Rauchensteiner, Manfried, Unter Beobachtung. Österreich seit 1918. Böhlau, Wien 2017. 628 S., 25 Abb., 3 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.
Im heurigen Jahr 2018 vollenden sich hundert Jahre österreichischer Geschichte seit dem verlorenen Ersten Weltkrieg und dem damit einhergehenden Zusammenbruch der Habsburgermonarchie – ein willkommener Anlass, um zusammenfassend Rückschau zu halten auf die prägnanten Landmarken dieses an Wandlungen so reichen Centenniums. Der renommierte österreichische Militärhistoriker und ehemalige Leiter des Heeresgeschichtlichen Museums (HGM) in Wien, Manfried Rauchensteiner, hat seine Überblicksdarstellung in assoziativer Anknüpfung an einen Ausschnitt aus einem Gemälde von Otto Dix, der den Einband des vorliegenden Buches schmückt, unter das Motto der Beobachtung gestellt, der Rest-Österreich – 1918 innerhalb Europas gleichsam über Nacht „von einer Unentbehrlichkeit zur Verlegenheit“ und nach 1945 wiederum zu einem „Stabilitätsfaktor“ geworden – seitdem verstärkt von außen, aber auch von innen unterliege: „Jedes Mal, wenn sich in Österreich etwas tat, stand das Land unter Beobachtung. Und auch dann, wenn sich nichts tat. Immer wieder galt es als Problemzone, dann wieder als Sonderfall, als Musterschüler und gleich mehrfach als der böse Bube, dem man ganz genau auf die Finger schauen wollte“. Die Wahrnehmung dieses Verhaltens rechtfertige es, „dass man die Geschichte eines Landes, das sich selbst manchmal nicht wichtig nimmt, als wichtig für die Gesamtentwicklung eines Kontinents versteht und sich selbst eingestehen kann, dass es eine spannende Geschichte ist“ (S. 9f.).
Inklusive des Nachworts benötigt der Verfasser für die Aufbereitung der Inhalte 25 Kapitel, jedes davon eröffnet mit einer charakteristischen, ganzseitig reproduzierten und mit Erläuterungen versehenen Fotografie in Schwarzweiß. Acht Kapitel behandeln die Jahre vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum „Anschluss“ (1918 – 1938), fünf die Ära des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs (1938 – 1945) sowie zwei die zehn Jahre unter alliierter Besatzung (1945 – 1955). Es folgen weitere fünf Kapitel über die Periode vom Staatsvertrag bis zur Implosion des Ostens (1955 – 1989) sowie vier über die Folgezeit, endend mit den bevorstehenden Nationalratswahlen im Oktober 2017. Kapitel 25 ist identisch mit dem Nachwort, das sich paradigmatisch mit dem Wiener Heldenplatz beschäftigt als „einer Stelle, die als Brennpunkt der meisten wichtigen Ereignisse gelten kann, wo sich Politik, Kultur und Geistesleben treffen, wo sich aber auch die Frage nach dem kollektiven Gedächtnis Österreichs stellt und eine Antwort findet“ (S. 521). Im Anhang präsentiert eine 30 Druckseiten umfassende „Chronik Österreichs 1918-2017“, zusammengestellt nach Daten der „Chronik“ Isabella Ackerls und Walter Kleindels, der Österreichischen Jahrbücher für Politik (1976 – 2011) und der Jahresrückblicke der Austria Presse Agentur (2012 – 2016), Jahr für Jahr fortschreitend eine Auswahl mehr oder weniger erwähnenswerter Ereignisse, beginnend mit 700.000 streikenden Arbeitern im Januar 1918 und schließend mit den Nationalratswahlen am 15. Oktober 2017.
Das Werk geriert sich als eine informative, gut lesbare Narration der letzten 100 Jahre österreichischer Geschichte, die neben der dominierenden politischen Entwicklung auch ökonomische und mentalitätsgeschichtliche Aspekte in den Blick nimmt. Dennoch stellen etwa 500 Druckseiten Text für den behandelten Zeitraum einen recht eingeschränkten Umfang dar, der es nicht zulässt, auf wissenschaftliche Kontroversen und Streitfragen näher einzugehen. Wer hier mehr wissen will, dem werden die Hinweise des Anmerkungsapparates und die in der Bibliographie angeführten Schriften weiterhelfen. Nur aus den Anmerkungen sowie aus diversen Angaben in der Danksagung ist sodann zu erschließen, dass neben der einschlägigen Literatur viel archivalisches Material in die Darstellung eingeflossen ist, denn eine zusammenfassende Auflistung der ungedruckten Quellen fehlt. So hat Manfried Rauchensteiner nicht nur das Österreichische Staatsarchiv und das Kreisky-Archiv konsultiert, sondern darüber hinaus auch in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten recherchiert. Die drei dem Text beigestellten Karten zeigen auf jeweils einer Doppelseite den gedachten Umfang (unter Einschluss der heute in Italien, Slowenien, Ungarn, der Slowakei, Polen und Tschechien liegenden, deutschsprachig besiedelten Gebiete der ehemaligen Donaumonarchie) und die tatsächlichen Grenzen des Staatsgebiets von Deutschösterreich im November 1918 (S. 30f.), die sieben Reichsgaue (Groß-Wien, Niederdonau, Steiermark, Oberdonau, Kärnten, Salzburg, Tirol-Vorarlberg) der „Ostmark“ ab Ende April 1941 (S. 202f.) und die alliierten Besatzungszonen 1945 – 1955 in Österreich und in der Bundeshauptstadt Wien (S. 260f.).
Ob der behauptete Status eines beobachteten Landes über die Qualität eines originellen Titels hinausgehend auch als Kategorie mit heuristischem Potential zur Erklärung speziell der österreichischen Geschichte taugt, bleibt für den Rezensenten aber zu hinterfragen. Selbstverständlich mussten die Siegermächte der Weltkriege daran interessiert sein, die Einhaltung des Anschlussverbots im Auge zu behalten, wurde auch Österreichs Umgang mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit kritisch wahrgenommen, spektakulär gipfelnd 1987 in der US-amerikanischen Entscheidung, den früheren UN-Generalsekretär und amtierenden österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim auf die „Watchlist“ der mutmaßlichen Kriegsverbrecher zu setzen, und waren die sogenannten Sanktionen der EU-14 gegen die ÖVP-FPÖ-Regierungskoalition (Schüssel/Riess-Passer) im Jahr 2000 ein ebenso überzogenes wie spürbar unangenehmes Disziplinierungsmittel, mit dem die Einhaltung europäischer Werte innerhalb der Europäischen Union damals noch augenfällig reklamiert wurde. Dazu tritt die sicherheitspolitisch sensible Lage des immerwährend neutralen Landes an der Schnittstelle zwischen Ost und West. Aber kann man aus diesen Besonderheiten tatsächlich den Schluss ziehen, dass Österreich insgesamt argwöhnischer beäugt worden wäre und würde als andere EU-Mitglieder wie etwa die ehemaligen Ostblockstaaten Ungarn oder Polen, die bisweilen bedenkliche Erosionen des Rechtsstaats erkennen lassen, oder das wiedervereinigte Deutschland, belastet mit der Dauerhypothek des Rechtsnachfolgers der Hitler-Diktatur?
Während das historische Bild Österreichs für die Zwischenkriegszeit, die nationalsozialistische Herrschaft und die Besatzungszeit inzwischen allgemein recht klar konturiert ist, stehen die jüngeren Entwicklungen noch verstärkt in der Diskussion und lassen noch nicht immer eindeutige Wertungen zu; folglich werde, so der Verfasser, seine Erzählung „(g)egen Ende […] langsamer, tastender“ (S. 11). Das gilt beispielsweise für die legendäre Ära Kreisky (vier Regierungen von 1970 bis 1983), zu der der deutsche Rechtssoziologe Helmut Schelsky 1975 treffend festhielt, dass in Österreich „die ‚Mentalität der Sozialbetreuung‘ zu einem regelrechten Glaubensbekenntnis geworden sei“ (S. 400). Manfried Rauchensteiner hält ironisch die Schattenseiten des Wohllebens dieser Jahre fest, wenn er ausführt, „(d)ie Phäaken an der Donau hatten von Selbstgenügsamkeit zu Selbstgefälligkeit gewechselt und waren froh, dass alles so lief, wie es lief. […] Eine Million Österreicher konsumierte exzessiv alkoholische Getränke. Ein Drittel der männlichen und weiblichen Österreicher rauchte […] einen theoretischen Tagesverbrauch von rund 20 Zigaretten. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung war übergewichtig“ (S. 403). Anfang der 1980er-Jahre „war das Budgetdefizit zehnmal so hoch [wie unter der Regierung Klaus III 1968/69; W. A.] und der sogenannte ‚Austro-Keynesianismus‘ war gescheitert. […] Der Versuch [Kreiskys], das Steuer herumzureißen, war zwar in jeder Weise gerechtfertigt […]. Doch die dann eingeführte Sondersteuer auf Sparguthaben, aus denen die Kapitalertragssteuer werden sollte, die Erhöhung der schon 1977 eingeführten Steuer auf ‚Luxusgüter‘ und jede Menge Gebührenerhöhungen wurden als Griff in die Geldtaschen verstanden“ (S. 413f.). Über den Kreisky der achtziger Jahre ist zu lesen, er „wirkte müde, verbraucht, kämpfte mit einer Augenerkrankung und Diabetes, wurde zum Dialysepatienten und war nach dreißig Jahren in der Politik egozentrisch und intolerant“ (S. 414). Als er 1983 die absolute Mehrheit verfehlte, warf er das Handtuch, denn „seine Spannkraft (reichte) […] nicht mehr aus“ und „er hatte wohl auch die Lust am Regieren verloren“ (S. 416).
Hervorzuheben ist, dass der Band neben der raschen Abfolge zahlreicher Einzelinformationen immer wieder auch intensiver auf bestimmte Fragen einsteigt, die eine rechtsgeschichtliche Dimension aufweisen. Exemplarisch genannt seien die Verfassungsfrage nach dem Ersten Weltkrieg im Widerstreit zwischen zentralistischen und föderalistischen Interessen (S. 67ff.), die Ausschaltung des Parlaments durch Dollfuß im März 1933 (S. 111f.), die nicht ganz einfach zu beantwortende Frage nach dem österreichischen Anteil am Holocaust (S. 215f.), die von nationalsozialistischen Funktionsträgern angeheizten Übergriffe auf amerikanische Bomberbesatzungen 1944/1945 (S. 238ff.), die mit „Re-Austrifizierung“ überschriebene Entnazifizierung (S. 274ff.), die Strafrechtsreform mit der diffizilen Debatte um den Schwangerschaftsabbruch (S. 382ff.), der Streit um die Rechte der slowenischen Minderheit in Kärnten (S. 384ff.) oder die Anpassungen im Staatsvertrag und bei der Neutralität in Folge des Umbruchs im Osten und im Zuge des Beitritts Österreichs zur Europäischen Union (EU). Als sich im Zusammenhang mit der Finanz- und Wirtschaftskrise Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends auch die Regierungsparteien auf Ausländer, also „die 10 % der von außerhalb kommenden Personen“, einzuschießen beginnen, geißelt der Verfasser diese Tendenz mit einem so bemerkenswerten wie gewagten historischen Vergleich: „(E)s fiel wohl kaum einmal auf, dass man drauf und dran war, in Denk- und Handlungsmuster der Zwischenkriegszeit zurückzufallen und alles Ungemach und alle Probleme originär einer Gruppe zuzuschreiben. Was einmal die Juden waren, wurden nunmehr die Ausländer“ (S. 500). Auch in der Terminologie der Entnazifizierung will er eine solche Parallele orten: „Briten und Amerikaner steckten Tausende in Anhaltelager. Wolfsberg und Glasenbach wurden zu Synonymen für diese Maßnahme. Es störte wohl auch nicht, dass das Wort ‚Denazification‘ mit ‚Entnazifizierung‘ übersetzt wurde und damit fatal dem Nazi-Jargon von ‚Entjudung‘ ähnelte“ (S. 275). Die harte Gangart Österreichs gegenüber dem Verhalten der Türkei in der Flüchtlingskrise hält Manfried Rauchensteiner für berechtigt und geboten: „Wien wollte sich notfalls wieder zum Bollwerk machen, nicht aber des Christentums, wohl aber gegen eine Politik, die unverhohlen auf eine Erpressung Europas hinauslief. Denn die Drohung des türkischen Staatspräsidenten, wenn die EU das mit der Türkei geschlossene Abkommen über die bezahlte Rücknahme von Flüchtlingen nicht erfüllen sollte, Millionen Menschen auf Europa ‚loszulassen‘, konnte an Deutlichkeit und Brutalität kaum mehr überboten werden. […] Österreich, dem so oft ein schlampiger Umgang mit Grundrechten und Werten vorgeworfen wurde, und das wegen seiner Kontakte zu autoritären Regimen und Diktaturen kritisiert worden war, nannte die Dinge beim Namen. Das war auch im eigenen Land nicht unumstritten […]. Doch die Zeit war wohl angebrochen, Flagge zu zeigen“ (S. 514).
Letzteres tut auch der vorliegende Band, der insgesamt eine faktenreiche und bei allen Akzentuierungen recht ausgewogene Darstellung des Weges liefert, den das heutige Österreich in den letzten 100 Jahren durchmessen hat und der insbesondere seit 1955 aus vielerlei Gründen ein außerordentlich erfolgreicher war. „Auch die Republik braucht ihre Freiräume, hat ihre Helden und braucht ihre Gedächtnisorte“, heißt es im Nachwort bezugnehmend auf den Wiener Heldenplatz, nach Peter Stachel „Hauptplatz der Republik Österreich und der neueren österreichischen Geschichte“ (S. 524). Es ist notwendig, dass dieses Vermächtnis weitergetragen wird und der – mehr oder weniger beobachtete – Weg Österreichs auch in den kommenden Jahrzehnten weiterhin einer des rationalen humanen Denkens, des Friedens und der Prosperität bleibt.
Kapfenberg Werner Augustinovic