Die Welt vor 600. Frühe Zivilisationen, hg. v. Gehrke, Hans-Joachim (= Geschichte der Welt 1). Beck, München 2017. 1082 S., 88 Abb., 25 Kart., 7 Taf. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

In einer zunehmend globalisierten Welt ist auch die Geschichtswissenschaft mehr und mehr gefordert, unsere Vergangenheit in einer globalen Perspektive zu untersuchen und dabei neben dem eigenständigen Wert der unterschiedlichen Kulturen vor allem Wechselwirkungen und Beziehungsgefüge angemessen zu berücksichtigen. Eine an diesen Leitlinien ausgerichtete Darstellung der Weltgeschichte muss zwangsläufig einer anderen Struktur folgen als die klassischen Darstellungen dieses Inhalts, die durchweg eine regionale Gliederung aufweisen. Erfreulicher Weise haben sich die Verlage C. H. Beck und Harvard University Press dafür entschieden, solch eine neuartige, bis in die unmittelbare Gegenwart heraufreichende „Geschichte der Welt“ in insgesamt sechs Bänden mit den groben chronologischen Zäsuren 600, 1350, 1750, 1870 und 1945 von ausgewiesenen Fachkennern in zwei parallelen Serien auf Deutsch und Englisch erarbeiten zu lassen. Als Hauptherausgeber konnten mit Akira Iriye (Harvard University) und Jürgen Osterhammel (Universität Konstanz) zwei herausragende Vertreter der Globalgeschichte gewonnen werden, die neben ihrer Tätigkeit als Editoren einzelner Bände (Iriye für Band 6: „1945 bis heute. Die globalisierte Welt“; Osterhammel gemeinsam mit Sebastian Conrad für Band 4: „1750 – 1870. Wege zur modernen Welt“) auch für das Grundkonzept der gesamten Reihe verantwortlich zeichnen. In Zusammenarbeit mit den Genannten oblag es den jeweiligen Bandherausgebern, eigenverantwortlich für ihre Bände geeignete Profile zu erarbeiten und diese in den Einleitungen darzulegen. In der Darstellung wurden, wo möglich, große Panoramen oder zumindest eine Gliederung nach Großräumen unter Herausarbeitung der Vernetzungen bevorzugt, denn es sei ein Problem gewesen, „Autorinnen und Autoren zu finden, die bereit waren, ein systematisches Thema rund um den Globus in einem einzigen Kapitel zu behandeln“. Solch „integrative Bereichsgeschichten“ hätten sich daher vorerst nur für die späte Neuzeit (Bände 4, 5, 6) realisieren lassen. „Niemand traut sich hingegen zu (um ein Beispiel aus dem ‚Frühmittelalter‘ zu wählen), mit der nötigen wissenschaftlichen Verantwortlichkeit in einem einzigen simultanen Rundgang um den Globus über Tang-China, das Abbasiden-Kalifat, Byzanz, die Karolinger und die späte Maya-Zivilisation zu schreiben“ (S. 1038).

 

Es stellt sich daher die Frage, wie der Herausgeber des vorliegenden ersten Bandes, der Emeritus für Alte Geschichte der Universität Freiburg im Breisgau, Hans-Joachim Gehrke, und sein prominentes Autorenteam mit dieser Herausforderung umgehen. Ein erster Blick auf das Inhaltsverzeichnis lässt zunächst einen überraschend konventionellen Aufbau erkennen. Der Zeitraum von vor etwa 2,7 Millionen Jahren mit den ältesten von Menschen produzierten Gerätschaften bis zur Epochenwende von der Spätantike zum Frühmittelalter um 600 wird in folgenden fünf Kapiteln bearbeitet: „Vor- und Frühgeschichte“ (Hermann Parzinger, Freie Universität Berlin), „Die frühen Hochkulturen Ägyptens und Vorderasiens“ (Karen Radner, Universität München und University College London), „Die Welt der klassischen Antike“ (Hans-Joachim Gehrke), „Das Alte China“ (Mark Edward Lewis, Stanford University) und „Südasien und Südostasien“ (Axel Michaels, Universität Heidelberg). Bei der Detailgliederung des von Karen Radner bearbeiteten Abschnitts fällt jedoch ins Auge, dass die Überschriften ihrer Subkapitel keine einzige der damals nachgewiesenen – und sonst meist zur Strukturierung eingesetzten – Ethnien namentlich erwähnen, sondern stattdessen versuchen, für die einzelnen Entwicklungsstufen der Bronzezeit und die frühe Eisenzeit kulturelle Charakteristika namhaft zu machen, z. B.: „2. Alle schreiben: Bürokraten, Literaten und Fernhandelsfirmen (Mittelbronzezeit)“.

 

Da sich das Werk als ein höchst umfangreiches Kompendium der Kulturen der Alten Geschichte auf dem aktuellen Stand der Forschung liest, seien hier nur einige wenige Charakteristika angezeigt. Den gezielten Zugriff auf die Inhalte gewährleisten je ein Personenregister, ein Ortsregister und ein Sachregister, wobei vor allem das letztgenannte wertvolle Dienste leistet. Zum Thema „Rechtswesen“ finden sich gezählte vierzig Seitenverweise, mehrere davon nehmen Bezug auf Passagen, die über den Umfang einer Seite hinausreichen. Wer nach „Gesetze(n)“ sucht, wird zum (nicht weiter differenzierten) „Rechtswesen“ umgeleitet, ein eigenes Stichwort „Gerichte“ existiert nicht. Auf die Seitenverweise ist dabei nicht zu hundert Prozent Verlass, denn „Rechtswesen“ verzeichnet beispielsweise in unmittelbarer Folge die Verweise S. 465f. (Gesetzgebung Drakons und Solons), 471 (Auslosung der „vor allem mit der Organisation der Rechtsprechung betrauten Archonten“) sowie 489 (Römische Zwölftafelgesetze). Vertraut man auf die Lückenlosigkeit dieser Angaben, würde man etwa die folgenden wichtigen Informationen zu den Volksgerichten der athenischen Demokratie – zweifellos die zentrale Institution der Rechtspflege jener Zeit – gar nicht finden: „Die neue Ordnung [des Perikles; W. A.] kann ohne weiteres als radikale Variante der Demokratie gelten, und man kann sie zu den Formen rechnen, die Aristoteles als ‚letzte (also in unserem Sinne: extreme) Demokratie‘ klassifizierte. Dabei kamen zwei Komponenten zusammen: Die Kontrolle der Beamten und die Normenkontrolle, d. h. die juristische Überprüfung der Konformität von Volksbeschlüssen mit den bestehenden Gesetzen, wurden in die Hand demokratischer Gremien, des Rats der 500 sowie der Volksgerichte gelegt. […] Zu diesem Politischen gehörte aber auch ganz entschieden – und das ist für diejenigen schwer nachvollziehbar, die mit der Gewaltenteilung moderner Verfassungsstaaten vertraut sind – das Gerichtswesen. Viele eigentlich politische Gegenstände konnten […] vor dem Volksgericht ausgetragen werden. […] Diese Gerichtshöfe umfassten jeweils mehrere hundert (bis maximal 1500) Personen, die nach den Plädoyers von Klägern und Beklagten nebst jeweiligen Unterstützern in geheimer Abstimmung ohne Debatte entschieden – auch in Verfahren über Leben und Tod und über die Gesetzmäßigkeit von öffentlichen Beschlüssen. Die Richter repräsentierten in ihrem Handeln das gesamte Volk, das sich jetzt auch gleichsam durch sie selber kontrollierte. […] Aber besonders spürbar war das Gewicht der Demokratie in den täglichen Entscheidungen der Volksgerichte, in ganz alltäglichen wie in hochpolitischen und religiösen Angelegenheiten. Jeder konnte in diesem Rahmen aktiv werden oder vor den Kadi gezerrt werden, als Kläger oder Beklagter […]. Und jeder hatte seine Sache persönlich zu vertreten, in einem eigenen Plädoyer, dessen rhetorische Wucht nicht selten bedeutsamer war als die Finessen der Beweisführung oder gar der juristischen Argumentation. Sich vor den Schranken des Gerichts durchzusetzen war oft buchstäblich lebenswichtig“ (S. 472ff.). Darüber hinaus erfassen Lemmata wie „Herrschaft“ mit der Untergruppe „Legitimierung von Herrschaft“, „Staatlichkeit, Staatswesen“, „Verwaltung, Verwaltungsstrukturen“, aber auch „Eigentum“, „Familie, Familienverband“, „Geld, Münzwesen“, „Patronage“ oder „Steuern“, gesellschaftliche Realitäten, die sukzessive der rechtlichen Reglementierung unterworfen worden sind, aber hier nicht mit dem Stichwort „Rechtswesen“ vernetzt wurden. Die „Edikte des Kaisers Ashoka“ bilden einen separaten Sachverweis und beziehen sich auf die berühmten, ethische Gebote reklamierenden Inschriften dieses indischen Maurya-Herrschers (um 269 – 232 v. Chr.). Darin würden aber „(n)irgendwo konkrete Straftaten wie Mord, Diebstahl, Ehebruch oder Alkoholmissbrauch genannt, sodass man nicht von öffentlich bekannt gemachten Gesetzen sprechen kann“ (S. 847).

 

Eine erwähnenswerte Qualität des vorliegenden Bandes besteht in seiner Übung, dort, wo sich in wesentlichen Fragen (noch) kein eindeutiges Wissen herauskristallisiert hat, die relevanten Theorien anzuführen und in Bezug auf ihre jeweilige Plausibilität zu diskutieren. So wird zum lange vorherrschenden Bild der Herkunft, ethnischen Identität und Einwanderung der Indoarier im 2. Jahrtausend v. Chr. (angeblich geistig und technisch überlegene Nomaden aus dem Vorderen Orient oder Zentralasien dringen in Indien ein und verdrängen die bestehenden Kulturen) festgestellt, dass „ein solches Szenario in dieser Form nicht haltbar und mit vielen Fragezeichen zu versehen“ sei (S. 791), in weiterer Folge die Forschungsgeschichte dargestellt und nach Prüfung der gängigen Thesen der Schluss gezogen: „Schon in den Anfängen der indischen Geschichte ist die Situation in hohem Maße verflochten, um nicht zu sagen: verworren – und zwar durch transkulturelle Prozesse, Kontinuitäten und Mischungen der autochthonen Kulturen mit Prestige- oder dominanten Kulturen, parallelen pastoralen oder urbanen Kulturen und kleinteiligen Migrationen zwischen diesen Kulturen. Aber auch durch weitflächige Wanderungen von Menschen, Sprachen, Ideen und Objekten“ (S. 803). An anderer Stelle geht es um die Ausbildung unterschiedlicher Formen von Staatlichkeit in Südasien, die sich in der Formulierung „vier indienhistorische(r) Theorien“ niedergeschlagen habe. Man unterscheide „eine feudalistische Theorie, die Theorie des segmentären Staates, das Modell der prozessualen Integration und das Konzept der ‚Little Kingdoms‘“. Letzteres bringe „das diffizile Gefüge lokaler und regionalstaatlicher Machtverhältnisse im Spannungsfeld von Integration und Separation in ein Modell“, das, anders als die drei vorher erwähnten Hypothesen, „vermeide( ), dass Religion (Ritual) und Politik […] auseinanderfallen oder Religion bloß als Mittel zur Machterhaltung reduziert wird“. Es sei „(d)as Verhältnis von ‚kleinen‘ zu ‚großen‘ Königen also dadurch bestimmt, dass die kleinen Könige von der höheren rituellen Autorität der ‚großen‘ Könige profitieren und sich so zusätzlich zu ihrer direkten Macht, unter anderem ausgedrückt in Landbesitz, Abgaben und höherer Gerichtsbarkeit, legitimieren“ (S. 893f.). Was die starke Ausbreitung des Buddhismus in Indien, Ostasien und im Himalaya angeht, wird Max Weber berichtigt, der „im frühen Buddhismus überwiegend eine individualistische Erlösungslehre in einem losen mönchischen Verband“ ohne Potential, „das Bedürfnis der Bevölkerung nach Massenreligiosität“ zu befriedigen, gesehen habe, und damit „grundlegend den Charakter des frühen Buddhismus (verkennt)“. Zur Untermauerung der Gegenposition wird eine ganze Reihe überzeugender Faktoren – vom kontaktfördernden Predigt- und Bettelgebot bis hin zum attraktiven, Macht legitimierenden Konzept des Universalherrschers – für seine „geradezu zwangsläufige Ausbreitung“ namhaft gemacht (S. 898f.).

 

Die zahlreichen Karten, die den Text begleiten, gewährleisten die Orientierung auch in Regionen, deren genaue Kenntnis nicht ohne weiteres vorauszusetzen ist, während die sieben Zeittafeln (Paläolithikum in Europa; Alte Welt zwischen 9600 und 2200 v. Chr; Mitteleuropa zwischen Bronzezeit und Ende der Römerzeit; Herrscher Ägyptens und Vorderasiens; Klassische Antike; Altes China von 1600 v. Chr. bis 600 n. Chr.; Südasien und Südostasien bis ins 6. Jahrhundert n. Chr.) chronologische, kulturelle und räumliche Vernetzungen herstellen. So gelingt im Zusammenwirken mit dem laufenden Text tatsächlich weitgehend, was Herausgeber Hans-Joachim Gehrke in seinem Leitkapitel „Antike Weltgeschichte als Problem“ ankündigt, nämlich „kulturelle( ) Komplexe [zu] konstatieren und [zu] beschreiben, die eine […] nicht bestreitbare Wirkung auf die Formierung der späteren Welt gehabt haben und noch heute haben“ und zugleich „die Vorstellungen einer ‚Welt‘ […] hervorgebracht“ haben (S. 19).

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic