Schmiedel, David, „Du sollst nicht morden“. Selbstzeugnisse christlicher Wehrmachtssoldaten aus dem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Campus, Frankfurt am Main 2017. 512 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Die weit überwiegende Zahl der Soldaten, die in der deutschen Wehrmacht dienten, war in irgendeiner Form christlich sozialisiert und einer christlichen Konfession zugehörig. Es ist daher legitim zu fragen, ob und in welcher Weise diese christliche Grunddisposition das Verhalten der Soldaten im Einsatzraum – hier speziell auf dem Gebiet der Sowjetunion, gegen die bekanntlich ein Vernichtungskrieg geführt worden ist, in dem die Normen und Regeln der traditionellen Kriegführung vorsätzlich außer Kraft gesetzt worden waren – nachweisbar beeinflusst hat. Darüber hinaus verspricht ein solches Vorhaben Aufschluss darüber, ob und inwieweit die christlichen Landser in der Lage waren, die grundsätzliche Inkompatibilität der christlichen Ethik mit der Ideologie und Praxis der nationalsozialistischen Herrschaft zu begreifen und – wenn ja – welche Schlüsse sie aus einer solchen Erkenntnis gezogen haben.

 

David Schmiedel hat sich des Themas in seiner – hier überarbeitet und gekürzt veröffentlichten – Dissertation (Originaltitel: „‘Gott‘ im totalen Krieg. Wie verarbeiteten deutsche Wehrmachtssoldaten die Spannungen zwischen christlicher Tradition und nationalsozialistischem Vernichtungskrieg?“) angenommen, mit der er 2016 an der Fakultät für Humanwissenschaften der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg promoviert worden ist. Seine Arbeit ist dreistufig aufgebaut und setzt sich in ihrem ersten Teil mit den Spezifika der ausgewerteten Quellengattungen (Ego-Dokumente wie Feldpostbriefe, Tagebücher und Erinnerungsberichte; darüber hinaus die meist vierteljährlichen, den Kommandotagebüchern der Einheiten beiliegenden offiziellen Tätigkeitsberichte der Militärgeistlichen beider Konfessionen, Seelsorgeberichte überwiegend katholischer Militärgeistlicher an ihre kirchlichen Vorgesetzten und protokollierte Interviews mit ehemaligen evangelischen Militärgeistlichen aus den 1980er-Jahren) nebst den Mechanismen von Veränderung und Verdrängung sowie mit diversen Aspekten zur Ideengeschichte und Methodik (Gottesvorstellung im 19./20. Jahrhundert, Kommunikation mit Gott, tiefen- und verhaltenspsychologische Ansätze, Projektionstheorie, Religionssoziologie, Raumtheorie) auseinander. In einem zweiten Schritt skizziert der Verfasser einige der historischen Rahmenbedingungen näher, speziell den Wandel der Erziehung der Soldaten vom Kaiserreich bis zur Wehrmacht des „Dritten Reiches“ und das Verhältnis zwischen den christlichen Kirchen und dem Nationalsozialismus inklusive der Institution der Feldgeistlichen. Den eigentlichen Kern der Studie bildet der dritte Abschnitt, der empirisch anhand der in den eingangs angesprochenen Quellengattungen dokumentierten Äußerungen der christlichen Wehrmachtssoldaten ein Bild von den unterschiedlichen Sphären zu entwerfen versucht, in denen die Religiosität in der einen oder anderen Weise Wirkung entfaltete. Um dieses weite und recht unscharf umrissene Feld besser in den Griff zu bekommen, hat der Verfasser nach einem ersten Blick auf Anspruch und Selbstbild der deutschen Wehrmachtssoldaten mehrere Kategorien gebildet. Diese erfassen die Bezugnahme auf göttliche Eigenschaften (Allmacht, Güte/Gnade, Vergeltung und Wirken des Teufels), auf Gott und die Kriegsgewalt (gegen Zivilisten, Rotarmisten und die Wehrmachtsangehörigen selbst), auf Gott als Rechtfertigung von Krieg und Gewalt (Vernichtungskrieg, Judenmord), auf sogenannte „Räume“ Gottes (Gottesdienste, Talismane, Feiertage) und schließlich auf die Auswirkungen der Gewalt auf die Gottesbilder, worin die Strategien der Verschmelzung bzw. der Abgrenzung christlicher und nationalsozialistischer Werthaltungen als zwei konträre Formen der Verarbeitung der unmittelbaren Gewalterfahrung sichtbar würden. Die Methodik des Verfassers besteht im Wesentlichen darin, kurze oder ausführlichere Zitate aus den Quellen zu referieren und diese anschließend mit Bezug auf den eingangs dargelegten ideengeschichtlichen Rahmen zu kontextualisieren, zu kommentieren und zu interpretieren.

 

Es erweist sich allerdings als schwierig, trotz der kategorialen Orientierungshilfen aus dieser relativ amorphen Masse verschiedener Beobachtungen und Feststellungen klare Ableitungen zu treffen. Ein grundsätzliches Problem sieht der Rezensent bereits im unscharfen Begriff des christlichen Wehrmachtssoldaten als Analyseobjekt, da offenbar die formale Zugehörigkeit zu einer christlichen Konfession die einzige Gemeinsamkeit der in die Untersuchung einbezogenen Individuen vom einfachen Landser bis zum Feldgeistlichen darstellt. Eine solche sagt aber grundsätzlich wenig über die tatsächliche Identifikation einer Person mit christlichen Werten aus, die so von Fall zu Fall stark differiert. In der Einführung heißt es dazu vielsagend: „[Das Spektrum des christlichen Glaubens bei den Wehrmachtangehörigen] reichte von Soldaten, die sich in ihrem Glauben nicht sicher waren, über die, die nur noch nominell Christen waren, bis zu Soldaten, die den christlichen Glauben in vollem Maße verinnerlicht hatten“, darüber hinaus „verschwammen für die Soldaten (im ‚Gewaltraum der Ostfront‘) die Feinheiten der Konfession“, sprich: ob ein Kamerad evangelisch oder katholisch gewesen sei, sei dort nicht mehr von Belang gewesen (S. 20). Zudem bekennt sich der Verfasser im Anschluss an Georg Simmels mikrosoziologische Methode zu einer strikt individualistischen Betrachtung, wenn er betont, dass „Erkenntnisse über das Innenleben der Täter sich nicht aus dem Profil ganzer Gruppen gewinnen (lassen), sondern nur aus den Vorstellungen des Einzelnen; die Urbarmachung dieser Einzelansichten anhand von Quellen ist die eigentliche Arbeit und der Schlüssel zum Gelingen dieses Forschungsansatzes“ (S. 79).

 

Somit ist das Resümee dieser Studie – ganz im Gegensatz zur Behauptung des Verfassers, der meint, seine Ergebnisse fielen „überraschend“ aus – durchaus vorhersehbar. Dort ist zu lesen: „Ziel dieser Arbeit war es zu untersuchen, welche Konstruktionen sich die Soldaten schufen, um ihren Glauben mit ihrer Partizipation am Vernichtungskrieg in Einklang zu bringen. […] Die Ansätze zur Rechtfertigung des eigenen Handelns im Angesicht des allmächtigen Gottes, unter dessen Obhut sich die Soldaten wähnten, waren so vielfältig, wie es die Soldaten selbst waren. Zwar waren die meisten […] christlich sozialisiert worden, jedoch war dieser Umstand oftmals die einzige Gemeinsamkeit in ihren Vitae: es waren Männer aus allen Schichten der deutschen Gesellschaft. […] Auf der Grundlage dieser Unterschiede hatte ein jeder von ihnen seine persönliche Ausdeutung des christlichen Glaubens und schuf sich auf dieser fußend seine eigene Konstruktion zur Vereinbarung von Krieg und Christentum“ (S. 452). In Anbetracht des breiten Spektrums zwischen Kollaboration und Widerstand, das vor allem die Haltung der protestantischen Konfession zum Nationalsozialismus kennzeichnete, wäre hier unbedingt die Frage zu stellen, ob sich signifikante Unterschiede im Verhalten katholischer auf der einen und evangelischer Soldaten auf der anderen Seite im Hinblick auf ihre Resilienz nachweisen lassen. Einen solchen systematischen konfessionsbezogenen Blick lässt die Studie aber vermissen, sieht man einmal vom allgemeinen Befund einer „Konvergenz der Konfessionen“ (S. 455) und von Beobachtungen wie der folgenden ab, wonach sich „manche evangelische Soldaten aufgrund des Fehlens einer vermittelnden Instanz, wie sie im Katholizismus vorherrschend ist, in ihrem Glauben an Gott allein gelassen fühlten“ und „von der Anbindung der katholischen Soldaten an deren Kirche und Lehrmeinung“ so „beeindruckt“ gewesen seien, dass einige gar konvertierten (S. 457). David Schmiedel arbeitet aus dem konstatierten „schier allumfassenden Facettenreichtum“ lediglich „zwei grundsätzlich[e] Linien“ heraus, von denen er überdies noch – sehr treffend – festhält, dass sie „wahrscheinlich nicht für die Verarbeitungsmechanismen der christlichen Soldaten allein Gültigkeit haben“ (S. 452f.). Es handelt sich dabei zum einen um einen als „Abgrenzung“  bezeichneten Prozess der strikten Trennung der Sphäre des Dienstlichen von der des Privaten (christliche Überzeugungen wurden sozusagen in die zweite Sphäre „gerettet“), oder aber man ließ sich situativ-pragmatisch doch auf eine „Verschmelzung“ von christlichen und nationalsozialistischen Haltungen ein, wobei man die kritische gedankliche Auseinandersetzung mit den Implikationen der nationalsozialistischen Ideologie so gut es ging mied.

 

Wenn sich aber auf diese Weise das Verhalten christlicher Soldaten im Ostfeldzug auf Muster reduziert, die für Teilnehmer an diesem Feldzug generell nachweisbar sind, liegt der Schluss nahe, dass die religiöse Ausrichtung eines Beteiligten im Hinblick auf seine Tathandlungen weitgehend ohne Relevanz geblieben wäre. Für die Prüfung einer solchen These wird das Sample von (ausweislich der Zusammenstellung der Kurzbiographien im Anhang) gezählten 52 Stimmen, die der Verfasser insgesamt ausgewertet hat, nicht ausreichen. In erster Linie sind das Beiziehen von Referenzgruppen und quantifizierende Auswertungen vonnöten, um hier zu repräsentativen, validen Aussagen zu gelangen. Die hauptsächlich deskriptiven Ausführungen dieser sprachlich leider mit zahlreichen Mängeln behafteten Arbeit werden solchen Anforderungen nicht gerecht, obgleich ihr dokumentarischer Wert nicht zu unterschätzen ist.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic