Gerwarth, Robert, Die größte aller Revolutionen. November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit, aus dem Engl. v. Weber, Alexander. Siedler, München 2018. 384 S., 26 Abb., 2 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Dass die Geschichte der Weimarer Republik (1918 – 1933) von den Historikern vorwiegend unter dem Aspekt ihres Scheiterns interpretiert wird, liegt in hohem Maß an ihrem verunglückten Ende, der Kapitulation vor dem Nationalsozialismus. Nimmt man diesen Umstand zum Ausgangspunkt der Betrachtung, so erscheinen die zurückliegenden Jahre als solche, in denen sich die demokratische Ordnung unfähig erwies, den Aufstieg jener radikalen Kräfte von rechts und links, die man 1918/1919 nicht zu neutralisieren imstande war, wirksam zu unterbinden. In solch einer retrospektiven Wahrnehmung wird jedoch oft übersehen, dass der Nationalsozialismus sich erst in einer späten Phase der Republik, nämlich mit der Weltwirtschaftskrise 1929, zu einem Massenphänomen und damit zu einer politisch relevanten Kraft zu entwickeln vermochte. War es aber tatsächlich so, dass die breite Masse der deutschen Bevölkerung der Republik von Anfang an ablehnend gegenüberstand?

 

Um dieser Frage nachzugehen, richtet Robert Gerwarth, der in Oxford promovierte, heute als Professor für Moderne Geschichte am University College in Dublin lehrende Geschichtswissenschaftler, dessen Publikationen zum Bismarck-Mythos (2007), über den Chef des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich (2011) und zu den Besiegten des Ersten Weltkriegs (2017) allgemeine Aufmerksamkeit und Lob geerntet haben, seinen Blick nun speziell auf die revolutionären Jahre von 1918 bis 1923. Dabei geht es ihm darum, diese Zeit aus der Perspektive der Zeitgenossen zu rekonstruieren, um zu validen Aussagen darüber zu gelangen, welche Hoffnungen und Erwartungen im Hinblick auf die demokratische Ordnung die Öffentlichkeit bestimmten und welche Faktoren maßgebliche Änderungen der Stimmung indizierten. Sein Gesamtbefund ist eindeutig, wenn er mit Bezug zum rezenten deutschen Staat konstatiert: „Bis Ende des Jahres 1923 hatte die Weimarer Republik, die so oft als ‚schwache Demokratie‘ abgetan wird, […] eine ganze Reihe Putschversuche von links wie von rechts überstanden – ungleich dramatischere und gewalttätigere Angriffe auf die Demokratie, als die Bundesrepublik in den 1970er und 1980er Jahren bewältigen musste, die zu jener Zeit niemals als ‚schwache Demokratie‘ wahrgenommen wurde. Die Weimarer Republik schien Ende 1923 politisch gefestigter denn je; ihr letztliches Scheitern neun Jahre später war nicht vorherzusehen“ (S. 292). Oder, mit anderen Worten: „Am Ende des Jahres 1923 war das Scheitern der Demokratie weit unwahrscheinlicher als ihre Konsolidierung“ (S. 297).

 

Auf den Punkt gebracht hat die optimistischen Erwartungen, die eine überwiegende Zahl der deutschen Bevölkerung ursprünglich mit dem demokratischen Wandel verknüpfte, seinerzeit Theodor Wolff, Chefredakteur des liberalen „Berliner Tageblatts“, dessen hymnische Würdigung der Novemberereignisse für Gerwarths Titel Pate steht: „Die größte aller Revolutionen hat […] das kaiserliche Regime mit allem, was oben und unten dazu gehörte, gestürzt. […] Gestern früh war, in Berlin wenigstens, das alles noch da. Gestern Nachmittag existierte nichts mehr davon. […] Jedem Volke, das sich zu wahrer Freiheit erhebt, muss dieses Musterbild vor Augen stehen. […] Ein reifes, verständiges Volk schafft sie [die ‚Symbole des alten Geistes‘; W. A.] ohne etwas zu zerbrechen fort“ (S. 10). Letzterer Satz thematisiert die erstaunliche, relative Gewaltfreiheit, mit welcher der Sturz der Monarchie zunächst vonstattenging. Wenn auch keineswegs alle Wolffs Euphorie teilten und es „für den einen oder anderen gute Gründe geben (mochte), die Zukunft in düsteren Farben zu sehen“, so begrüßte dem Verfasser zufolge „doch die überwältigende Mehrheit der Deutschen die revolutionäre Umgestaltung Deutschlands von einer konstitutionellen Monarchie mit eingeschränkter parlamentarischer Mitbestimmung zu einer parlamentarischen Demokratie – zumindest im Herbst 1918 und Frühjahr 1919 –, sei es aus innerer Überzeugung oder weil sie sich von der innenpolitischen Konsolidierung des Landes mildere Konditionen für den in Paris zu verhandelnden Frieden versprach. Die Unterstützung für die demokratische Erneuerung und die Sehnsucht nach Frieden waren zu jener Zeit viel tiefer in der Bevölkerung verankert, als bisher angenommen wurde“ (S. 13f.).

 

Robert Gerwarths sich zu den Forderungen der Ergebnisoffenheit und einer transnationalen Perspektive bekennende Ausführungen erstrecken sich über insgesamt 13 Kapitel, umklammert von einer Einleitung und dem Epilog. Die Darstellung setzt mit den zentralen, das Jahr 1917 prägenden Ereignissen, dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten von Amerika und der bolschewistischen Revolution in Russland, ein, da beide „die politischen wie militärischen Entscheidungen Deutschlands 1917/18 in erheblichem Maße […] beeinflusst“ hätten (S. 60). Das in Brest-Litowsk de facto verwirklichte deutsche Ostimperium nährte bei den Deutschen hohe Erwartungen auf den Sieg im Westen, die sich nicht erfüllten. Nach dem Ausscheiden Bulgariens, der Donaumonarchie und des Osmanischen Reiches sei das Deutsche Reich Anfang November 1918 die letzte Mittelmacht gewesen, die sich weiterhin im Krieg befunden habe. Die deutsche Oberste Heeresleitung (OHL) habe erkannt, dass „ein milder ‚Wilson’scher Frieden‘ ohne Sieger und Besiegte das Beste, was sich Deutschland noch erhoffen durfte“, war und dass „die Alliierten ein Zeichen für die innenpolitische Demokratisierung des Landes verlangen würden, bevor sie ernsthaft mit Deutschland verhandelten“ (S. 85), worauf Kaiser Wilhelm II. – nicht zuletzt aus Furcht vor einer Revolution nach russischem Muster – den Empfehlungen seiner Militärführung folgte und mit Max von Baden einen Reichskanzler ernannte, der nun „erstmalig in der deutschen Geschichte […] abhängig von der aus Sozialdemokraten, Zentrum und Linksliberalen bestehenden Reichstagsmehrheit“ war (S. 87).

 

Die Verfassungsreformen vermochten indes die im Matrosenaufstand von Wilhelmshaven und Kiel ihren Ausgang nehmenden revolutionären Ereignisse nicht mehr aufzuhalten, die, keinem festen Plan folgend und – hierin atypisch – von der Peripherie ins Zentrum fortschreitend, die deutschen Monarchien binnen kurzem nach folgendem Muster hinwegfegten: „Sie begannen mit Soldaten- und Arbeiterprotesten, die sich infolge mangelhaften Krisenmanagements der Obrigkeit binnen Stunden radikalisierten. Marineinfanteristen, Militärpolizei, Reserveeinheiten und andere örtliche Garnisonsstreitkräfte, die man gegen die revolutionären Massen in Stellung brachte, erwiesen sich als unfähig oder unwillig, der Rebellion energisch entgegenzutreten. Anstatt zu kämpfen, begrüßte das Heimatheer die Meuterer freudig als Kameraden und schloss sich wie ein großer Teil der Industriearbeiterschaft kurzerhand der Revolution an“ (S. 114). Charakteristisch sei die Institution sich spontan etablierender Räte gewesen, die man „bei Großversammlungen streikender Arbeiter oder meuternder Matrosen und Soldaten“ wählte. In der russischen Revolution von 1905 wurzelnd, stellten sie „für ihre Anhänger, vor allem Unabhängige Sozialdemokraten und Spartakisten, eine unverfälschte Form basisdemokratischer politischer Vertretung dar. Die Gegner, darunter auch führende Persönlichkeiten in der MSPD [= der als ‚Mehrheitssozialdemokraten‘ bezeichnete, gemäßigte Flügel der Partei, von dem sich 1917 der radikale linke Flügel als selbständige USPD getrennt hatte; W. A.], betrachteten sie hingegen als Vorboten des ‚Bolschewismus‘, die lediglich Chaos, Niedergang und unwirtschaftliche Verwerfungen hervorriefen“ (S. 108). Massendemonstrationen und Generalstreik, die Abdankung der Hohenzollern und die Übernahme der Reichskanzlerschaft durch Friedrich Ebert (MSPD) ebneten schließlich den Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919 den Weg, bei denen „eine überwältigende Mehrheit von 76 Prozent für jene Parteien votierte, die klar für einen demokratischen Neuanfang in Deutschland standen“ (S. 221).

 

Wie der Verfasser zeigen kann, erwuchsen die Kräfte, die dieser günstigen Entwicklung der Republik entgegentraten, aus inneren wie äußeren Einflüssen, die sich zu unheilvollen Kausalketten fügten. Während die in USPD und KPD organisierte radikale Linke die Weiterführung der Revolution befürwortete und eine Räterepublik anstrebte, wollte Ebert „mit allen Mitteln vermeiden, dass sich die Ereignisse von Petrograd in Berlin wiederholten“ (S. 209). Zu präsent waren die Erschießung des deutschen Botschafters in Moskau, die öffentlichen Aufrufe Lenins und Trotzkis zur Weltrevolution und die Nachrichten über bolschewistisch motivierte Bürgerkriege, wie etwa in Finnland. „Mit allen Mitteln“ schloss daher die Anwendung von Gewalt ein und bedeutete, dass Ebert und sein Parteigenosse und Militärexperte Gustav Noske neben regulären Truppen auch die aus den Kämpfen im Baltikum verroht zurückkehrenden, der „Dolchstoßlegende“ der im Feld unbesiegten, hinterrücks verratenen deutschen Armee anhängenden paramilitärischen Freikorps einsetzten, wo „durch Niederlage und Revolution verbitterte ehemalige Frontsoldaten [… ,] unerfahrene Kadetten und rechtsgerichtete Studenten […] hochexplosive, rein männliche Subkulturen ausbildeten, in denen brutale Gewalt eine akzeptierte, wenn nicht gar erwünschte politische Ausdrucksform darstellte“. Diese kompromisslosen Söldner warteten nur „auf eine Gelegenheit zur Abrechnung“ und „kämpften nicht für die Republik, sondern gegen ‚den Bolschewismus‘“ (S. 210). Die Ermordung des Juristen Wilhelm Liebknecht und Rosa Luxemburgs im Gefolge des Spartakusaufstandes und die Exekutionen nach der Niederschlagung der dem Mord an Kurt Eisner (USPD) nachfolgenden, vom ungarischen Rätesystem inspirierten Münchner Räterepublik, denen unter anderem Gustav Landauer, Eugen Leviné und Rudolf Egelhofer zum Opfer fielen, geben ein beredtes Zeugnis von den Gewaltorgien, zu denen die reaktionären Kräfte fähig waren. Die Kluft innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung wurde so zum „unüberbrückbaren Abgrund“, der politische Mord nicht nur in Deutschland – erinnert sei an die Mordanschläge auf Matthias Erzberger, Philipp Scheidemann und Walther Rathenau –, sondern „überall in Europa“ zum „feste(n) Bestandteil der europäischen Nachkriegskultur“ (S. 219f.). In Bayern aber „(neigten) nicht wenige bürgerliche Beobachter dazu, die Schuld für die Eskalation von Gewalt und Chaos allein den Rotgardisten zuzuschreiben“, das Land erlebte „einen massiven Rechtsruck“ (S. 247f.). München wirkte fortan „wie ein Magnet auf Nationalisten aus ganz Deutschland und wurde so schließlich zu einer Brutstätte rechtsgerichteter Radikaler“, wodurch es „kaum verwunderlich“ sei, „dass Adolf Hitler genau hier seine politische Sozialisierung erfuhr“ (S. 291).

 

Die enttäuschten Hoffnungen auf einen Frieden ohne Verlierer, wie ihn der US-amerikanische Präsident Wilson angekündigt hatte, stellten wohl die größte Last dar, die dem jungen demokratischen Staatswesen aufgebürdet wurde. Bereits über die von den Franzosen und Briten den Deutschen in Compiègne oktroyierten Waffenstillstandsbedingungen war „die große Mehrheit der Deutschen zutiefst verbittert“ und empfand sie „als Ausgeburt alliierter Rachsucht“, obwohl sich noch „tiefe Erleichterung breit(machte), dass der Krieg endlich zu Ende und die Revolution […] bisher deutlich gewaltloser verlaufen war als erwartet“ (S. 165f.). Die bekannt drakonischen Konditionen der Pariser Friedensverhandlungen sorgten dann schließlich „im ganzen Reich für blankes Entsetzen“ (S. 254), man empfand sie „schlichtweg als kriminell“ (S. 261). Das Verbot des vor allem von der MSPD propagierten Anschlusses führte als „eklatante Verletzung des nationalen Selbstbestimmungsrechts“ Präsident Wilsons Ideale ad absurdum: „Dass der Friedensvertrag ganz anders, nämlich weit weniger versöhnlich ausfiel als Wilsons Vierzehn Punkte, dürfte sehr viel mehr zum Ansehensverlust der Demokratie beigetragen haben als die vermeintlich ‚halbe Revolution‘ von 1918 oder die vermeintlichen ‚Konstruktionsfehler‘ der Weimarer Reichsverfassung. […] Allerorten wich die Begeisterung, mit der so viele Deutsche im Jahr 1918 den Sieg der Demokratie begrüßt hatten, einem Gefühl tiefer Enttäuschung und Verbitterung über die Friedensbedingungen“ (S. 264ff.). Eine realistische Bestandsaufnahme zeige aber, dass „Deutschland keine Wahl (hatte), da eine Weigerung den Fortgang des Krieges mit all seinen furchtbaren Folgen sowie eine alliierte Invasion nach sich gezogen“ hätte (S. 263). Den Zahlungsplan für die Reparationen „hielten deutsche Fachleute […] für durchaus tragbar, wenn sie es öffentlich auch nie zugegeben hätten“ (S. 260). Und was, so der Verfasser, „bis heute gern übersehen werde“ und „in den Diskussionen der Zeitgenossen kaum eine Rolle spielte“, sei „die Tatsache, dass Deutschland in Paris im Grunde viel besser abschnitt als die anderen Mittelmächte“ (S. 267), namentlich Deutsch-Österreich, Ungarn, Bulgarien und die Türkei. Die Gebietsabtretungen schufen zwar große (nicht nur) deutsche Minderheiten im Ausland, womit „der Irredentismus […] fortan ein Problem der europäischen Politik“ wurde, doch seien andererseits die ausgehandelten, in bilateralen Abkommen fixierten Minderheitenrechte, die es beispielsweise der deutschen Regierung erlaubten, im Namen der Sudetendeutschen gegen die tschechoslowakische Regierung Klage zu erheben, „eine der größten Errungenschaften der Friedenskonferenz“ gewesen (S. 278).

 

So gelingt es Robert Gerwarth, die bekannten Fakten zur Geschichte der deutschen Revolution von 1918 und der nachfolgenden Weimarer Republik zum Teil in ein neues Licht zu stellen und ihre Interpretation durch eine stärkere Betonung positiv konnotierter, bisher oft nur am Rande berücksichtigter Aspekte zu bereichern. Daraus ergibt sich zwar keine grundlegende Neubewertung im Gesamten, wohl aber eine Relativierung mancher Einschätzung im Detail. Die in die Erzählung gelegentlich eingestreuten Stimmen zeitgenössischer Akteure und Beobachter – bekannte Persönlichkeiten wie Alfred Döblin, Käthe Kollwitz oder Victor Klemperer, aber auch Romanfiguren und namenlose Zeugen – verleihen der Darstellung einen authentischen und unmittelbaren Charakter. Daran, dass der Verfasser sein Thema souverän beherrscht, kommen nie Zweifel auf. In Anbetracht dieses Umstandes überrascht es doch ein wenig, dass der prominente Generalstabschef der österreichisch-ungarischen Streitkräfte, Franz Conrad von Hötzendorf („Conrad“ ist der Familienname, mit dem Prädikat „von Hötzendorf“ war der Urgroßvater 1815 nobilitiert worden), sowohl im laufenden Text (S. 82) als auch im Namensregister (S. 380) als Konrad (hier wohl fälschlich als Vorname gedacht) von Hötzendorff aufscheint. Sprachlich zeichnet sich die inspirierende, im Wesentlichen die Forschungsliteratur auswertende Studie durch ihre gute Lesbarkeit und einen angenehmen Erzählfluss aus.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic