Stepan, Sebastian, Scaevola noster. Schulgut in den ‚libri disputationum‘ des Claudius Tryphoninus? (= Ius Romanum, 6). Mohr Siebeck, Tübingen 2018. XV, 273 S. Besprochen von Hans-Michael Empell.
Die Abhandlung wurde im Wintersemester 2016/2017 von der juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Christian Baldus hat die Arbeit betreut. Thema der Untersuchung ist das Verhältnis zwischen den beiden klassischen Juristen Q. Cervidius Scaevola und Claudius Tryphoninus. Scaevola wurde um 135 nach Christus geboren und wirkte bis in die Zeit um 200 nach Christus. Tryphonin lebte am Ende des zweiten und zu Beginn des dritten Jahrhunderts nach Christus. Einige Indizien, zum Beispiel die von Tryphonin zweimal verwendete Formel Scaevola noster, sprechen dafür, dass Tryphonin, ebenso wie sein etwa gleichaltriger Kollege Paulus, ein Schüler Scaevolas war. Da die Rechtsschulen der Sabinianer und der Proculianer zu Lebzeiten Scaevolas und Tryphonins wohl nicht mehr bestanden, lässt sich die vermutete Beziehung zwischen den beiden Juristen nicht mit diesen Rechtsschulen in Verbindung bringen.
Der erste Abschnitt der Untersuchung umfasst Darlegungen zur Problemstellung sowie zu den beteiligten Juristen und ihrem Werk. Ferner geht der Verfasser der Frage nach, was unter einer „Schule“ und einem „Lehrer-Schüler-Verhältnis“ im vorliegenden Zusammenhang verstanden werden soll. Er versteht darunter ein konkretes Lehrer-Schüler-Verhältnis (wobei der Lehrer möglicherweise mehrere Schüler hat), nicht jedoch eine damit verbundene Denkrichtung bzw. ein gemeinsames philosophisches Fundament (S. 16f.). Vor allem jedoch wird das Ziel der Untersuchung erläutert. Es geht dem Verfasser darum, Indizien im Werk Tryphonins, genauer: in seinem Hauptwerk, den libri disputationum, auszumachen, die möglicherweise Ausdruck eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses zu Scaevola sind. Ziel der Arbeit ist es jedoch nicht, „die These, dass Tryphonin Schüler des Scaevola war, zu verifizieren. Vielmehr geht es um die Frage, ob wir durch eine inhaltliche Untersuchung eines spätklassischen Werkes Hinweise auf Schulenbildung oder Schultraditionen in der Spätklassik gewinnen“ (S. 5) und „Spuren von Scaevolas Lehrtätigkeit in den libri disputationum des Tryphonin“ nachweisen können (S. 20).
Zunächst geht der Verfasser auf „Kriterien“ ein, „die bei der Suche nach Spuren von Scaevolas Lehrtätigkeit (…) helfen können.“ (S. 20) Stilistische Gemeinsamkeiten kommen seiner Auffassung nach nicht in Betracht. „Stilprofile“ von Scaevola und Tryphonin zu erarbeiten, würde über den Rahmen der Untersuchung hinausgehen; der Begriff des Stils sei zudem schwer zu fassen (S. 21). Erfolgversprechend sei es dagegen, auf die juristischen Inhalte im Werk der beiden Juristen einzugehen und nach Gedankengut bei Scaevola zu suchen, das von Tryphonin aufgegriffen und insbesondere durch die „Übernahme von Begrifflichkeiten“ weiterentwickelt worden sein könnte (S. 22ff.). Besonders sei darauf zu achten, dass inhaltliche Gemeinsamkeiten bei Scaevola und Tryphonin nicht auch im Werk eines anderen zeitgenössischen oder älteren Juristen vorkämen (S. 32). Nur unter dieser Voraussetzung ließen sich übereinstimmende Inhalte als Ausdruck eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses verstehen.
Der zweite Abschnitt („Hauptteil und Exegesen“), der den umfangreichsten Teil der Arbeit bildet, hat die Untersuchung von sechs Fragenkomplexen mit den entsprechenden Quellentexten Scaevolas und Tryphonins zum Inhalt. Der Verfasser kommt jeweils zu dem Ergebnis, dass sich inhaltliche Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Juristen feststellen lassen, die als möglicher Ausdruck eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses gewertet werden könnten.
In einem dritten Abschnitt („Schlussbetrachtung“) formuliert der Verfasser die Ergebnisse der gesamten Untersuchung. Als Resultat wird festgestellt, keineswegs handele „sich bei den gefundenen Ergebnissen um handfeste Beweise dafür, dass Tryphonin Gedankengut des Scaevola übernommen hat. Gleichwohl konnte (…) gezeigt werden, dass sich in den juristischen Quellen Indizien für die Weitergabe von Gedankengut von Lehrern an Schüler finden lassen“. (S. 216) Deutlich sei geworden, „dass es eine Methode gibt, die sich zur Untersuchung von Lehrer-Schüler-Beziehungen (…) eignet und sich grundlegend von den Instrumenten unterscheidet, die im Hinblick auf die Rechtsschulen der Sabinianer und Proculianer angewandt wurden“. (S. 216)
Die Arbeit schließt mit Zusammenfassungen der wichtigsten Ergebnisse in italienischer, spanischer und englischer Sprache, einem Literaturverzeichnis sowie einem Quellenregister und einem Sachregister.
Im Folgenden werden einige Überlegungen mitgeteilt, die das Ziel und die Methode der Untersuchung betreffen. Der Verfasser stellt klar, dass „bestimmte Gemeinsamkeiten in den Werken Tryphonins und Scaevolas existieren, bedeutet noch nicht, dass diese Ausfluss der Lehrtätigkeit des Scaevola sind. Mit anderen Worten: Tryphonin kann z. B. auch einfach nur in einem Buch gelesen und sich dabei Gedankengut des Scaevola angeeignet haben“ (S. 28). Es handele sich also nur um „mögliche Spuren“ (S. 27; Hervorhebung vom Verfasser) einer Lehrtätigkeit Scaevolas. Die vom Verfasser entwickelten Kriterien dienen nicht dem Zweck, mit Hilfe von inhaltlichen Gemeinsamkeiten bisher unbekannte Lehrer-Schüler-Verhältnisse aufzudecken; sie beziehen sich allein auf Juristen, von denen ein Lehrer-Schüler-Verhältnis vermutet wird, und zwar aufgrund von Indizien, die nicht aus juristischen Inhalten abgeleitet werden. Die Aussagekraft der Untersuchungsergebnisse wird dadurch begrenzt.
Liegen allerdings weitere (nicht aus juristischen Inhalten abgeleitete) Indizien für ein Lehrer-Schüler-Verhältnis vor, wie dies bei Scaevola und Tryphonin der Fall ist, sind die inhaltlichen Gemeinsamkeiten geeignet, zum Gesamtbild einer solcher Beziehung zwischen den beiden Juristen beizutragen. Im Rahmen eines solchen Gesamtbildes können die inhaltlichen Gemeinsamkeiten als Ausdruck eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses gewertet werden, wenngleich zu beachten ist, dass hier die Gefahr eines Zirkelschlusses besteht. Der Verfasser betont daher zu Recht, dass es ihm lediglich darum geht, „mögliche Spuren“ (S. 27; Hervorhebung vom Verfasser) einer Lehrtätigkeit Scaevolas im Werk Tryphonins nachzuweisen. Und abschließend konstatiert er, die von ihm entwickelte Methode lasse sich „grundsätzlich auf jedes Paar von Juristen anwenden, von dem man vermutet, einer von beiden sei Lehrer des anderen gewesen“ (S. 217; Hervorhebung vom Rezensenten).
Die weitergehende Frage, ob es Indizien geben kann, die unmittelbar geeignet sind, ein Lehrer-Schüler-Verhältnis anzuzeigen, lässt sich bejahen. Solche Indizien könnten zum Beispiel darin bestehen, dass ein jüngerer Jurist einen älteren gegen Kritik von Seiten eines dritten Juristen verteidigt, dass der jüngere das Werk des älteren Juristen mit besonders emotionalen Wendungen lobt oder dass sich ein jüngerer Jurist auffallend häufig auf das Werk eines älteren bezieht. Überhaupt spricht jede Kumulation von Indizien für ein Lehrer-Schüler-Verhältnis. Angesichts der mutmaßlich bestehenden Schwierigkeit, solche Indizien auszumachen, erscheint es als angemessen, dass der Verfasser von einem solchen Vorhaben Abstand genommen hat.
Im Hinblick auf einen der vom Verfasser untersuchten Fragenbereiche wird man allerdings, über den Verfasser hinausgehend, annehmen können, dass die inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen Scaevola und Tryphonin nicht nur als Beleg dafür geeignet sind, dass Tryphonin Gedankengut Scaevolas aufgegriffen hat, sondern auch dafür, dass ein Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen ihnen bestand. Dieser Fragenbereich betrifft die rechtlichen Positionen eines (nicht mehr unter der Gewalt eines paterfamilias befindlichen) Soldaten, der in Gefangenschaft gerät und später in den Herrschaftsbereich Roms zurückkehrt oder aber bei den Feinden stirbt (S. 180 ff.). Scaevola und Tryphonin untersuchen, ob Gewaltunterworfene des Soldaten für diesen oder seine Erben ersitzen können. Aufschlussreich ist, dass sowohl Tryphonin als auch sein (mutmaßlicher) Mitschüler Paulus in diesem Zusammenhang übereinstimmend Julian und Marcellus zitieren und sich damit auf zwei Juristen beziehen, die auch schon für Scaevola von großer Bedeutung waren. Denn dieser hatte die Digesten des Marcellus und das gleichnamige Werk Julians mit Annotationen versehen. Die Vermutung liegt nahe, dass Scaevola diese Werke in seinem Unterricht behandelt und dadurch Tryphonin und Paulus angeregt hatte, sich mit einzelnen, von Julian und Marcellus erörterten Fragen auseinanderzusetzen. Hinzu kommt, dass sowohl Tryphonin als auch Paulus über die Rechtspositionen des zurückgekehrten Kriegsgefangenen im Vergleich zu denjenigen Rechtspositionen nachdenken, welche die Erben im Falle seines Todes in Gefangenschaft innehätten (S. 204). Eine solche Häufung von inhaltlichen Gemeinsamkeiten besagt wohl mehr, als dass Tryphonin und Paulus sich von Scaevola in ihren juristischen Darlegungen haben beeinflussen lassen. Es kann vielmehr angenommen werden, dass dieser im Rahmen seiner Unterrichtstätigkeit auf die angesprochenen Fragen eingegangen ist, sodass Tryphonin und Paulus angeregt wurden, sich in ihren Werken ebenfalls damit zu befassen. Dies hätte der Verfasser deutlich herausstellen können (vgl. S. 204).
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der Verfasser bei der Deutung der Quellentexte überaus gründlich, genau und umsichtig vorgegangen ist. Dass man in Einzelfragen auch einmal eine andere Auffassung für möglich halten kann, ergibt sich aus der Natur der Sache; denn die in den Digesten überlieferten Texte sind üblicherweise kurz und knapp formuliert (was auch für Scaevola gilt) und aus dem Zusammenhang gerissen. Sicherheit in den Ergebnissen ist hier nicht zu erreichen, nur Plausibilität. So bleibt nur, den Verfasser zu beglückwünschen und ihm für seine Arbeit zu danken.
Heidelberg Hans-Michael Empell