Meier, Heinrich, Was ist Nietzsches Zarathustra? Eine philosophische Auseinandersetzung. Beck, München 2017. 240 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Kaum jemand, dessen Bildungsweg gänzlich an ihm vorbeigeführt hätte, an Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), dem sächsischen Altphilologen und Philosophen, der sein Leben so unglücklich in geistiger Umnachtung beschloss und durch seine vielzitierte Schrift „Also sprach Zarathustra“ (1885/1887) die Welt mit der Konzeption des „Übermenschen“ in tragische Verwirrungen stürzte. In diesen Landmarken dürfte sich das Wissen der meisten Zeitgenossen ohne spezielle Affinität zur philosophischen Disziplin aber auch schon erschöpfen, mag doch der „Zarathustra“ aus unterschiedlichen Gründen heute nur mehr selten auf der Lektüreliste durchschnittlicher Leser erscheinen. Dies ist aus Sicht des Rezensenten durchaus zu beklagen, denn das der Gattung des Prosagedichts zugeschriebene „Buch für Alle und Keinen“ (Untertitel) ist allein in seinem ebenso einfachen wie bildhaft-poetischen Stil von einem außerordentlichen sprachlichen Reiz, der mit der üblichen Hermetik philosophischer Abhandlungen wenig gemein hat.

 

Der Titel „Was ist Nietzsches Zarathustra?“ weckt daher die Erwartungshaltung, es könne sich bei der aktuellen Publikation um eine Schrift handeln, welche die unterschiedlichen Überlegungen, die Nietzsches wahrscheinlich berühmtester Text in mittlerweile über 130 Jahren angestoßen hat, unter Einbeziehung allgemeiner und fachspezifischer historischer Kontexte vorstellt, diskutiert und wertet. Doch bereits ein erster Blick in das aufgeschlagene Buch erweist solche Hoffnungen als trügerisch: Nur knappe eineinhalb Seiten Vorwort benötigt der Verfasser zur Erläuterung seines Ansatzes und der Genese seiner Ideen, gefolgt von einem knappen Kapitel von weiteren fünf Seiten Umfang, dessen Titel mit dem Buchtitel ident ist und das gleichsam jene Interpretationsgrundlage darlegt, auf der in weiterer Folge die vier Teile des „Zarathustra“ kapitelweise durchforstet und, unterstützt von insgesamt 231 Fußnoten, im Kontext des gegenständlichen Werks und weiterer Schriften Nietzsches kommentiert werden. Ein abschließender Textteil von elf Seiten versucht das Wesentliche der Interpretation zu resümieren.

 

Nach Auskunft des Vorworts wurde Heinrich Meiers nun vorgestellte Auslegung des „Zarathustra“ in den Jahren 2013 bis 2015 in mehreren Seminaren an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie am Committee on Social Thought der University of Chicago erarbeitet und ist erster Teil einer umfassenderen Auseinandersetzung mit Nietzsches späten Schriften „Ecce homo“ und „Der Antichrist“. Sie setzt an der Dichotomie der Begrifflichkeiten des Propheten und des Philosophen an und begreift Nietzsches Buch insgesamt als einen Prozess „der Klärung und der Scheidung, der Selbstverständigung und der Selbstvergewisserung“ seines Verfassers, wobei dem Gang der Handlung genauso Bedeutung zukomme wie den Dialogen, Figuren, Rollen und Doktrinen; Zarathustra selbst sei darin „weder […] bloßes Gefäß einer Lehre noch […] schlichtes Sprachrohr seines Schöpfers [Nietzsche; W. A.]“ (S. 7). Der oben angesprochene charakteristische sprachliche Stil des „Zarathustra“ ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass Nietzsche sich mit seinem Werk „bewußt in den Umkreis der Sprache der Luther-Bibel“ gestellt habe. Neben der Konzeption als Tragödie sei der „Zarathustra“ (auch) als Parodie auf „die vier Evangelien, das Leben und die Lehre Jesu“ intendiert, Zarathustra erscheine gleichsam als der „Gegen-Jesus“ (S. 13f.).

 

Es kann hier nicht der Ort sein, die verästelten Gedankengänge, die Heinrich Meier stets in enger Auseinandersetzung mit dem Text des „Zarathustra“, den er vom Anfang bis zum Ende konsequent durchmisst, entwickelt, im Einzelnen aufzugreifen und zu diskutieren. Bezugnehmend auf seinen eingangs dargelegten Ansatz könne aus der detaillierten Analyse des Werks zusammenfassend der folgende Befund abgeleitet werden: „Philosoph und Prophet sind weder wesenseins noch wesensgleich. Bis zu Zarathustras Krisis der Erlösung in der Mitte des Buchs […] kann der Versuch, Philosoph und Prophet zu verbinden, als Weg zur Selbsterkenntnis verstanden werden. […] Der Dritte und der Vierte Teil können nur noch die Spannung ausstellen und an Zarathustras Oszillieren zwischen den Polen verdeutlichen, was die Vereinigung ausschließt. […] Also sprach Zarathustra bot Nietzsche die Gelegenheit, sich über die Optionen des Philosophen und des Propheten Klarheit zu verschaffen. Die dialektische Abhängigkeit, in die sich der Dichter mit der Parodie begab, vermochte die Klärung zu befördern, da sie die Bruchlinien hervortrieb und das Zugehörige vom Nichtzugehörigen scheiden half, so daß sie das typologische Profil beider, des Philosophen und des Propheten, am Ende schärfte, das sie auf den ersten Blick verwischen zu müssen schien“. Zarathustra als „Geschöpf seiner Imagination und […] Gegenstand seines Experiments“ sei essentiell Nietzsches Vehikel der „Selbstverständigung“ gewesen, „denn die Erkenntnis, zu der Nietzsche über sich selbst gelangte, kann als der bei weitem wichtigste Ertrag der Jahre betrachtet werden, die er in der Gesellschaft Zarathustras zubrachte. […] Alles andere, das das Buch ist und Nietzsche mit ihm beabsichtigt, tritt dahinter zurück“ (S. 232), so der Verfasser. Nietzsche habe sich ab nun bewusst gegen die Ausarbeitung einer umfassenden, ihm zuzurechnenden Doktrin entschieden und stattdessen in seinen Folgewerken („Ecce homo“ und „Der Antichrist“) im Kern weiterhin „die Frage (verhandelt), was ein Philosoph ist“ (S. 236).

 

Heinrich Meier gilt als Fachmann auf dem Gebiet der Politischen Philosophie, insbesondere der neokonservativen Denkschule in der Tradition von Leo Strauss. Unter anderem ist er als Herausgeber dreier Bände dessen „Gesammelte(r) Schriften“ (6 Bände) hervorgetreten und hat mehrere Studien zu Strauss, Rousseau sowie zu Carl Schmitt veröffentlicht. Es wäre daher umso mehr zu wünschen gewesen, dass der Verfasser jene umstrittenen Passagen des „Zarathustra“, welche die Doktrinen des Übermenschen und des Willens zur Macht zum Gegenstand haben, als eminent politisch wahrgenommene Aussagen noch einmal ausführlicher thematisiert und im Licht seiner Interpretation erläutert hätte, was leider nicht geschieht und den Leser weitgehend ratlos lässt. Die knappen Feststellungen, diesen Doktrinen komme nur „untergeordnete Bedeutung“ zu und die Lehre vom Übermenschen gehöre „ganz dem Propheten“ und „Nietzsche macht sie sich nicht zu eigen“ (S. 234), reichen nicht aus und können daher auch nicht überzeugen. Um Heinrich Meiers Nietzsche-Interpretation im Detail nachvollziehen zu können, sind überdies genaue inhaltliche Kenntnisse des „Zarathustra“ vonnöten, sodass die vorbereitende und/oder begleitende Lektüre von Nietzsches Text dringend geboten erscheint. Das Nachprüfen der Thesen des Verfassers ist insofern nicht ganz einfach, als durch den Verzicht auf eine Darlegung des Forschungsstandes eine rasch greifbare Informationsgrundlage fehlt, womit dem näher Interessierten die aufwändige persönliche Einarbeitung in die diffizile Materie nicht erspart bleiben wird.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic