von der Rechtsentwicklung des kaiserlichen Ostens bewirkten. […] Bereits Theoderid musste erb- und vermögensrechtliche Bestimmungen in schriftlicher Form erlassen, die […] vielleicht schon sein vierter Sohn zum berühmten Codex Euricianus ausbaute. Ob von Eurich oder erst von dessen Sohn Alarich II. kodifiziert, die epochale und vorbildhafte Leistung des Gesetzeswerkes wirkte noch als Vorbild der oberdeutschen Volksrechte des 8. Jahrhunderts, der alemannischen wie der bayerischen Lex. Das im Codex Euricianus niedergelegte Recht wurde spätestens am Beginn des 6. Jahrhunderts zum personalen Recht der Goten“ (S. 254f.). Bei den Burgundern „(erließ) vor oder um 500 König Gundobad das Burgunderrecht, das als Lex Gundobada in die Überlieferung einging. In den Jahren 517/518 wurde unter König Sigismund die heute erhaltene Redaktion dieses Volksrechts angefertigt, das germanische mit römischen Elementen vereinigte. Ungefähr gleichzeitig entstand die Lex Romana Burgundionum, das Gegenstück zum Breviarium Alaricianum, dem westgotischen Römerrecht“ (S. 365). Es hätten „(r)ömische Rechtskodifikationen Pate [ge](standen) bei der Umwandlung der germanischen Gewohnheiten in schriftlich fixierte Volksrechte, die zu Unrecht so hießen. Sie bestanden nämlich aus Satzungen, die der König mit Zustimmung einer qualifizierten Öffentlichkeit als gottgegebenes Recht ‚gefunden‘, das heißt in Wirklichkeit, erlassen hatte“ (S. 421). Im 7. Jahrhundert sei bei den Westgoten erstmalig die Zeremonie der Salbung des Königs nachweisbar, zwar ohne „rechtskonstitutive Wirkung – diese besaß allein die Wahl“, doch sie „legitimierte ein Königtum, dem das dynastische Prinzip fehlte“ (S. 381), und wurde so auch von den Karolingern instrumentalisiert.

 

Herwig Wolframs Werk ist insgesamt deutlich mehr als bloß eine Geschichte der wechselseitigen Interaktion zwischen dem Imperium Romanum und den Völkerschaften, die aus unterschiedlichen Motiven und auf mancherlei Art seine Nähe suchten (neben den germanischen Gruppen sei hier nicht auf Perser, Awaren und Slawen zu vergessen). Die triviale Vorstellung ethnisch homogener und zum Sturz Roms wild entschlossener germanischer Eroberer erweist sich einmal mehr als Chimäre, die den Blick auf eine wesentlich vielschichtigere Realität verstellt. Die differenzierten, stets quellennahen Darlegungen des Verfassers beschreiben – hierbei Reinhard Wenskus („Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen Gentes“, 1961) im Wesentlichen bestätigend und erweiternd – ein komplexes System dem historischen Wandel unterworfener und sich unangemessener Simplifizierung entziehender Wechselbeziehungen und Vernetzungen. Insbesondere wird darin deutlich, wie sich in der Begegnung der beiden Welten – etwa mit der dem späteren Lehensverband zugrunde liegenden Gefolgschaft und dem Urkundenwesen – viele der konstitutiven Elemente herausbilden, die das Mittelalter epochentypisch von der Antike abgrenzen. Offene Fragen wie jene, ob das Jahr 476 als epochale Wende zu interpretieren sei oder nicht – der Band spricht hier mit Verweis auf das Weiterbestehen des römischen Staatswesens trotz eines vorübergehenden Verlusts des Imperiums in bestimmten Gebieten vom „Nicht-Ende des Römischen Reiches“ (S. 282ff.) – werden aufgegriffen, die kontroversen Argumente aufgezählt und kritisch bewertet.

 

Zur Vereinnahmung der Germanen der Völkerwanderungszeit speziell für die deutsche Geschichte wird konstatiert, dass „der Historiker heute von den Germanen und ihrer Geschichte weder Standesvorteile noch gar nationale Überlegenheit herzuleiten (vermag)“. Man dürfe „die Germanen […] allein deswegen auch zur Geschichte der deutsch sprechenden Nationen zählen, weil sie […] in gleicher Weise Bestandteile dieser Geschichte sind, wie sie zur Geschichte aller europäischer und vieler außereuropäischer Völker gehören. […] Oder mit anderen Worten: Die Deutschen haben ebenso eine germanische Geschichte wie etwa Skandinavier, Engländer, Franzosen, Schweizer, Österreicher, Italiener, Spanier, Portugiesen, Ungarn, Rumänen, die slawischen Nationen, Griechen, Türken, Tunesier und Malteken“ (S. 427). Nicht verschwiegen werden soll, dass diverse Hilfsmittel die Erzählung hinreichend unterstützen und dem Nutzer helfen, die Übersicht zu wahren, darunter vor allem die geographischen Skizzen mit den Siedlungsgebieten und Wanderungsbewegungen der jeweiligen Gentes sowie die Stammtafeln. Das Personenregister gibt praktischer Weise auch die jeweilige Funktion an, während eine umfangreiche Zeittafel je gesonderte Chronologien zu den folgenden räumlichen und gentilen Einheiten bereitstellt: Römisches Reich, Westen, Osten, Vandalen, Burgunder, Franken, Langobarden, Goten, Westgoten, Ostgoten, Hunnen, Westgoten nach 507, Ostgoten nach 526, Awaren, Britannien, sonstige Völker. Herwig Wolframs jüngstes „Germanenbuch“ belegt in Summe, dass die kompetente, gewissenhafte Auseinandersetzung mit dieser Materie keineswegs passé ist, sondern immer noch neue Erkenntnisse und essentielle Beiträge sowohl zum Verständnis der Vergangenheit als auch unserer Gegenwart hervorzubringen vermag.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic