Macho, Thomas, Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne. Suhrkamp, Berlin 2017. 531 S., 57 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Als ein in der Geschichte der Menschheit lange bekanntes, vom Christentum verurteiltes, ja gar als streng zu bestrafendes Verbrechen eingestuftes Phänomen hat die Selbsttötung vor allem im 20. und 21. Jahrhundert eine so intensive Aufmerksamkeit erlangt, dass der Verfasser des vorliegenden Bandes, der in Berlin und Wien lehrende und forschende Kulturwissenschaftler Thomas Macho, für die radikale Umwertung des Suizids den Rang einer „Epochensignatur der Moderne“ (S. 7) einfordern zu können glaubt. Festzumachen sei dieser Paradigmenwechsel an der Antwort auf die existenzielle Leitfrage, mit der sein erstes von 13 Kapiteln einen übergeordneten Wegweiser für die nachfolgenden Inhalte gibt: Wem gehört mein Leben? Während in der Vergangenheit zunächst Ansprüche der Familie, dann Gottes und schließlich des Staates auf Leben und Tod des Einzelnen anerkannt worden seien, stehe heutzutage die Selbstbestimmung des Individuums weitgehend außer Streit: „Selbstbestimmung ist nicht mehr begründungspflichtig und tritt daher auch nicht mehr argumentativ hochgerüstet, sondern in gleichsam intuitiver Gestalt als Selbstverständlichkeit auf, der gegenüber alle Einschränkungen begründungspflichtig sind. […] Forciert wird der Trend zu Individualisierung, Selbstbestimmung und Kontrolle durch Medienwandel und digitale Revolution“ (S. 435f.). Selbstbestimmung bedeute konsequenter Weise auch die uneingeschränkte Anerkennung der persönlichen Entscheidung für einen Suizid.

 

Die Ausführungen des Verfassers lesen sich gleichsam als eine Kulturgeschichte des Suizids in einer weiten Auslegung. „Im Zentrum stehen […] nicht die persönlichen Motive oder sozialen Hintergründe von Suiziden, und auch nicht die Möglichkeiten der Prävention und Therapie oder gar die praktikablen Methoden des Suizids; gefragt wird vielmehr, welche kulturellen Bedeutungen dem Suizid verliehen werden. […] dominante Diskurse und Kontexte […]. In diesem Sinne werden Thematisierungen des Suizids in Werken der Malerei, der Literatur oder der Filmkunst als Quellen, die zur Beschreibung von Suizidkulturen beitragen können, ebenso ernst genommen wie philosophische, sozialwissenschaftliche oder psychologische Untersuchungen“ (S. 13). Die zeitlich mit der neolithischen agrarischen Revolution einsetzende Darstellung – damals hätten sich wohl zwei Voraussetzungen für die zentrale Frage nach dem Eigentum am Leben herausgebildet, „ein Konzept des Eigentums und ein Konzept der sozialen Distinktion, der Herrschaft und Verwandtschaft“ (S. 41) – mündet zunächst in die Betrachtung der Suizidwahrnehmung vor der Moderne, also von der Antike bis etwa zur Aufklärung. Als Grundregel galt: „Der Suizid ist verboten, weil er zerstört, was mir nicht gehört, mein Leben, das mir von den Ahnen und Eltern, von einem Gott, von einem Herrscher, dem Staat oder der Gesellschaft gegeben wurde“ (S. 55). Dennoch seien Suizide unter bestimmten Bedingungen respektiert worden: „als heroisch-ehrenvolle Suizide, als Selbstopfer und Märtyrertode, manchmal auch als Notsuizide bei unheilbarer Krankheit, quälenden Schmerzen oder hohem Alter. Als Ausnahmen wurden diese Suizide gerade von den Instanzen gebilligt, die einen gewissen Eigentumsanspruch auf unser Leben erheben, im Fall des Ehrensuizids von Familie, Staat oder Militär, im Fall des Martyriums von Gott, Kirchen und religiösen Autoritäten. Dagegen bezog sich die Rechtfertigung der Notsuizide auf medizinische Urteile und Argumente“. Für die Umwertung des Suizids in der Moderne sei gerade das Letztgenannte von Bedeutung gewesen, denn der Aufstieg der Medizin und ihrer Fachsparten habe entscheidend zur Rechtfertigung des Suizids beigetragen, „freilich um den Preis seiner Pathologisierung“ (S. 80). Damit ging allerdings keine rasche generelle Sistierung der Strafbarkeit in den Rechtsordnungen einher. In Preußen hob Friedrich II. 1751 die Suizidstrafen auf (vgl. S. 55), das schweizerische Bundesgericht hat 2006 sogar „den Suizid zum Menschenrecht im Sinne des Artikels 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention erklärt“. Auf der anderen Seite galt der Suizidversuch im Vereinigten Königreich „noch bis 1961 […] als Straftat“ (S. 35).

 

Die Geschichte des Suizids in der Moderne erfährt eine wesentliche Prägung durch die verstärkte Ausdifferenzierung und zunehmend allgemeine Übung sogenannter Selbsttechniken (Michel Foucault), die dem Subjekt seine Verdoppelung und Aufspaltung ermöglichen. Es handelt sich dabei um die gängigen Kulturtechniken des Lesens und des Schreibens, um künstlerische Ausdrucksformen, um die Nutzung der kommunikativen Potentiale unserer digitalen Welt, aber auch um den Akt der Selbsttötung an sich. Vereinfacht gesagt, bildet dieser Überbau von Akten der Selbstreflexion eigene interagierende Realitäten aus, die auf die gesellschaftspolitischen Diskurse zurückwirken und diese maßgeblich gestalten. So habe etwa die jahrhundertelange Erfahrung mit Pest und Cholera „den Aufstieg eines Ansteckungs-Dispositivs gefördert, das noch unsere aktuellen Debatten über Suizide nachhaltig prägt. […] (A)ls Quellen dieser ‚Epidemien‘ figurieren […] Zeitungsnachrichten, Bücher, Filme oder Computerspiele. Als lebensgefährlich erschien im 19. Jahrhundert […] das Lesen, das sich im Zuge der Aufklärung und Einführung allgemeiner Schulpflicht gleichsam ‚epidemisch‘ verbreitet hatte. Und so war es denn auch ein literarischer Text, dem zuerst nachgesagt wurde, er verführe zum Suizid und löse Suizidepidemien aus. […] Schon [Goethes] Werther [1774] stirbt nicht nur durch einen Pistolenschuss, sondern auch an gefährlicher Lektüre“ (S. 87f.). Thomas Machos Reise durch die Geschichte der Selbsttötung in der Moderne berührt in der Folge ein außerordentlich breites Spektrum an relevanten Inhalten. Es geht um die realen Fin-de-Siècle-Suizide von Kronprinz Rudolf bis Otto Weininger, aber auch um die großen suizidalen Frauengestalten in den Opern Verdis, Bizets und Puccinis, um Erziehung, Schule und den Brückenschlag zu den modernen Schulmassakern, als deren prominentestes Beispiel allgemein das Columbine-Massaker vom 20. April 1999 angesehen wird, und um den Mythos der Jugend, der im Kern eine Sakralisierung des Suizids und die mentale Einstimmung der jungen Menschen für die begeisterte Hingabe ihres Lebens auf den Schlachtfeldern gewesen sei: „Nicht zufällig leitet sich der Terminus ‚Infanterie‘ – als Bezeichnung für die Fußsoldaten, die in der modernen Schlachtordnung häufig als ‚Kanonenfutter‘, als Opfer eigener wie fremder Artillerie, eingesetzt wurden – vom lateinischen Wort infans ab: kleines Kind, Knabe“ (S. 137). Weitere Themen sind Suizide im militärischen Kontext – „(i)nzwischen haben sich mehr als 60.000 Vietnamveteranen das Leben genommen, während rund 58.220 US-Soldaten im Vietnamkrieg gefallen sind“ (S. 166) –, im Kontext des Nationalsozialismus und des Holocaust, philosophische Positionen und das im Begriff des Omnizids, also der möglichen Selbstvernichtung der Menschheit, terminologisch zugespitzte apokalyptische Potential atomarer Rüstung. Der politische Protestsuizid wiederum, ausgeübt meist in Form der Selbstverbrennung, aber auch als Hungerstreik und Durststreik, sei „die Fortsetzung des Martyriums mit anderen Mitteln. Ein grausamer Tod […], exekutiert im Auftrag der Macht, wird gleichsam umgekehrt in einen freiwilligen Tod, der gegen diese Macht protestiert und die Demütigung in Widerstand verwandelt“ (S. 259). Auch vom Suizid in den Künsten und speziellen Orten des Suizids ist zu lesen. Zwei Fragenkomplexe übertreffen aber alle anderen Themen an Aktualität: das im zaristischen Russland wurzelnde und im Anschlag vom 11. September 2001 auf das World Trade Center bislang gipfelnde Phänomen des suizidalen Terrorismus sowie die Debatten um Sterbehilfe und assistierten Suizid. Im letzteren Zusammenhang verweist der Verfasser darauf, dass die internationale Rechtslage „denkbar unübersichtlich“ sei und „selbst eine tabellarische Übersicht […] nur eine Momentaufnahme“ biete, da in vielen Ländern „immer wieder Initiativen zur Liberalisierung der Sterbehilfe heftig und kontrovers diskutiert“ würden. „Häufig waren es besondere, manchmal von mehreren Gerichtsinstanzen beurteilte Fälle, die eine schwelende Debatte neu befeuerten“ und von denen einige, wie die Fälle Gilbert (USA) oder Dent (Australien), im Band auch referiert werden (S. 422).

 

In seinem Nachwort bringt Thomas Macho, der leider keine Bibliographie zum Suizid zusammengestellt hat und dessen Quellen ausschließlich im Anmerkungsapparat dokumentiert sind, das Wesentliche seiner Ausführungen in sieben Absätzen noch einmal auf den Punkt. Er kommt zu dem Befund, dass die einst die Entheroisierung, Entmoralisierung und Entkriminalisierung des Suizids ermöglichende Pathologisierung heute ebenfalls verstärkt in Frage gestellt werde; in vielen Fällen werde die Entscheidung für einen Suizid ja bewusst getroffen und sei keineswegs Folge einer psychischen Erkrankung. Darüber hinaus hätten sich „kulturspezifische Traditionen der Suizide und Suizidnarrative in einem so atemberaubenden Tempo global verbreitet, dass es kaum mehr Sinn ergibt, suizidkritische und suizidfaszinierte Mentalitäten unterscheiden zu wollen. […] Wir leben in einer suizidfaszinierten Welt, die gar nicht selten davon träumt, dem eigenen Untergang zuschauen zu können“ (S. 448). Während selbst der unlängst verstorbene Physiker Stephen Hawking noch am 6. Mai 2017 „die Auswanderung auf andere Planeten“ empfohlen habe, „weil die Erde schon in hundert Jahren kein bewohnbares Habitat mehr bilden werde, halten andere die Fähigkeit zum Suizid geradezu für einen Inbegriff des Humanen“ (S. 27). Wenngleich solche Szenarien in Anbetracht der ungeheuren Trägheit, mit der die Menschheit auf wissenschaftlich nicht mehr ernsthaft zu bestreitende Bedrohungen wie den weltweiten Klimawandel reagiert, und im Hinblick auf die anhaltende Gier, mit der weiterhin die rasch schwindenden Ressourcen unserer Erde von gewinnorientierten Unternehmen ausgebeutet werden, durchaus plausibel sind, will sich der Rezensent weiterhin den Optimismus bewahren, diese beiden wenig attraktiven Optionen zu verwerfen und darauf zu bauen, dass sich doch noch jene Vernünftigen durchsetzen mögen, die erkannt haben, dass ungebremstes Wachstum in einem geschlossenen System auf lange Sicht weder die Glückseligkeit des Menschen zu befördern noch seine Lebensgrundlagen zu sichern vermag. Faszinierend ist das enzyklopädische cineastische Wissen des Verfassers, das er immer wieder maßgeblich in seinen Text einfließen lässt. Ein Missverständnis dürfte hingegen seiner Bemerkung zugrunde liegen, die den „NS-Schatten […] über der Geschichte der R[oten] A[rmee] F[raktion]“ illustrieren soll, wenn indigniert die Frage gestellt wird: „Wie konnte die Geiselhaft Schleyers mit dem Ausdruck „Volksgericht“ legitimiert werden [..]?“ (S. 315). Die Volksgerichte waren – im Gegensatz zum nationalsozialistischen Volksgerichtshof, an den hier wohl fälschlich gedacht wird – gerade jene Spruchkörper, die in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg während der gesamten alliierten Besatzungszeit (1945 – 1955) die Aburteilung nationalsozialistischer Straftäter ins Werk setzten.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic