Sozialgerichtsbarkeit und NS-Vergangenheit. Karrierewege, Konflikte, Rechtsprechung am Beispiel Nordrhein-Westfalen, hg. v. Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen (= Juristische Zeitgeschichte Nordrhein-Westfalen 22). Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2016. 343 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Nach dem Vorwort des Justizministers Nordrhein-Westfalens waren, nachdem der Gesetzgeber 2002 und damit 57 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs auf internationalen Druck das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto erlassen hatte, die gesetzliche Rentenversicherung als Leistungsträgerin und die Sozialgerichtsbarkeit als für einschlägige Rechtsstreitigkeiten zuständige Gerichtsbarkeit mit Fragen zu den Arbeitsbedingungen und Lebensbedingungen von Juden in Ghettos befasst. Weil anfangs viele Anträge abgelehnt wurden, erfuhren die Bewilligungspraxis der Rentenversicherung und die bei Rechtsstreitigkeiten erlassenen Urteile der Sozialgerichte starke Kritik (aus dem Inland und aus dem Ausland). Als Folge änderte das Bundessozialgericht seine Rechtsprechung, womit deutlich mehr Renten bewilligt und ausgezahlt wurden.

 

Das in diesem Zusammenhang auf Grund der Zuständigkeit der Deutschen Rentenversicherung Rheinland für Antragsteller aus Israel in dem Mittelpunkt der Kritik stehende Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen versuchte deswegen die öffentliche Auseinandersetzung mittels einer Fachtagung, einer Israelreise, einer Wanderausstellung und zahlreicher Vorträge und Publikationen von Richterinnen und Richtern der Sozialgerichtsbarkeit. Es ergriff dabei auch die Initiative, zusammen mit dem Justizministerium des Landes die nationalsozialistische Vergangenheit von Richtern der nordrhein-westfälischen Sozialgerichte wissenschaftlich erforschen zu lassen, womit die Dokumentationsstelle und Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger auftragt wurde. Dabei ergab sich, dass die Zahl der nationalsozialistisch belasteten Richter der 1954 eingerichteten Sozialgerichtsbarkeit mit 29 deutlich höher lag, als dies die frühere Braunbuchkampagne der Deutschen Demokratischen Republik gegen nationalsozialistische „Blutrichter“ behauptet hatte.

 

Die von Darius Harwardt, Gabriele Hommel und Marc von Miquel erarbeitete Darstellung der Sozialgerichtsbarkeit und NS-Vergangenheit gliedert sich nach einer kurzen Einleitung in drei Teile. Sie betreffen Ausführungen zu der Geschichte der Sozialgerichtsbarkeit von der Verwaltungsjustiz in dem zweiten Deutschen Reich über die Weimarer Zeit und die Umbrüche sowie das Unrecht unter der nationalsozialistischen Herrschaft bis zu der Verselbständigung des Sozialjustizzweigs und den Aufbau der Sozialgerichtsbarkeit in Nordrhein-Westfalen, die Richter in der Sozialgerichtsbarkeit mit einer Übersicht über die nationalsozialistisch belasteten Richter und den ausführlicher behandelten Fällen Friedrich Caliebe, Horst Neubauer, Werner Holle und Karl Pesch und das Sozialrecht und die nationalsozialistische Vergangenheit (Kriegsopfer und ihre Versorgung mit den besonderen Fällen Herbert S., Reinhold K., Wilhelm S. und Ruth S., Versorgung der nationalsozialistischen Täter, Wiedergutmachung in der Sozialversicherung). Angefügt sind vier Beiträge aus der Sozialgerichtsbarkeit von Uwe Hansmann, Kai Hecheltjen, Ernst Huckenbeck und Martin Kühl über Dr. Herbert Maximilian Kieler (1905-1995), nationalsozialistische Täter und Kriegsopferversorgung, Fallbeispiele aus der Rechtsprechung des Sozialgerichts Düsseldorf und die Feststellung der Sperrfrist in der frühen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, wobei nach dem Umschlagtext des interessanten, von Dirk Frenking redigierten und mit einem Foto zu dem Artikel des Kölner Stadtanzeigers „Sozialgericht Köln nahm seine Arbeit auf“ von dem 24. Februar 1954 geschmückten sowie mit einem Personenregister von Adenauer (über Bogs, Hitler und Roehrbein) bis Zinn ausgestatteten Sammelbands insgesamt deutlich wird, wie weitreichend die Sozialgerichtsbarkeit den Umgang der Justiz mit der nationalsozialistischen Vergangenheit prägte.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler