Wallnöfer, Adelina, Die politische Repräsentation des gemeinen Mannes in Tirol. Die Gerichte und ihre Vertreter auf den Landtagen vor 1500 (= Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 41). Wagner, Innsbruck 2017. 550 S. Besprochen von Steffen Schlinker.
Das Land Tirol zeichnet sich bekanntlich durch die Besonderheit aus, dass neben dem landsässigen Adel, den Prälaten und Städten seit dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts auch die ländlichen Gerichtsgemeinden auf dem Landtag erschienen sind. Die Bedingungen aber, die dazu führten, dass die Gemeinden zu Korporationen erstarkten und in unmittelbare Beziehungen zum Landesfürsten traten, hat erst Adelina Wallnöfer in ihrer Innsbrucker Dissertation, die hier zu besprechen ist, eingehend erforscht. Sie hat sich zugleich der Frage gewidmet, wer denn überhaupt vertreten und als „gemain man“ (Zitat von König Maximilian auf S. 11) bezeichnet wurde. Und schließlich hat sie in akribischer Arbeit umfassend dargelegt, welche Personen als gemeindliche Repräsentanten zum Landtag entsandt wurden. So ist es sehr zu begrüßen, dass die Verfasserin ihre Innsbrucker Dissertation aus dem Jahr 1984 unter Heranziehung der seitdem erschienenen Forschungsliteratur erheblich überarbeitet und in der renommierten Reihe des Südtiroler Landesarchivs publiziert hat.
Die Arbeit beginnt mit einer knappen, aber konzisen Einleitung zum Ständewesen, zur Landstandschaft der Tiroler Bauern in der Historiographie und zum Forschungsstand (S. 1-25). Der Verfasserin gelingt es hier, den Prozess der Institutionalisierung darzustellen, der von der europaweit zu beobachtenden Beteiligung von meliores et maiores hin zu den Landständen führte (S. 13ff.). Im Überblick zum Forschungsstand wäre es allerdings präziser gewesen, statt von Besitz von Eigentum zu sprechen: „Erbbaurecht oder die Erbpacht sei zwar kein Besitzrecht [besser: Eigentum] im modernen Sinn und verpflichte die Bauern zu Zinsabgaben; es sichere ihnen jedoch ein relativ freier Verfügungsrecht mit nur geringen Eingriffsrechten des Grundherrn, sowie die freie Weitergabe der Leihgüter an die Nachkommen.“ (S. 18).
Die zwei folgenden Kapitel schildern den historischen Hintergrund und widmen sich erstens der Ausbildung der Gerichte und der Beteiligung bäuerlich-ländlicher Repräsentanten vom Ende des 13. bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts (S. 27-82) und zweitens der Tiroler Landschaft und ihrem Wirken von 1417 bis 1490 (S. 83-144). So kann die Verfasserin herausarbeiten, dass nicht „die Bauern“ durch „bäuerliche Vertreter“ repräsentiert wurden, sondern die ländlichen Gerichte ihre Repräsentanten oder Boten in den Landtag entsandten. Es ist daher nur folgerichtig, dass die Verfasserin, anders als die ältere Literatur, auf den Begriff „Bauern“ verzichtet, zumal sich der Begriff "Bauer" in diesem Zusammenhang auch nicht in den zeitgenössischen Quellen findet. Stattdessen verwendet die Verfasserin die Quellenbegriffe „die gemain“, die „gemaindt“, die „nachpaurschaft“ (S. 30) und spricht von Nachbarn oder von Gemeinde- und Gerichtsgenossen (S. 25), um die Vertretenen zu bezeichnen.
Die Besonderheit der Tiroler Entwicklung führt die Verfasserin in Übereinstimmung mit der Forschungsliteratur auf Graf Meinhard II. zurück, dem es in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts gelang, seine gräfliche Gerichtsbarkeit auf (fast) alle Bewohner Tirols auszudehnen und somit die grundherrlichen Gerichte durch seine eigene Gerichtsbarkeit zu überlagern. Während Grundzins, Zehnt und andere Verpflichtungen ... an den jeweiligen Grundherrn zu leisten waren, mussten die Gemeinde- und Gerichtsgenossen Steuern und Reise an den Grafen erbringen (S. 90, 189f.). Aus der Zuständigkeit der landesherrlichen Gerichte nicht nur für die Hochgerichtsbarkeit und die Friedenswahrung, sondern auch für die Steuererhebung und das Heeresaufgebot folgte beinahe von selbst die unmittelbare Beziehung der ländlichen Gerichtsgemeinden zum Grafen (S. 27, 82), unabhängig von der fortbestehenden Einbindung vieler Bauern in Grundherrschaften. Da der Graf von Tirol einerseits Abgaben verlangte, andererseits den lokalen Gerichtsgemeinden Rechtssprechungs- und Landfriedensaufgaben sowie die Sorge für Straßen und Brücken übertrug, wurde gleichzeitig vor Ort die Zusammenarbeit innerhalb eines Gerichtsbezirks intensiviert. Möglicherweise hat auch das Vorbild der Städte und der nahen Eidgenossenschaft das korporative Element gestärkt (S. 81). Zu bedenken ist aber auch ein anderer Aspekt. Tirol ist ein Land mit umfangreichen Allmenden, die als „gmain“ bezeichnet wurden (S. 29). Da allen Inhabern der Hofstellen ein Anteil an der Allmende zukam, bestand die Notwendigkeit, die genossenschaftliche Nutzung gemeinsam zu regeln, zu organisieren und notfalls zu verteidigen. Gleiches galt für Mühlen, Brunnen, Straßen und Brücken. Die „Überlagerungen von Herrschaftsrechten, Grundrechten und Gerichtsrechten“ waren einerseits konfliktträchtig, andererseits festigten die Konfliktlösungsvorgänge den Zusammenhalt der Gemeinde (S. 190). So förderte die Übertragung von Aufgaben an die Gemeinden die landesherrliche Gesetzgebung (S. 190) und die Entstehung der Gemeinde als Korporation: „Neben dem Landesherrn und den adligen und geistlichen Grundherren übte auch die Gemeinde selbst "Herrschaftsrechte" aus. Sie wachte über die Allmende, entschied, wer sie nutzen durfte, strengte Verfahren bei Übertretungen an, ... Mitunter übte die Gemeinde in beschränktem Maße die Niedergerichtsbarkeit aus." (S. 195). Die Notwendigkeit innergemeindlicher Kooperation bedingte also die Ausbildung einer Korporation. Mit der korporativen Organisation der ländlichen Gerichtsgemeinschaften, die mehrere Dörfer und Höfe umfassten (S. 33 f.), war die Vorstellung einer Vertretung, einer Repräsentation, verbunden. Adelina Wallnöfer weist aber auch auf erbrechtliche Gegebenheiten hin. Überzeugend ist ihre Vermutung, dass das für die Bauern günstige Erbbaurecht eine wichtige Rolle im Prozess der Ausbildung einer selbstbewussten Gemeinde hatte.
Im vierten Kapitel untersucht Adelina Wallnöfer die Beteiligung der Gerichtsvertreter auf den Landtagen und ihren Gremien (S. 145-172). Ihr gelingt es hier herauszuarbeiten, dass die „Boten“ nicht von der gesamten Gemeinde, sondern von einem Ausschuss gewählt wurden und einen Vollmachtsbrief erhielten, der sie ermächtigte, an der Stelle des Gerichts zum Wohl des Landes zu entscheiden (S. 158). Vor allem hebt Adelina Wallnöfer hervor, dass nicht die Bauern zum Landtag geladen wurden, sondern die Gerichte, Täler und Märkte (S. 171). Das stützt die oben schon erwähnte These von der Ausbildung der Korporationen.
Im fünften Kapitel folgt eine Untersuchung zu den Repräsentanten der Gerichte (S. 172-224). Hier liegt einer der Schwerpunkte der Arbeit. Adlina Wallnöfer ist es in mühevoller Arbeit gelungen, rund 180 Repräsentanten zu ermitteln und deren biographische Daten zusammenzustellen. Die Biographien der einzelnen Gerichtsvertreter finden sich im letzten Teil des Buches in alphabetischer Anordnung (S. 225-469). Jeweils sind dort der Zeitraum, in dem die betreffende Person als Repräsentant eines Gerichts aufgetreten ist, die Herkunft, das familiäre Umfeld und die wirtschaftlichen Verhältnisse beschrieben. Besonders erfreulich ist es, dass Adelina Wallnöfer vielfach Abbildungen beigefügt hat, welche die zum Teil heute noch bestehenden Hofgebäude, die Siegel und Notarssignete zeigen. Diesen Spezialinformationen ist im fünften Kapitel eine zusammenfassende Analyse vorangestellt. Adelina Wallnöfer kann hier zeigen, dass viele Repräsentanten in ihren Gerichtsgemeinden zugleich als Wirt, Meier, Huber oder Notar tätig gewesen sind (S. 173). In aller Regel handelte es sich bei den Repräsentanten um ältere, angesehene Männer (S. 188f.). Ein Studium hatten nur die wenigsten absolviert. Neben Herkunft, Alter und Bildung waren naturgemäß die wirtschaftlichen Verhältnisse der Repräsentanten sowie deren sonstige Funktionen in der Gemeinde von Bedeutung (S. 198 f., 209ff.).
Die abschließenden Überlegungen zum Begriff „Bauer“ überzeugen, weil fast jeder Landbewohner in mehr oder weniger großem Umfang selbst Landwirtschaft betrieb, sei er daneben oder vor allem Wirt, Kaufmann, Notar, Handwerker oder Richter (S. 219). „Bauern“ - darauf weist die Verfasserin zu Recht hin - sind daher nicht als homogene Gruppe zu begreifen, vielmehr sind erhebliche wirtschaftliche und gesellschaftliche Unterschiede zu bemerken (S. 220). So erweisen sich einige der Repräsentanten als Inhaber großer Meierhöfe, sie verfügen zugleich über Eigengut und gehen bisweilen auch noch einer Beschäftigung als Händler, Wirt, Notar oder Handwerker nach. Bemerkenswert ist ebenfalls, dass manche Repräsentanten offensichtlich Geld investieren und in Renten anlegen konnten (S. 222).
Abschließend unterstreicht Adelina Wallnöfer, dass die Repräsentation der Gerichtsgemeinden auf den Landtagen nicht als Vorläufer demokratischer Mitbestimmung zu verstehen sei (S. 223). Bei der Bestellung der Gerichtsvertreter seien aber gleichwohl ansatzweise demokratische Auswahlverfahren verwendet worden (S. 223f.). Das ist nun sicher nicht einfach zu beurteilen. Eine direkte Linie vom spätmittelalterlichen Landtag zum modernen, demokratisch gewählten Parlament besteht natürlich nicht. Aber man wird sagen können, dass in Tirol (wie auch in anderen Teilen Europas) eine Teilhabe der ländlichen Bevölkerung an politischen Entscheidungsprozessen zu beobachten ist. Diese Form der Partizipation der Stände an der politischen Entscheidungsfindung und Konfliktlösung in einem Herrschaftsgebiet halte ich durchaus für eine Vorstufe des modernen Parlaments. Zwischenzeitlich weiß man, dass in Ländern, in denen jahrhundertelang despotische Herrschaft praktiziert wurde, der Übergang zur Demokratie ungleich schwerfälliger verläuft als in Ländern, in denen die Gemeindebildung gefördert und sich durch die Institution der Ständeversammlungen eine Diskussionskultur zu entfalten vermochte. Insofern hat die Partizipation der Gerichtsgemeinden im weiten und heterogenen Bereich der ländlichen Bevölkerung ein Gefühl der Verantwortung gefördert sowie das Bewusstsein von Mitwirkungsrechten und Mitwirkungspflichten ausgebildet.
Im Aufbau möchte ich zu bedenken geben, ob der Abschnitt 2.11. als Zusammenfassung des fünften Kapitels nicht vielleicht besser ein abschließendes siebtes Kapitel gebildet hätte. Aber das ist eine Marginalie. Positiv hervorzuheben ist noch, dass die Arbeit zu großen Teilen auf archivalischen Quellen beruht. Im Übrigen erschließt sich das mit vielen textbezogenen Abbildungen versehene Werk durch ein umfangreiches Orts- und Personenregister (S. 509-550).
So hat Adelina Wallnöfer nicht nur ihre Dissertation, sondern zugleich ein wissenschaftliches Handbuch vorgelegt, das für künftige Forschungen zur Rechts-, Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte Tirols sowie all der Länder und Regionen unentbehrlich sein wird, in denen die ländliche Bevölkerung zum Landtag zugelassen war. So wird jeder an der Verfassungsgeschichte interessierte Leser das Buch mit großem Gewinn zur Hand nehmen.
Würzburg/Tallinn Steffen Schlinker