Speyer als Hauptstadt des Reiches: Politik und Justiz zwischen Reich und Territorium im 16. und 17. Jahrhundert, hg. v. Baumann, Anette/Kemper, Joachim (= Bibliothek altes Reich 20). De Gruyter, Berlin 2016. 249 S., Abb. Besprochen von Karsten Ruppert.
Der vorliegende Band dokumentiert eine gemeinsame Tagung der Stadt Speyer, des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit und der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung vom Oktober 2015 in Speyer. Sie ist von der richtigen, doch auch ebenso überraschenden These ausgegangen, dass die Rolle der Stadt Speyer als zentraler Regierungsort des Alten Reiches bis heute kaum erforscht worden sei, ja deren Bedeutung überhaupt noch nicht recht ins Bewusstsein gedrungen ist. Es wäre dabei eine besondere Aufgabe der Forschung, die Interaktion und Überschneidung der Aktivitäten der in dieser Reichsstadt angesiedelten Reichsinstanzen herauszuarbeiten. In der Forschung und im allgemeinen Geschichtsbewusstsein rangiere Speyerer als zentraler Ort des Alten Reiches immer noch hinter Regensburg, Wien, Augsburg und Nürnberg. Es ist unter anderem nicht das geringste Verdienst dieses Bandes, dass er deutlich macht, dass es dafür eigentlich keinen einsichtigen Grund gibt.
Denn in Speyer waren - das hätte mit etwas mehr Nachdruck herausgestellt werden können - die Hauptstadtfunktionen des Alten Reiches im 16. und 17. Jahrhundert in einem Maße verdichtet wie kaum woanders: Hier residierte von 1527/1530 bis 1689/1690 mit dem Reichskammergericht eines der beiden Obergerichte des Reiches und mit ihm zusammen im frühen 16. Jahrhunderts zeitweise auch das kurzlebige ständische Reichsregiment. Dazu kamen im 16. Jahrhundert mehrere bedeutende Reichstage. Diese brachten zusammen mit dem Kaiser auch dessen Hofrat für die Dauer von dessen Anwesenheit in die Stadt. Daher kann man sagen, dass im 16. Jahrhundert, wenn auch nur zeitweise und für wenige Monate, in Speyer sämtliche obersten politischen und juristischen Institutionen des Reiches ihre Tätigkeit ausübten. Das kann keine andere Stadt des Reiches für sich in Anspruch nehmen!
Siegrid Westphal untersucht, warum die für die Bedeutung Speyers wichtigste Institution, das Reichskammergericht, in die Reichsstadt gekommen ist. Diese habe mit der Grablege der salischen (und habsburgischen) Kaiser, zahlreichen Aufenthalten der Herrscher und mehreren Hoftagen schon in Mittelalter und Spätmittelalter die Funktion einer „Metropolis Germaniae“ wahrgenommen. Mit dem Reichskammergericht sei dann aber eine qualitativ neue Stufe erreicht worden, nämlich der Schritt von der zeitweisen zur strukturellen Zentralität. Westphal kann nachweisen, dass es vor allen Dingen politischen Zufällen im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts, aber auch einem gewissen Bemühen der Stadt selbst zu verdanken gewesen sei, dass die Ansiedlung dieses Gerichts gelang. Zugute kam der Stadt auch, dass einige favorisierte Konkurrentinnen das Angebot ausschlugen, da sie von der Errichtung des Gerichts in ihren Mauern innere Unruhen und wirtschaftliche Nachteile befürchteten.
Ihre These ist, dass die Stadt damit und mit dem Bemühen um Reichstage ihre abnehmende wirtschaftliche Bedeutung infolge der Verlagerung des Schwergewichts der europäischen Wirtschaft zum Atlantik hin als Folge der Entdeckung Amerikas kompensieren wollte. Das Argument scheint aber nur zum Teil plausibel, da die Stadt nicht allein über die dauernde oder zeitweise Übernahme von Funktionen des Reiches entscheiden konnte und es ja gerade für eine wirtschaftlich nicht mehr so potente Stadt eine außerordentliche logistische und finanzielle Herausforderung darstellte, solche Großveranstaltungen und Institutionen auszurichten und zu tragen.
Der Aufsatz Westphals zeigt aber auch wie wenig die Geschichtswissenschaft von in anderem Zusammenhang gewonnenen Theorien, hier die der zentralen Orte von Walter Christaller aus dem Jahre 1933, Nutzen ziehen kann. Die Intensität mit der dessen Thesen behandelt werden, steht in keinem Verhältnis zu den zusätzlichen Erkenntnissen, die sie befördern.
Mit der Arbeit der kaiserlichen Konkurrenz zum Reichskammergericht, dem Hofrat Karls V. als Vorläufer des späteren Reichshofrats, in Speyer beschäftigt sich Eva Ortlieb. Wenn auch aufgrund der Quellenlage nicht mit letzter Sicherheit nachgewiesen werden kann, ob der Rat den Kaiser jedes Mal, wenn er zwischen 1530 und 1546 in der Reichsstadt gewesen ist, auch begleitet hat, so besteht doch kein Zweifel, dass er in diesem Zeitraum hier mehrmals mehrere Monate getagt hat. Erstaunlich, wie viele Fälle diese politisch-juristische Institution in oft kurzer Zeit, obwohl ständig unterwegs, erledigt hat. Ortlieb unterstreicht Bekanntes, indem sie herausstellt, dass sich der Rat vor allen Dingen mit den kaiserlichen Lehenssachen und Privilegien beschäftigte. Noch nicht so deutlich herausgearbeitet worden ist, dass vor allen Dingen Bittsteller, Kläger und Beklagte aus der jeweiligen Region die Chance nutzten, um ihre Anliegen vorzubringen. Angesichts der damaligen Kommunikations- und Verkehrsmöglichkeiten ist das aber verständlich. Leider geht Ortlieb nicht mehr darauf ein, ob der Kaiser und sein Rat auch auf dem letzten Speyerer Reichstag von 1570 agierten.
Gabriele Haug-Moritz, Yves Huybrechts und Anette Baumann befassen sich mit der Tätigkeit wie auch der Organisation dieser Reichsinstitution. Sie untersuchen Religionsprozesse, die Stellung des burgundischen Kreises im Reich und die Visitationen des Reichskammergerichts. Sie gehen dabei aber so gut wie nicht auf die zentrale Fragestellung, in welchem Umfang dabei Hauptstadtfunktionen ausgeübt wurden, ein.
Die für die Reichsgeschichte unverzichtbare lokalgeschichtliche Ergänzung wird durch einen Aufsatz des bisherigen Stadtarchivars Joachim Kemper eröffnet. Leider gibt er keinen systematischen Abriss über den Forschungsstand zur Geschichte der Stadt im 16. und 17. Jahrhundert. Das wäre aber eine wichtige Voraussetzung für die Behebung der von ihm mit Recht beklagten Vernachlässigung dieses Zeitraums durch die Forschung gewesen. Diese ist umso unverständlicher, als die Quellenlage gut ist und die Stadt damals eine reichsweite Bedeutung hatte. Martin Armgart bringt einige neue Aspekte über das Zusammenleben von Assessoren und Personal des Reichskammergerichts mit der städtischen Bevölkerung. Anja Rasche kann in ihrer baugeschichtlichen Untersuchung nachweisen, dass das Reichskammergericht nicht, wie oft behauptet, im Speyerer Ratshof getagt habe, sondern in einem dem Ratshof benachbarten Gebäude.
Der dritte Teil, in dem ein Blick auf die der Reichsstadt benachbarten Territorien geworfen wird, krankt daran, dass er zu wenig mit dem Anliegen und der Fragestellung des Sammelbandes verbunden ist. Hans Ammerich, der beste Kenner der Geschichte des Bistums Speyer, geht intensiv auf die dortigen Reformbemühungen der tridentinischen und nachtridentinischen Bischöfe ein. Er lässt sich aber die Chance entgehen, aufzuweisen, was es für das Reichskammergericht bzw. das Bistum bedeutet hat, dass der Bischof zwischen 1558 und 1662 immer mal wieder auch als Kammerrichter fungierte. Andreas Deutsch legt die für Bischofsstädte typischen Streitigkeiten zwischen dem Bischof und dem Rat um die Rechtsprechung und Vollstreckung von Vergehen gegen das Strafrecht dar. Alexander Jendorff entwirft einen Überblick über die politische Struktur im Gebiet des Mittelrheins während des 16. und 17. Jahrhunderts und über die daraus resultierenden Konflikte, insbesondere die, welche als Folge der Konfessionalisierung entstanden waren. Dass dabei das Reichskammergericht auch eine besondere Rolle gespielt habe, wird zwar behauptet, aber nicht eingehender nachgewiesen. Der Band endet mit zwei kurzen Ausführungen zu neuen Quellen zur Geschichte des Reichskammergerichts.
Obwohl nur einige Beiträge die Hauptstadtfunktion der Stadt Speyer in der Frühen Neuzeit eingehender untersuchen, ist er ein gewichtiger Beitrag zu der bisher zu wenig beachteten Bedeutung zentraler Orte im Reich. Ihm gelingt insbesondere eine Aufwertung Speyers im Reigen dieser Orte. Er bereichert daher zugleich die Stadtgeschichte wie die Verfassungsgeschichte.
Die „Bibliothek Altes Reich“ gehört sicherlich zu den anspruchsvollen Reihen, die Forschungsergebnisse zur Geschichte der Frühen Neuzeit publizieren. Dann müssen die Ergebnisse, gerade einer Aufsatzsammlung, aber auch durch solide Register erschlossen werden. Auch hätte man gerne etwas über die jeweiligen Verfasser erfahren.
Eichstätt / Römerberg Karsten Ruppert