Eine ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten aus dem Grimmschen Wörterbuch, ausgewählt und hg. v. Graf, Peter, grafisch in Szene gesetzt von 2xGoldstein+Fronczek. Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin 2018. 352 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Mit seinen mehr als 320.000 Stichwörtern und 34.824 Seiten Umfang stellt das 1838 von den Brüdern Jacob Grimm und Wilhelm Grimm initiierte, 1961 mit dem 33. Band abgeschlossene „Deutsche Wörterbuch“ eine einzigartige kulturgeschichtliche Dokumentation dar. Die Bearbeitungszeit von 123 Jahren bringt mit sich, dass dieses Werk über mehrere politische Umbrüche hinweg – von der Zeit des Vormärz und des Deutschen Bundes über das Wilhelminische Kaiserreich, die Weimarer Republik, das Dritte Reich bis hin zur Spaltung Deutschlands in die Bundesrepublik (BRD) und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) – den Wortschatz und damit auch den jeweils zeittypischen Geist konserviert. Einen historisch-kritischen Kommentar zur Erläuterung dieser Bezüge gibt es nicht. Dass damit auch manche antisemitische Gehässigkeit und Beleg-Einträge aus Hitlers „Mein Kampf“ gleichsam neutral und unerklärt in den Korpus des Neuhochdeutschen miteingeschlossen worden sind, lässt sich nach Ansicht des Herausgebers der vorliegenden Auswahl, Peter Graf, „durch nichts entschuldigen und muss geändert werden“ (S. 9). Zweifellos gehören auch die nationalsozialistischen Wortschöpfungen zum deutschen Wortschatz, sodass eine Weglassung nicht in Frage kommt; im Hinblick auf historisch nicht informierte Wörterbuchnutzer sind hingegen ergänzende Erläuterungen ein Gebot der Stunde. Um zu illustrieren, dass das große nationale Unternehmen „Deutsches Wörterbuch“ keineswegs als Vehikel eines radikalen Deutschnationalismus missbraucht werden dürfe, verweist Peter Graf – wohl mit unübersehbarem Bezug zum aktuellen Flüchtlingsdiskurs – auf einen Antrag, den Jacob Grimm 1848 als Abgeordneter der verfassungsgebenden Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche zu den Grundrechten eingebracht hat und in dem es heißt: „Alle Deutschen sind frei, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei“ (S. 8).

 

Wer aus dem Vorstehenden nun den Schluss zieht, das hier zu besprechende Buch verfolge in erster Linie politisch-moralische Zielsetzungen, liegt jedoch falsch. Schon der in freundlichem Blau und Grün gehaltene, durch allerlei Zierrat begleitete Druck signalisiert das Wohlbefinden, zu dem auch der Inhalt dem Leser verhelfen soll. Heute weitgehend unbekannte oder selten gebrauchte Begriffe, mit denen Kapazitäten von Luther bis Goethe, aber auch viele deutsche Mundarten die deutsche Sprache bereichert haben, können uns heute unterhalten und zugleich unser Wissen mehren. Der Herausgeber durchforstet bei seiner höchst persönlichen, „ungemein eigensinnige(n) Auswahl“ das Alphabet von A bis Z, wobei er nur für die Buchstaben X und Y keine „unbekannte(n) Wortschönheiten“ namhaft macht. Zu jedem Buchstaben erfährt man, sozusagen im Originalton des Wörterbuchs, eingangs etwas über seine Phonetik und Sprachgeschichte; beispielsweise liest man beim Z: „die aussprache wird so beschrieben: das, c, wens vorm, e, oder i, steht, und, z, werden mit den öbern zenen vorn an die zungen geschlagen, mit entblössung der zene Ickelsamer teutsche grammatica s. mit dieser geltung ist z als einheitlich empfundener laut innerhalb des germanischen, von entlehnungen abgesehen, auf das hochdeutsche beschränkt.“ (S. 349).

 

Die ausgewählten Lexeme umfassen sowohl Substantive als auch Nomen, Adjektive, Adverbien und Interjektionen; der größere Teil der Begriffe lässt Komposition als dominantes Wortbildungsverfahren erkennen. Manche Wörter wirken vertraut und selbstverständlich (z. B.: kettenumrasselt, Kriegsgedanke, Schlachtenbummler, Stadtabenteuer, Stoßtruppunternehmen, Weltbeglückung …), andere wiederum unbekannt und skurril (z. B.: digen = anflehen; Finanzenfresser = bestechlicher Richter; haudern = wie ein Truthahn schreien; Practicvater = Sterndeuter; rosmückicht = sommersprossig …). Bestimmte Begriffe werden heute mit gewandeltem Sinn weiterhin verwendet; so verzeichnet das Grimmsche Wörterbuch für den „Schlachtenbummler“, worunter heute gemeinhin ein seine Mannschaft zu Wettkämpfen begleitender Sportfan verstanden wird, die folgende Bedeutung: „in den neueren kriegen aufgekommen, besonders seit 1870 für diejenigen gebraucht, die unter dem vorwande der krankenpflege sich nach dem kriegsschauplatze begaben, ihre neugierde zu büszen oder sich der lustigeren seite des quartier- und lagerlebens zu widmen“ (S. 283). Die jeweiligen Beispiele bieten in der Mehrheit eine Definition der Wortbedeutung, eine oder mehrere Belegstellen sowie zusätzliche Hinweise nach folgendem Muster: „KÖTERN: ein nd. Wort, aus und ein oder herum laufen wie köter, hunde (Richey, brem. wb., Danneil, bei letzterm auch von liederlichen dirnen, s. unter köter 6). daher bei H. Heine: hund mit hündischen gedanken kötert er die ganze woche. romanzero 206.“ (S. 181). Ob alle erfassten Begriffe tatsächlich, wie im Titel ausgewiesen, als „Wortschönheiten“ durchgehen und aufgrund welcher Kriterien ein solches Urteil angemessen wäre, sei zur Diskussion gestellt. Anzunehmen ist wohl, dass der Herausgeber mit einem ironischen Schmunzeln zu seiner Wertung gelangt.

 

Diese wenigen Beispiele mögen genügen zu illustrieren, welch intelligentes Unterhaltungspotenzial dieses originelle Büchlein in sich birgt. Es ist durchaus nicht auszuschließen, dass mancher, motiviert durch diese anregende „Bütenlese“, auf die digitale Ausgabe des Grimmschen Wörterbuchs zugreifen und dort in Eigenregie die Jagd auf weitere erlesene Raritäten des deutschen Wortschatzes aufnehmen wird. Über die orthographischen Schwächen der Einleitung (S. 9: „digitalien“, „Antisementismus“ statt richtig „digitalen“, „Antisemitismus“) wird man ob solcher Qualitäten großzügig hinwegsehen dürfen.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic