Maier, Bernhard, Die Ordnung des Himmels. Eine Geschichte der Religionen von der Steinzeit bis heute. Beck, München 2018. 576 S., 50 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Obwohl unser beschränktes heuristisches Instrumentarium bislang noch keinen exakten wissenschaftlichen Nachweis zulässt, darf doch nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der Mensch mit dem Fortschritt der Anthropogenese irgendwann die physiologischen Voraussetzungen erlangte, sich bewusst mit dem ihn umgebenden Kosmos auseinanderzusetzen, der für ihn ebenso die Lebensgrundlage wie eine ständige Herausforderung und Bedrohung darstellt. Das daraus folgende Bedürfnis, die Komplexität dieser Umwelt – und damit auch den Stellenwert und den Sinn der eigenen Existenz – zu begreifen und nach Möglichkeit zu ordnen und zu kontrollieren, mag wohl der Auslöser für die global verbreitete Entwicklung mythisch-religiöser Ideen und Praktiken gewesen sein, die bis heute parallel, ergänzend und als Konkurrenz zum dominierenden wissenschaftlich-rationalen Denken fortbestehen. Eine Geschichte der Religionen, welche die im Lauf der Menschheitsgeschichte kreierten religiösen Vorstellungen und Bewegungen in diachroner Betrachtung zueinander in Beziehung setzt, verspricht somit über den engen Bereich des eigentlichen Sujets hinaus auch Aufschluss über den soziokulturellen Werdegang der menschlichen Spezies schlechthin.

 

Dass annähernd 600 Seiten Papier ausreichen könnten, das Thema in irgendeiner Form erschöpfend abzuhandeln, glaubt auch der Verfasser des vorliegenden Bandes, der Tübinger Religionshistoriker Bernhard Maier (die dritte Auflage seiner erfolgreichen „Geschichte der Kelten“ hat der Rezensent 2016 hier vorgestellt), nicht. In seiner Einleitung legt er dar, was sein Werk leisten kann und soll. Es soll dem Leser zum einen deutlich machen, „welche häufig wiederkehrenden und also mutmaßlich grundlegenden Funktionen ‚der‘ Religion (Einzahl) – und das heißt eben in der Regel: der einzelnen von uns so genannten ‚Religionen‘ (Mehrzahl) – in Vergangenheit und Gegenwart nachweisbar sind“, zum anderen aber auch, „dass ‚Religion‘ ganz unterschiedliche Formen annehmen kann, dass also die historisch greifbaren Religionen längst nicht immer und überall viele oder gar sämtliche Züge aufweisen, die dem Leser aus den ihm bereits bekannten Religionen vertraut sind“. Im Zentrum der insgesamt 25 Kapitel sollen „bestimmte Phänomene und religionsgeschichtliche Entwicklungen“ stehen, „die für die betreffende Epoche charakteristisch sind und die vielfach über ihre eigene Zeit hinaus weitreichende Folgen gehabt haben“, die Veranschaulichung soll „anhand einiger charakteristischer Beispiele aus verschiedenen Religionen“ erfolgen. Es gehe dabei aber nicht um eine „Geschichte der religiösen Ideen“, sondern vielmehr darum, über wechselnde Schwerpunkte „die gesamte Lebenswirklichkeit der Religionen in all ihren kulturellen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen im Auge [zu] behalten“. Um den vorrangigen Adressaten des Bandes, Interessierten, die im Gegensatz zu Spezialisten des Faches „nicht so sehr geistreiche Zuspitzung und gewagte Originalität als vielmehr Ausgewogenheit und Zuverlässigkeit erwarten“, die Relativität vieler Komponenten zu verdeutlichen, verweist Bernhard Maier zudem auf die Problematik bei der Übertragung vertrauter Begriffe auf fremde Kulturen im Zuge komparatistischer Untersuchungen, die Vorläufigkeit jedweden – und somit auch des gegenwärtigen – Erkenntnisstandes, den „schmalen Grat zwischen unvermeidlicher und unzulässiger Vereinfachung“ sowie auf die reale Unmöglichkeit absoluter Neutralität, die aber durch gewissenhaftes Referieren der „heute bekannten, in zahllosen Einzeluntersuchungen ermittelten und immer wieder kritisch reflektierten empirischen Daten der allgemeinen Religionsgeschichte“ zumindest näherungsweise angepeilt werde (S. 11ff.).

 

Das Panorama, welches das Werk unter diesen Prämissen in fünf Abschnitten entwirft, die jeweils von kurzen Zusammenstellungen der wesentlichen historischen Entwicklungen in der Epoche und in den behandelten Räumen eingeleitet werden, setzt vor etwa 80.000 Jahren mit den ersten nachweisbaren Bestattungen der Neandertaler ein und erfasst zunächst die Zeit der Ur- und Vorgeschichte und die altorientalischen Großreiche sowie Alteuropa. Das Werden der schriftlichen Überlieferung im frühen 3. vorchristlichen Jahrtausend sei nämlich „für die weitere Geschichte der Religionen keineswegs eine so tiefgreifende Zäsur, dass man damit eine neue Epoche der Religionsgeschichte beginnen müsste“, vielfach könne man die ältesten erhaltenen Schriftquellen „auch zur Deutung der vorausgehenden vorgeschichtlichen Epoche mit Gewinn heranziehen“ (S. 19). Bestattungsrituale, Göttervorstellungen und die Interaktion mit dem Numinosen in Gestalt von Opfer und Gebet, die zeitliche und räumliche Strukturierung der Kulthandlungen, fassbar im Alltag und bei Festen und konzentriert an Kultstätten und in Tempeln, sowie die in den Mythen jener Zeit erkennbaren Weltbilder werden hier erörtert. Eine zweite religionsgeschichtliche Epoche grenzt der Verfasser mit dem Hellenismus sowie mit der Ausbreitung des Islam ein. Beide Phänomene hätten nicht nur die unmittelbar betroffenen Räume verändert, sondern weit darüber hinaus ausgestrahlt, unabhängig davon seien zu dieser Zeit auch von religiösen Neuerungen in China und Indien langfristig wirksame Impulse ausgegangen. Obwohl Karl Jaspers‘ Begriff der Achsenzeit aufgrund neuerer Forschungen zu relativieren sei, gebe es „in der Religionsgeschichte des ersten Jahrtausends v. Chr. eine Tendenz, die vorher in dieser Deutlichkeit nicht nachweisbar ist und in der Folgezeit viele Religionen nachhaltig prägen sollte. Dabei handelt es sich um die Überzeugung, dass die gegenwärtige Situation des Menschen grundsätzlich unheilvoll ist und er die bestehenden Verhältnisse nicht konsolidieren und bewahren, sondern ganz im Gegenteil überwinden muss“ (S. 119). Daoismus und Konfuzianismus, die Upanischaden als Quelle des späteren Hinduismus, Buddhismus, Jinismus und die jüdische Religion, die „sowohl das frühe Christentum als auch den Islam nachhaltig prägen sollte“ (S. 138), seien durch diese Grundhaltung gekennzeichnet, deren Weiterentwicklung sich durch wechselseitige Beeinflussungen, Fixierung und Kanonisierung, politische Maßnahmen und in unterschiedlichen Formen der Organisation vollzogen habe.

 

Der dritte Abschnitt charakterisiert Europa und Asien im Zeichen der Weltreligionen Christentum, Islam und Buddhismus. Gewaltsame Herrschaftsdurchsetzung etwa im Rahmen der Kreuzzüge und der Reconquista, der jeweilige Umgang mit andersgläubigen Minderheiten sowie mit Abweichlern in den eigenen Reihen, aber auch das religiöse Leben im Tagesablauf und Jahreskreislauf, Funktionen der Wallfahrt, Formen der Mystik und die Exegese der Offenbarung werden in diesem Zusammenhang thematisiert. Ein Unterkapitel erläutert Quellen und Struktur der mit der Deutung der Scharia befassten muslimischen Rechtswissenschaft, die Weiterentwicklung dieses Rechts und dessen praktische Anwendung sowie unterschiedliche Rechtstraditionen (nach asch-Schafii, Abu Hanifa, Malik ibn Anas, Ahmad ibn Hanbal und Ibn Taimiya; die Einrichtung der rechtswissenschaftlichen Hochschule habe sich seit dem 10. Jahrhundert „ausgehend von Ostiran und Zentralasien […] bis zum vierzehnten Jahrhundert über das Zweistromland und Syrien nach Kleinasien und über Ägypten und Nordafrika bis nach Andalusien“ verbreitet; S. 286f.), ein weiteres Subkapitel verweist auf die großen, von Mosche ben Maimon (= Moses Maimonides), Jakob ben Ascher und Joseph ben Ephraim Karo besorgten Sammlungen jüdischer Rechts- und Gesetzestexte. Mit dem vierten Teil des vorliegenden Werks, der den Zeitraum vom Beginn der Neuzeit bis zum Ende des Zeitalters der Aufklärung in den Blick nimmt, tritt neben Afrika nun vor allem die Neue Welt in den Fokus, nicht zuletzt anhand prägnanter Skizzen der Religionen der Maya, der Azteken, der Inka und der Irokesen. In diese von Reformation und Konfessionalisierung in Europa, christlichen Missionsbewegungen in Indien, Fernost und Amerika sowie der Ausbreitung des Islams in Afrika und Indonesien gekennzeichnete Epoche fallen auch die durch die religions- und kirchenkritischen Gedanken der Aufklärung beeinflussten geistigen Auseinandersetzungen zwischen Bewahrern und Erneuerern im Christentum und Judentum, wohingegen vom Islam „die Ideen der europäischen Aufklärung kaum rezipiert wurden“ (S. 373).

 

Im abschließenden fünften Abschnitt beschäftigt sich der Verfasser mit jenen Phänomenen, die sich unter der politischen Dominanz von Groß- und Weltmächten sowie vor dem Hintergrund von starken Säkularisierungstendenzen, eines kulminierenden und kollabierenden Kolonialismus und der Folgen der Industriellen Revolution auf dem religiösen Feld beobachten lassen. Dazu zählen die Entstehung neuer, heute unter den Vorzeichen von Globalisierung und Digitalisierung gern auch die Möglichkeiten des Internets und der sozialen Medien nutzender Religionen und religiöser Bewegungen (unter anderem die Mormonen und die Baha’i, Voodoo und Candomblé, Scientology und die „Vereinigungskirche“ Sun Myung Moons) ebenso wie die Suche nach spirituellen Alternativen (Humanismus, Atheismus, Agnostizismus, Wunderglaube, Mesmerismus, Spiritismus, Theosophie, Anthroposophie). Ungebrochene Aktualität besitzt weiterhin der Themenkomplex Religion und Gewalt, der auch an allgemein weniger präsenten Beispielen expliziert wird, so am Faktum der massiven Förderung des japanischen Imperialismus durch den Buddhismus zwischen 1868 und 1945. Dabei erscheine „die Verwunderung einer breiten Öffentlichkeit über den Einsatz brutaler Gewalt und deren Rechtfertigung durch Buddhisten nicht zuletzt dadurch bedingt, dass die europäischen Vorstellungen vom Buddhismus mit der gelebten Realität oft wenig zu tun haben und dass man den abstrakten Idealen der ‚östlichen‘ Religionen in ihren Ursprungsregionen offenbar eine Präge- und Durchsetzungskraft zutraut, wie sie im Falle des Christentums hierzulande kaum jemand erwarten würde“ (S. 450). Mit der Bezugnahme auf die Verfolgung der muslimischen Minderheit der Rohingya in Myanmar wird auch ein erst jüngst neuerlich aufgeflammter Konflikt im größeren Kontext der Auseinandersetzungen zwischen Hindus, Muslimen und Sikhs angesprochen. Für die Welt von noch größerer Tragweite waren zweifellos die „im Laufe des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts entwickelten totalitären Ideologien [Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus; W. A.], da sie infolge ihrer autoritären und religionskritischen Haltung die Ausübung und Ausbreitung von Religion stark beeinträchtigten, oft aber auch selbst die Funktion einer (Ersatz)Religion erfüllten“ (S. 458). Über das Phänomen des Antisemitismus und den Zionismus wird sodann die Brücke zum Nahostkonflikt und zum islamistischen Terror geschlagen. Letzteren ordnet Bernhard Maier als eine „Vielzahl heterogener Erscheinungen“ ein: „Ihre vordergründige Einheitlichkeit ergibt sich durch den Rückgriff auf ähnliche Versatzstücke aus der islamischen Tradition, die Verwendung derselben (oft umgedeuteten) Begriffe aus dem islamischen Recht, ähnliche Argumentationsstrukturen und […] ein gemeinsames Feindbild. Bei näherer Betrachtung erweisen sich die gegenwärtigen islamistischen Terrororganisationen jedoch als Produkte rezenter regionaler (Fehl)Entwicklungen. Der Anspruch, in einem imaginären Islam der Frühzeit verwurzelt zu sein, dient nicht zuletzt der propagandistisch motivierten Selbstüberhöhung“ (S. 468f.).

 

Ganze sieben Druckseiten nimmt die fortlaufende, eine globale Orientierung in der Religionsgeschichte vermittelnde Zeittafel im Anhang ein, die mit den Neandertalerbestattungen um 80.000 v. Chr. einsetzt und 2016/2017 mit der Zerschlagung des Islamischen Staats in Irak und Syrien endet. Das 46 Seiten umfassende Literaturverzeichnis listet nahezu ausnahmslos Schriften aus dem laufenden Jahrzehnt auf und besticht somit durch seine besondere Aktualität. Dass dennoch nicht alle relevanten Titel erfasst werden – so fehlt etwa ein Hinweis auf Volker Reinhardts 2017 unter dem Titel „Pontifex“ veröffentlichte, umfassende Geschichte der Päpste – mag man in Anbetracht der großen thematischen Breite, die der vorliegende Band abzudecken versucht, nachsehen. Mit Blick auf die vom Verfasser definierte vorrangige Zielgruppe des Werks ist aber zu diskutieren, ob seine Entscheidung, ältere „Klassiker“ der Religionsgeschichte auszusparen, da „man über die Beschäftigung mit der jeweils neuesten Literatur ohnehin auf sie stößt“ (S. 15), den Erfordernissen der Praxis entspricht. Gerade fachlich weniger versierte Leser sollten auf grundlegende Werke – genannt sei als ein prägnantes Beispiel unter zahllosen Wilhelm Nestles „Vom Mythos zum Logos“ (1940) – explizit hingewiesen werden, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass der den Überblick Suchende immer auch die Spezialliteratur konsultiert. Diesen Überblick kann die vorliegende Schrift zweifellos gut vermitteln, wobei ihre besondere Qualität darin besteht, dass sie den Blick nicht nur generalisierend auf die großen Weltreligionen richtet, sondern auch ihre inneren Differenzierungen sowie gemeinhin weniger beachtete religiöse Aktivisten und kleinere religiöse Gemeinschaften weltweit angemessen berücksichtigt.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic