Schneider, Jürgen, Die Ursachen für den Zusammenbruch der Sowjetunion und der DDR (1945-1990). Eine ordnungstheoretische Analyse (= Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 132, 2). Steiner, Stuttgart 2017. 1672 S., Abb. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Nur ziemlich selten ändert sich das Zusammenleben vieler Menschen der gesamten Erde binnen kurzer Zeit durch einen einzigen Gesamtvorgang erheblich. Ein herausragendes Ereignis ist in dieser Hinsicht trotz unübersehbarer Kontinuitäten in der jüngeren Zeitgeschichte der Zusammenbruch der seit der Oktoberrevolution des Jahres 1917 aus Russland entstandenen Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (Sowjetunion) und der 1949 aus der sowjetischen Besatzungszone des von den alliierten Siegermächten des zweiten Weltkriegs niedergerungenen Deutschen Reiches gebildeten Deutschen Demokratischen Republik. Da beides noch in dem Sommer des Jahres 1989 kaum vorstellbar schien, ist ein umfassendes Werk über die Ursachen für den Zusammenbruch dieser beiden Staaten von besonderer Bedeutung.

 

Vorgelegt wird es ohne orientierende Vorbemerkung als zweiter Teil des Bandes 132 der Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Kommission bei dem Verlag Steiner in Stuttgart von dem 1937 geborenen Wirtschaftswissenschaftler und Sozialhistoriker Jürgen Schneider, der sich im gleichen Verlag bereits 1995 mit der bayerischen Beamtenbank, 2001 mit dem öffentlichen und privaten Wirtschaften in sich wandelnden Wirtschaftsordnungen und 2003 mit natürlichen und politischen Grenzen als sozialer und wirtschaftlicher Herausforderung befasst hatte. Gegliedert ist das gewichtige Werk in 19 Kapitel. Sie betreffen die Neustrukturierung der globalen Einflusssphären nach 1945, Deutschland unter alliierter Besatzung, die universale Neuordnung der Weltwirtschaft durch die Vereinigten Staaten von (Nord)Amerika nach 1945 und die Währungsreform in den Besatzungszonen der westlichen Alliierten von dem 20. Juni 1948, die Transformation der sowjetischen Besatzungszone nach sowjetischem Modell durch die von Josef Stalin gesteuerte sowjetische Militäradministration in Deutschland, die Übertragung von Stalins Industrialisierungsmodell der vorrangigen Produktion von Produktionsmitteln auf die sowjetische Besatzungszone und die aus ihr gebildete Deutsche Demokratische Republik mit anschließender Mangelversorgung und dadurch verursachtem Volksaufstand von dem 17. Juni 1953, das Grundmodell der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschat in der sowjetischen Besatzungszone bzw. der Deutschen Demokratischen Republik zwischen 1948 und 1989, die systemimmanente Dysfunktion in dem Spiegel der Berichte der sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland und der Stellungnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit, das Scheitern der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft am technischen Fortschritt und an der Basisinnovation Informationstechnik, Preise, Löhne, Kosten, Gewinne und Investitionen ohne ökonomische Aussagekraft, einen Außenhandel ohne Wirtschaftsrechnung, die Krise und den Niedergang der Landwirtschaft in der Deutschen Demokratischen Republik (Arnd Bauerkämper), Probleme der Industrie der Deutschen Demokratischen Republik zwischen 1986 und 1989/1990 (Klaus Krakat), die wirtschaftlichen und ökologischen Folgen der Verschwendung der Energie in der Deutschen Demokratischen Republik (Wolfgang Stinglwagner), die Nichtproduktion von Kundenwunschprodukten in der Zentralplanwirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik, den Staatshaushalt der Deutschen Demokratischen Republik mit zunehmend stagnativem Subventionscharakter (Hansjörg F. Buck), extensives Wachstum und Mangelwirtschaft als Hauptursachen für „den Zusammenbruch der sozialistischen Staaten“, die Ideologie des Marxismus-Leninismus-Stalinismus als Utopie, die politische Willkür als Regel in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft und die Bilanz der sozialistischen wirtschaftsordnungspolitischen Experimente auf der Grundlage evolutionärer Universalien, in deren Rahmen Michail  Gorbatschow bereits an dem 25. Februar 1986 auf dem 27. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion  die Notwendigkeit einer radikalen Reform verkündet hatte.

 

Im Anschluss an diese detaillierten, im Grunde chronologisch geordneten Betrachtungen bietet der Verfasser Schlussbemerkungen zu der Sowjetunion und der Deutschen Demokratischen Republik. Sein auf die Deutsche Demokratische Republik konzentriertes, auch ohne ein benutzerfreundlich aufschließendes Register wohl überzeugendes Fazit besteht in der Anerkennung von Demokratie mit Marktwirtschaft, Privateigentum und konvertiblem Geld als (modernen) universellen Werten. Wer sich dem widersetzt, muss auf Grund ausbleibender Modernisierung sowie daraus folgendem Verschleiß und Substanzverlust im Wettbewerb (etwa der Sowjetunion und der Deutschen Demokratischen Republik mit den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland) auf dem globalen Markt im Ergebnis ausscheiden und untergehen bzw. sich anpassen und angleichen, weil der durch Modernität Stärkste sich über Preise und Güte auch in der Wirtschaft und damit letztlich in der Politik meist durchsetzen kann.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler