Stuke, Markus, Der Rechtsstatus des Kriegsgefangenen im bewaffneten Konflikt. Historische Entwicklung und geltendes Recht (= Jus Internationale et Europaeum 130). Mohr Siebeck, Tübingen 2017. XXIX, 523 S., zugleich Diss. jur. Univ. Osnabrück 2016. Besprochen von Werner Augustinovic.
Es kann davon ausgegangen werden, dass, seitdem Menschengruppen einander organisiert im Kampf gegenüberstehen, stets auch Krieger der einen Gruppe noch lebend in die Hände der jeweils anderen gefallen sind, deren Gewalt sie damit auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. Mit der immer stärkeren Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Strukturen ging folgerichtig auch eine zunehmende Regulierung dieser unter dem Begriff des Kriegswesens erfassten Auseinandersetzungen einher. In diesem Rahmen musste es im Interesse aller beteiligten Parteien sein, Bestimmungen zum Umgang mit Kriegsgefangenen zu entwickeln, festzulegen und verbindlich zu vereinbaren. Als vorläufige Endstufe dieses Prozesses ist die Materie heute in den Regularien des humanitären Völkerrechts festgeschrieben. Markus Stuke hat seine Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Osnabrück unter anderem dazu genützt, in seiner hier vorliegenden, von Oliver Dörr betreuten Dissertation nach einem grundsätzlichen, terminologischen Klarstellungen gewidmeten Abschnitt die historische Entwicklung des Kriegsgefangenenstatus von den Anfängen bis in die Gegenwart nachzuzeichnen und die Vorschriften der III. Genfer Konvention vom 12. 8. 1949 detailliert und im Konnex mit der aktuellen militärischen Praxis kritisch darzustellen. Die über 500 Druckseiten starke, ambitionierte Arbeit zeichnet sich nicht allein durch ihre inhaltliche Klarheit und ihr akkurates Lektorat aus, sie stellt vor allem ein Kompendium des historischen und rezenten Kriegsgefangenenrechts bereit, wie es in dieser Art und Dichte bislang nicht verfügbar war.
Defizite in der Literatur zum Kriegsgefangenenrecht reklamiert der Verfasser vor allem in zwei Sektoren. Zum einen sei dort die Herausbildung der Schutzvorschriften für Kriegsgefangene nur ein Randaspekt und würden Verknüpfungen mit dem geltenden Recht kaum vorgenommen; zum anderen stünde mit den Voraussetzungen der Kriegsgefangenschaft vornehmlich der Tatbestand im Zentrum der Betrachtung, während die Rechtsfolgen und die Frage nach der Schutzrichtung der Bestimmungen vernachlässigt worden seien. Neben den das zweite Kapitel der Haager Landkriegsordnung von 1907 (HLKO) ergänzenden, die Kriegsgefangenen betreffenden Vorschriften der III. Genfer Konvention (GA III), dem dazu von Jean de Preux erstellten Kommentar, den Texten der anderen Genfer Abkommen (betreffend den Schutz der Verwundeten und Kranken der Streitkräfte im Felde GA I, zur See GA II sowie der Zivilpersonen GA IV) und des I. Zusatzprotokolls (ZP I) bilden Kriegsberichte, nationale Militärhandbücher und UN-Untersuchungsberichte die wesentliche Materialgrundlage des Werks. Ein Grundlagenkapitel diskutiert eingangs das in bewaffneten Konflikten anwendbare Recht (Völkervertragsrecht, Völkergewohnheitsrecht, allgemeine Rechtsgrundsätze sowie Hilfsquellen wie die Entscheidungen internationaler Gerichte oder die Publikationen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz), dessen vier Grundsätze (Unterscheidung zwischen Zivilpersonen und Kombattanten, militärische Notwendigkeit, Humanitätsgebot, Exzessverbot), die Typologie bewaffneter Konflikte als Grundlage der Rechtsanwendung und die beiden Regime des humanitären Völkerrechts und des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes in systemischer Interpretation.
Aus pragmatischen Gründen legt der Verfasser dann seinem völkerrechtshistorischen Zugriff einen weiten Begriff des Kriegsgefangenen zugrunde, der den vom geltenden Völkerrecht geforderten Kombattantenstatus, der bis ins Mittelalter nicht von Relevanz gewesen sei, ausklammert. Auch die Definition der völkerrechtlichen Ordnung folgt mit der Charakteristik Wolfgang Preisers aus dem Jahr 1956 dem Erfordernis der weiträumigen Handhabbarkeit, wonach eine solche Ordnung vorliege, „wenn unabhängige, in kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen stehende Staaten sich gegenseitig als autonome Rechtssubjekte gleichen Ranges anerkennen und bei Abschluß und Ausführung ihrer zwischenstaatlichen Abreden wie auch bei der Verfolgung des im Staatenverkehr Üblichen von der Vorstellung bestimmt sind, sie seien zur Einhaltung des Vereinbarten oder stillschweigend Geltenden auch rechtlich verpflichtet und diese Verpflichtung sei unabänderlich“ (S. 47). Sie erlaubt dem Verfasser, erste Ansätze eines Kriegsgefangenenstatus bereits im Alten Orient des dritten vorchristlichen Jahrtausends festzustellen. Der gesamte Untersuchungszeitraum wird in vier Perioden eingeteilt: von der Sumerischen Zeit bis zum Ende des Römischen Reichs (Sumerer, Babylonier, Hethiter, Assyrer, Ägypten, Exkurse zum Alten Testament und zu Indien, die altgriechisch-persische Zeit 600 – 338 v. Chr. sowie die römisch-hellenistische Zeit 500 v. Chr. – 400 n. Chr.), vom Ende des Römischen Reiches bis zum Ausgang des Mittelalters (mit einer Übergangszeit von 400 – 800 unter Berücksichtigung der völkerrechtstheoretischen Ansätze im Christentum und im Islam sowie dem eigentlichen Mittelalter von 800 – 1500 mit Rittertum und Treueverhältnis), vom Ausgang des Mittelalters bis zum Wiener Kongress (geteilt in ein Spanisches Zeitalter von 1500 – 1648 und ein Französisches Zeitalter von 1648 bis 1815) und schließlich vom Wiener Kongress bis zu den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen (Englisches Zeitalter 1815 – 1914, Epoche der beiden Weltkriege 1914 – 1945, Ausarbeitung und Inkrafttreten der Genfer Konventionen von 1949). Als bestimmende Faktoren in der Entwicklung des Kriegsgefangenenstatus werden explizit die christliche Religion, die politische, völkerrechtliche und militärwissenschaftliche Theorie, staats- und gesellschaftsbezogene Prozesse sowie die militärische Praxis identifiziert, wobei letztere „ihrerseits von militärisch-strategischen, politischen, ökonomischen und monetären Interessen, Gegenseitigkeits- und Praktikabilitätserwägungen, zum Teil auch von religiös-konfessionellen und ideologischen Überlegungen getragen“ gewesen sei (S. 208). Diesen Triebkräften geschuldete Errungenschaften wie etwa das Schonungsgebot, das Unterscheidungsprinzip, die Ablösung des absoluten Siegerrechts oder die Regeln zum Besitz und Eigentumsschutz haben das geltende Recht entscheidend geformt. Kontinuitäten seien auch in der Verknüpfung von Kriegsgefangenen- und Beuterecht, in der Verwendung von Kriegsgefangenen als Informationsquelle, in der standes- und rangbezogenen Behandlung sowie im Verständnis der Gefangennahme als Kommunikationsvorgang auszumachen, Diskontinuitäten hingegen bei Charakter (Privat- oder Staatsgefangenschaft) und Zweck der Kriegsgefangenschaft sowie in der Beurteilung von Art und Umfang der Kriegsgefangenenarbeit. Die gesamte Entwicklung sei auf den beiden rechtlichen Ebenen des völkerrechtlichen Vertragsrechts und des innerstaatlichen Rechts zu beobachten.
Dem historischen Teil folgt eine umfangreiche Darstellung und Interpretation des Kriegsgefangenenstatus unter der III. Genfer Konvention, die „in Art. 4 erstmals eine umfassende positive Definition des Kriegsgefangenenbegriffs bereit(hält)“ (S. 215). Erörtert werden eingangs die Voraussetzungen des Kriegsgefangenenstatus und Zweck und Charakter der Kriegsgefangenschaft, sodann im Detail die konkreten Bestimmungen zum Schutz der Kriegsgefangenen, zu deren Pflichten und zur Beendigung der Kriegsgefangenschaft. Besondere Bedeutung kommt ohne Zweifel der Frage nach der Einhaltung und Durchsetzbarkeit des Kriegsgefangenenrechts zu, die in einem eigenen Großabschnitt zur Sprache kommt. Hierin beschäftigt sich der Verfasser zunächst mit der Berechtigung und Verpflichtung der Vertragsparteien und diskutiert unter anderem eine erga omnes-Wirkung des Kriegsgefangenenrechts versus dessen ius cogens-Charakter sowie die Existenz völkerrechtlicher Individualrechte und Individualpflichten des Kriegsgefangenen. Auch hier habe die III. Genfer Konvention in Abkehr von dem traditionellen staatenzentrierten Völkerrechtsverständnis Neuland geschaffen, indem sie „nach Wortlaut, Telos, Systematik und Entstehungsgeschichte auf die Begründung einzelner subjektiver Rechte und Pflichten der Kriegsgefangenen zielt. Zu den subjektiv-völkerrechtlichen Rechten zählen der Anspruch auf Achtung der Person und Ehre, das Beschwerderecht und die Prozessrechte, zu den völkerrechtlichen Pflichten die Auskunfts-, Arbeits-, Rechtsbefolgungs- und Grußpflicht“ (S. 423). Die Einhaltung und Durchsetzung des Rechts gewährleisten präventive, repressive und institutionelle Mechanismen. Unter anderem behandelt der Verfasser hier die Frage, inwieweit das nationale Recht die Grundlage für Schadensersatzansprüche der Opfer bewaffneter Konflikte bietet. Während dies früher mit dem Hinweis verneint wurde, „dass die im nationalen Recht gewährten Schadensersatzansprüche in den zwischenstaatlichen Reparationsansprüchen aufgehen (Absorptionstheorie oder Exklusivitätstheorie), besteht heute Einigkeit, dass eine solche Exklusivität der zwischenstaatlichen Schadensregulierung nicht besteht“ und gemäß einem Entscheid des deutschen Bundesverfassungsgerichts aus 1996 „das Prinzip des diplomatischen Schutzes neben den völkerrechtlichen Ansprüchen des Heimatstaates bestehende Schadensersatzansprüche des Individuums nach dem Recht des Verletzerstaates nicht aus(schließt)“ (S. 444). Gerichtsentscheidungen, wonach „das deutsche Staatshaftungsrecht in Fällen bewaffneter Konflikte durch das Kriegsvölkerrecht ‚überlagert‘“ würde, könnten „aus mehreren Gründen nicht überzeugen“ (S. 444f.) und fänden, wie überzeugend nachgewiesen wird, weder im deutschen Grundgesetz noch im einfachen Recht eine entsprechende Grundlage.
Sein Fazit formuliert der Verfasser in Form von 30 Thesen (S. 467 – 470). Die III. Genfer Konvention trage „nicht nur den Forderungen der Humanität, sondern vielfach auch den wirtschaftlichen, militärischen und politischen Interessen der Konfliktparteien, Kapazitätsgrenzen sowie den Realitäten bewaffneter Konflikte Rechnung. Konzeptionell stellen sich die Vorschriften als Kompromissrecht dar“ (These 13). Der Grund für ihren „hohen Detaillierungsgrad“ sei „der Charakter als reagierendes Recht, das die im Zweiten Weltkrieg, zum Teil davor sichtbar gewordenen Defizite zu beheben sucht“ (These 15). Ihnen wird ein gutes Zeugnis attestiert: „Insgesamt erweisen sich die Konventionsbestimmungen auch unter den Bedingungen des 21. Jh. als praxistauglich. Reformbedarf besteht derzeit nicht“ (These 23). Letztere Aussage wird in ihrer Pauschalität jedoch durch These 28 wieder relativiert, die formuliert: „Ein allgemeiner völkerrechtlicher Schadensersatzanspruch von Kriegsgefangenen besteht de lege lata nicht. Die praktische Anerkennung eines solchen Anspruchs wäre jedoch aus rechtsdogmatischen und praktischen Gesichtspunkten wünschenswert.“
Welch außergewöhnliche Leistung Markus Stukes Dissertation darstellt, geht allein schon aus dem Anmerkungsapparat hervor, der insgesamt gezählte 3241 Fußnoten (Einleitung: 32, Grundlagen: 254, Historischer Teil: 1230, Kriegsgefangenenstatus nach GA III: 1262, Einhaltung und Durchsetzung: 463) mit Belegcharakter aufweist, das Schriftenverzeichnis – um je separate Aufstellungen der Militärhandbücher, weiterer nationaler Militärvorschriften, von Memoranden und Untersuchungsberichten, von Materialien zur Ausarbeitung der Genfer und Haager Konventionen, von Interpretationshilfen des International Criminal Court und des International Committee of the Red Cross sowie der Entwürfe der International Law Commission ergänzt – erstreckt sich über 44 eng bedruckte Seiten. Ein Sachregister stellt zusammen mit dem die grobe Inhaltsübersicht erweiternden, sehr detaillierten Inhaltsverzeichnis den jederzeitigen raschen Zugriff auf spezifische Informationen sicher. Zu erwähnen sind ferner die zahlreichen Zusammenfassungen, mit deren Hilfe der Verfasser das Wesentliche der einzelnen Kapitel jeweils auf den Punkt bringt. Auch diese sachdienliche, zweckmäßige Ausstattung spiegelt die hohe Fachkompetenz wider, welche die Arbeit insgesamt und ihren Verfasser auszeichnet.
Kapfenberg Werner Augustinovic