Knipp, Kersten, Im Taumel – 1918 – Ein europäisches Schicksalsjahr. Theiss/Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2018. 422 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Die wohl seit mehr als 100000 Jahren erkennbare und in der jüngsten Vergangenheit immer stärker zunehmende Verdichtung des menschlichen Lebens hat viele auffällige Folgen von der Globalisierung des Handels bis zu der Bedrohung durch die Klimaerwärmung nach sich gezogen. Zu ihnen ist auch die von Verkehrstechnik und Waffentechnik ermöglichte Wirklichkeit weltweiter Kriege zu zählen, wie sie 1914 erstmals sichtbar wurde. Da sich das Ende dieses ersten mörderischen Ringens um die Vorherrschaft eines Staates auf der Welt zu dem hundertsten Male jährt, sind zu Erinnerung, Aufklärung und Mahnung zahlreiche Studien erschienen.

 

Der 1966 geborene Verfasser der vorliegenden Darstellung wurde in Köln 1997 mit einer Dissertation über zerbrechliche Bilder (Identitätskonstruktion im Werk Autran Dourados) promoviert. Seitdem hat er an vielen verschiedenen Stellen als Publizist und Journalist etwa über Ästhetik und Emanzipation, Flamenco, das ewige Versprechen oder den nervösen Orient publiziert, wobei Zeitgeschichte und Politik in dem Vordergrund stehen. 1918 ist für ihn das Schicksalsjahr, in dem das alte Europa krachend zusammenbricht, die Vielvölkerreiche zerfallen, neue Staaten auf der Landkarte entstehen und Nationalismus und ethnischer Chauvinismus ihr Haupt erheben, wofür auf dem Umschlag Kämpfe in dem Berliner Zeitungsviertel Anfang 1919 um das von Spartakisten besetzte Verlagshaus Mosse als den Druckort des Berliner Tageblatts illustrativ verwendet werden.

 

Gegliedert ist das auf Spannung setzende, vielfältig bunt ausgreifende Werk in fünf Teile. Sie betreffen die europäische Erbmasse mit den letzten Kriegstagen des 11. November 1918 und den Folgen sowie dem Habsburgerreich und seinen Nationen, die Diplomatie im Krieg mit der Rückkehr Polens in die europäische Staatenwelt, dem Unabhängigkeitskampf der Tschechen und Woodrow Wilsons Traum von dem ewigen Frieden, die Quelle des Hasses in der Pariser Friedenskonferenz, die Stunde der Autokraten mit der zornigen Republik und dem Traum von Turan der Osmanen, Armenier und Griechen sowie das Prinzip Hoffnung in dem Völkerbund und der von Igor Strawinsky, Robert Musil und Paul Klee verkörperten Kultur nach dem Krieg, sowie einem Epilog auf der Suche nach „Europa“ und dem Selbstverständnis des Kontinents. Auf diesem weit vor das Schicksalsjahr 1918 zurückgreifenden und zugleich darüber auch weit hinausgreifendem Weg berichtet der Verfasser im Rahmen des allgemeinen „Taumels“ zahlreiche eindrucksvolle Geschehnisse wie die Detonation von 19 Minen bei Mesen an dem 7. Juni 1917 mit etwa 10000 Toten und einem Krater von 45 Metern Tiefe und stellt vielfältige eigene Überlegungen zu so viel Untergang wie nie und zugleich so viel Neubeginn wie nie an.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler