Ubl, Karl, Sinnstiftungen eines Rechtsbuchs. Die Lex Salica im Frankenreich (= Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter 9). Thorbecke, Ostfildern 2017. 313 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.
Lex Salica ist nach überwiegender herkömmlicher Ansicht das vielleicht auf Grund antiker formaler Vorbilder (Kodizes?) zwischen 507 und 511 in 65 Titeln (als lat. Pactus [M.] legis Salicae) erstmals aufgezeichnete Volksrecht des salischen Teilstamms der Franken (Salfranken). Diese älteste Fassung besteht überwiegend aus Texten in einem Weistumsstil (Bußweistümern) und daneben auch aus Texten in einem Konstitutionenstil (Gesetzen). Sie enthält eine Reihe von altfränkischen, aber nur noch teilweise verständlichen Wörtern (malbergische Glossen).
Sie wird bis etwa 800 mehrfach überarbeitet und ergänzt. Die älteste erhaltene Handschrift wird auf die Zeit zwischen 751 und 768 datiert. Inhaltlich ist das Kompositionensystem sehr kasuistisch behandelt und werden an dem Ende vielfach jüngere Teilstücke kapitularienartig angefügt.
Mit der Lex Salica beschäftigt sich die vorliegende Untersuchung des in Wien 1973 geborenen, dort von 1991 bis 1995 in Geschichte, Philosophie und historischen Hilfswissenschaften ausgebildeten, 1999/2000 in Heidelberg mit einer von Jürgen Miethke betreuten Dissertation über Engelbert von Admont promovierten, 2007 in Tübingen als Assistent Wilfried Hartmanns mit einer Schrift über die Geschichte des Inzestverbots zwischen 300 und 1100 habilitierten, 2011 für mittelalterliche Geschichte an die Universität Köln berufenen Verfassers. Ihr Zustandekommen wurde nach dem Vorwort wesentlich dadurch gefördert, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft seit 2007 die Arbeit an dem Material der karolingischen Handschriften förderte, woraus eine Bibliotheca legum erwuchs, die alle rund 300 Überlieferungszeugen der frühmittelalterlichen „Rechtsbücher“ mit neuen Handschriftenbeschreibungen, editorischen Vorarbeiten sowie Informationen zu Digitalisaten und anderen Ressourcen im Internet verzeichnet. Von hier aus nähert sich der Verfasser dem „Rechtsbuch der Franken“, das er in die Zeit vor 500 setzt und das er „unter den vielen Kodifikationen, die auf dem Boden des ehemals weströmischen Reiches entstanden“, nicht nur durch die kleinräumige agrarische Lebenswelt, die archaischen und bisweilen bizarren Rechtsrituale, die wenig ausgeprägte gesetzgeberische Kompetenz des Königtums und durch die Abwesenheit des Christentums gekennzeichnet sieht, sondern auch durch die fast gänzliche Unberührtheit seitens des römischen Rechtes und der römischen Jurisprudenz.
An dem Anfang seines Projekts stand seine Beobachtung, dass die Forschung bislang allein den wenigen Handschriften der ursprünglichen merowingischen Fassung der Lex Salica aus der Zeit um 500 (bzw. 507/511) Aufmerksamkeit geschenkt hatte, die Masse der 80 Handschriften mit den karolingischen Überarbeitungen (von insgesamt fast 90 Handschriften S. 25) aber nur wenig beachtete. Nach seiner Vermutung ließ sich aber der unwahrscheinliche Erfolg eines uralten Rechtsbuchs nicht allein aus den „Repräsentationsbedürfnissen des karolingischen Kaisertums erklären“, sondern es musste hinter diesem außergewöhnlichen Nachleben mehr stehen als bloß das Ziel der Imitation römischer Kaiser, doch zog ihn an dem Ende gegenüber seinem Versuch einer Stellungnahme zu der kulturellen und politischen Bedeutung der Lex Salica in dem karolingischen Frankenreich doch die Frage nach den Ursprüngen in den Bann, wobei er bei der Beschäftigung mit dem merowingischen Frankenreich in dem 5. und 6. Jahrhundert, der Verwandlung der römischen Welt und der Bedeutung für die Formierung ethnischer Identitäten nur selektiv auf die wichtigsten Regelungsbereiche der Lex Salica eingehen „und nicht die gesamte Kodifikation in allen ihren Facetten vorstellen“ wollte, so dass sein Buch „nicht einen dringend erforderlichen historischen Kommentar zu der Lex Salica und eine notwendige neue kritische Edition der unterschiedlichen Fassungen ersetzen“, sondern vorrangig die kulturelle Bedeutung von Gesetzgebung für die Gemeinschaft des Frankenreichs erfassen will.
Gegliedert ist die engagierte Studie nach der Einleitung (mit umfangreicher Stellungnahme zu Simon Steins abgelehnter These der Fälschung der merowingischen Lex Salica) in acht Sachabschnitte. Sie betreffen die Frage, warum Barbaren Gesetze erlassen, ein Monument der Alterität, Entwürfe von Gemeinschaft im 6. Jahrhundert, Usurpation und Legitimität in der Neufassung Pippins I., Karl den Großen und die mystische Autorität des Rechts, Transformation und Untergang des fränkischen Rechtes sowie Wissen über das Recht der Franken in dem neunten Jahrhundert. An dem Ende spricht sich der Verfasser für eine andere Rechtsgeschichte aus und bietet einen umfangreichen Anhang zu Quellen, Literatur und Internetquellen sowie ein Handschriftenregister (mit Siglen Karl August Eckhardts) zu 103 (vielfach Pariser) Handschriften von Autun bis Würzburg und ein Namenregister von Abbo bis (Papst) Zacharias.
Nach dem Verfasser diente die Niederschrift der Lex Salica in erster Linie dazu, in einem Moment der machtpolitischen Schwäche in den 480er Jahren die fränkische Identität mit einer eigenen Rechtsidentität zu stärken. „Sie ist daher als bewusste Positionierung im Feld der Gesetzgebung zu deuten, auf dem sich auch die anderen poströmischen Könige mit eigenen Kodifikationen hervortaten“. Anders als die Goten übernahmen die Franken aber nicht das römische Recht für die Etablierung ihrer Königsherrschaft, sondern überführten ihr eigenes (barbarisches) Recht in die Schriftform und schufen damit ein Monument der Alterität.
Nach dem Verfasser entstand an der Wende zum 5. Jahrhundert ein neues Modell der Kodifikation, wobei der Bruch dialektisch zu verstehen sei. „Die Lex Salica zeichnete“ nach dem Verfasser (an der Wende zu dem 5. Jahrhundert?) „das Sonderrecht der Franken auf und betonte damit den Gegensatz zur Dominanz des universalen römischen Rechts der Antike – sie ebnete aber durch die Anbindung des Rechts an die ethnische Identität den Weg für die Persistenz der normativen Traditionen frühen Mittelalter“. Auf wesentliche neu ermittelte Tatsachen kann sich der Verfasser bei diesen in großen Bahnen verlaufenden Überlegungen aber anscheinend nicht stützen.
Karl der Große setzte diese Rechtspolitik nach dem Verfasser fort, indem er auch die Thüringer, Sachsen, Friesen und Schwaben mit eigenen Kodifikationen ausstattete. Bislang waren dies(e Kodifikationen) in der Rechtsgermanistik bloße Volksrechte oder Leges, die aber, weil sie Bücher über das Recht sind, auch Rechtsbücher genannt werden können. Ob es Kodifikationen vor der Aufklärung überhaupt gegeben hat, ist in der Rechtsgeschichte durchaus zweifelhaft, weshalb der Verfasser auch an anderer Stelle von Kompilationen spricht, so dass das Verständnis von Kodifikation vielleicht besser doch an irgendeiner Stelle verständlich hätte geklärt werden sollen.
In dem Ergebnis ist für den Verfasser seine interessante Geschichte der Lex Salica der Beweis, dass schriftliches Recht eine enorme Widerständigkeit annehmen konnte und dass durch die Konfrontation mit unzeitgemäßen Normen immer wieder neue Sinnstiftungen möglich wurden. Kodifikation (eines hergebrachten alten Rechts einer bäuerlichen Lebenswelt im Weistumsstil?) leistete nach dem Verfasser mehr als das, was unter Aktualität und Effektivität erfasst werden kann. Sie hatte gemeinschaftsbildende Funktionen, vermittelte der Gemeinschaft eine symbolische Wertordnung und sie konnte als mystisches Fundament für neue Gesetzgebung (in dem Konstitutionenstil) genutzt werden, was vielleicht auch bei einem Volksrecht oder Rechtsbuch möglich gewesen wäre.
Innsbruck Gerhard Köbler