Richter, Hedwig, Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert. Hamburger Edition, Hamburg 2017. 656 S., Abb. Angezeigt von Gerhard Köbler.
Die Wahl ist die Möglichkeit der Entscheidung zwischen verschiedenen Gegebenheiten und insbesondere die Berufung eines Menschen zu einer Aufgabe durch Abstimmung. Sie findet sich bereits in dem Altertum und von daher auch in der christlichen Kirche. Dabei wird vielleicht das Einstimmigkeitsprinzip allmählich durch den Mehrheitsgrundsatz ersetzt.
Mit der Geschichte der modernen Wahlen befasst sich die 1973 geborene, nach dem Studium von Geschichte, deutscher Literatur und Philosophie in Heidelberg, Belfast und Berlin 2008 in Köln mit einer Dissertation über die Herrnhuter Brüdergemeine in der Deutschen Demokratischen Republik promovierte, nach Tätigkeiten in der Tschechei, in Bielefeld, Greifswald und Washington 2016 in Greifswald auf Grund der vorliegenden Schrift habilitierte und seitdem als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe Demokratie und Staatlichkeit in Hamburg an dem Institut für Sozialforschung wirkende Verfasserin. Ihr umfangreiches Werk gliedert sich nach einer Einleitung über Demokratie als Fiktion in fünf Kapitel. Sie betreffen Wahlen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Elitenprojekte, die Gemeinschaft der Männer in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Männerprojekt, das Dreiklassenwahlrecht als Hybrid zwischen Tradition und Moderne in traditionsbedürftigen Zeiten, die Probleme moderner Herrschaft zwischen Freiheit und Manipulation sowie die Massenpartizipation als Konsens vor dem ersten Weltkrieg.
In ihrem überzeugenden, sich auf Daten aus Preußen und den Vereinigten Staaten von Amerika stützenden, synchrone Entwicklungen aufzeigenden Ergebnis gelangt sie zu der Erkenntnis, dass die Demokratie als Frucht der Aufklärung zwar auch von unten eingefordert, aber auch von oben gewährt wurde. Von hier aus dienten Wahlen nicht nur der Rechtfertigung von Herrschaft, sondern auch der Unterwerfung der Beherrschten unter die Herrschaft der Herrschenden. Dementsprechend geht es in der Folge überall vor allem darum, durch Wahlversprechungen zu Lasten von Minderheiten möglichst viel Zustimmung und damit Macht zu erlangen, ohne nach den Wahlen für die letztliche Durchsetzung eigener Interessen zu unmittelbarer Rechenschaft gezwungen werden zu können.
Innsbruck Gerhard Köbler