Das Reichsarbeitsministerium im Nationalsozialismus – Verwaltung – Politik – Verbrechen, hg. von Alexander Nützenadel, Wallstein, Göttingen 2017, 592 S.
Mit dem vorliegenden Übersichtsband präsentiert die Unabhängige Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Reichsarbeitsministeriums (RAM) im Nationalsozialismus erste Forschungsergebnisse in Einzeldarstellungen. Der Band ist der „Auftakt einer auf mehrere Bände angelegten Reihe von Monografien, mit der die Geschichte des Ministeriums und seine Handlungsfälle im ‚Dritten Reich‘ untersucht wird“ (S. 9). Sprecher der Historikerkommission und Herausgeber des Bandes ist der an der Humboldt-Universität in Berlin lehrende Sozial- und Wirtschaftshistoriker Alexander Nützenadel. Die der Kommission angehörenden Mitglieder lehren zur Hälfte an ausländischen Universitäten, womit berücksichtigt wird, dass die „NS-Forschung seit langem keine deutsche Domäne mehr“ ist, sondern sie „inzwischen überwiegend an nichtdeutschen Universitäten und Forschungseinrichtungen“ stattfindet (S. 8). In seiner Einleitung (S. 11ff.) stellt Nützenadel heraus, dass die Arbeits- und Sozialpolitik im „ideologischen Selbstverständnis der NSDAP eine herausragende Rolle“ gespielt habe und dass die von außen wahrgenommene Schwäche des Reichsarbeitsministers Seldte, der nicht aus der NSDAP kam – er war bis 1933 Führer des Stahlhelms –, sich am Ende angesichts der sehr qualifizierten Mitarbeiter „als relative Stärke“ erwies (S. 21). Wichtig ist der Hinweis Nützenadels, dass sich die „Machtstellung und Funktionsweise des Reichsarbeitsministeriums“ nur dann „angemessen verstehen“ lassen, „wenn die alltägliche Verwaltungspraxis der Beamten in den Blick genommen wird“ (S. 17), was in den einzelnen Beiträgen geschieht.
Im ersten Abschnitt „Behördenstruktur, Personal und institutionelle Konflikte“ behandelt Ulrike Schulz (Leiterin der Forschungsgruppe) in ihrem Beitrag über das Reichsarbeitsministerium von 1919 bis 1945 dessen „Organisation, Führungspersonal und politische Handlungsspielräume“ (S. 33-102) unter drei Aspekten: der Geschichte des Ministeriums seit seiner Gründung im Jahre 1919, der Rollen und Aufgaben der Politiker, politischen Beamten und ständig angestellten Mitarbeiter im Ministerium sowie der Einflüsse, die von außen auf das Ministerium zwischen 1933 und 1945 einwirkten. Der Minister, die Staatssekretäre und wichtige Ministerialbeamte werden – wie auch in den folgenden Beiträgen – separat herausgestellt. Es folgt unter Einbeziehung insbesondere der Versorgungsbehörden der Beitrag Lisa-Maria Röhlings über die Ausbildung, Karrieren und Laufbahnstrukturen der mittleren Beamtenschaft (S. 103-136). Das Verhältnis des Reichsarbeitsministeriums zur einflussreichen und expansiven Deutschen Arbeiterfront (DAF) unter Ley bezeichnet Rüdiger Hachtmann als „Dauerkonflikt und informelle Kooperation“ (S. 137-173). Der „Schein eines grundsätzlicheren Gegensatzes zwischen beiden Seiten“ trüge jedoch; ein genauerer Blick zeige, „dass beide Seiten inhaltlich weitgehend die gleichen Ziele verfolgten“ (S. 173). Als Aufgabenfelder der Deutschen Arbeitsfront erörtert Hachtmann die Frauenerwerbsarbeit, den sozialen Wohnungsbau und die unumstrittene Rechtsberatung der Deutschen Arbeitsfront.
Der Abschnitt über die „politischen Handlungsfelder“ des Reichsarbeitsministeriums (S. 177ff.) umfasst vier Beiträge. Führer (Hochschullehrer in Hamburg) stellt die wohnungsbaupolitischen Konzepte des Reichsarbeitsministeriums heraus, das bereits in der Weimarer Zeit für den Wohnungsbau zuständig war (S. 177-189), und kommt zu dem Ergebnis, dass der schonunter dem Zentrum 1930 gefasste Plan, die Wohnungswirtschaft bis 1936 „umfassend und systematisch zu liberalisieren“, auf der „ganzen Linie“ scheiterte (S. 211, 197ff.). Dasselbe gilt für die Pläne, die „vorstädtische Kleinsiedlung“ zu fördern. Das Scheitern eines erweiterten Wohnungsbaus lag nicht zuletzt daran, dass das nationalsozialistische Regime die Kapazitäten der Bauwirtschaft für sich in Anspruch nahm (S. 204). Hinzu kam die Rivalität mit den Siedlungsplänen der Deutschen Arbeitsfront, deren „Führer“ Ley Hitler 1942 zum Reichswohnungskommissar ernannte (S. 209). Zu eventuellen Verbindungslinien zwischen den Konzepten und der Praxis des alten Reichsarbeitsministeriums und der „Politik des in der Bundesrepublik 1949 neu gegründeten Ministeriums für Wohnungsbau“ fehlen „Spezialstudien“ (S. 212), und zwar auch hinsichtlich möglicher personeller Kontinuitäten. Hingewiesen sei darauf, dass das Reichsarbeitsministerium auch für das Baurecht zuständig war, dessen Abteilung IV 1940-1942 Entwürfe zu einem Reichsbaugesetz bzw. einem Deutschen Baugesetzbuch vorlegte, welch letzterer für die Nachkriegszeit bedeutsam wurde (hierzu W. Schubert [Hrsg.], Quellen zum Bau- und Enteignungsrecht [1940-1958], 2016, S. 3ff., S. 53ff.).
Alexander Klimo befasst sich in seinem Beitrag mit der „Rentenversicherungspolitik zwischen Arbeitseinsatz und Diskriminierung“ (S. 214-245). Das „Instrument des Arbeitseinsatzes“ führte das Zusammenwirken des Ministeriums „mit seinen nachgeordneten Behörden und den Reichsversicherungsträgern“ zu einer „Durchdringung der Rentenversicherung mit nationalsozialistischen Zielsetzungen sowie einer auf die Bedürfnisse des Krieges abgestellten Sozialversicherungspolitik“ (S. 245). Insbesondere ging es dabei im Zeichen des zunehmenden Mangels an Arbeitskräften um eine Zurückdrängung der Invalidität. Ein weiterer Abschnitt befasst sich mit der Diskriminierung und Entrechtung jüdischer Versicherter (S. 235ff.). Im Beitrag Sören Edens über das Arbeitsrecht im NS-Staat (S. 246-281) stehen im Mittelpunkt die Arbeitsvertragsbrüche, die 1941 ausdrücklich kriminalisiert wurden (S. 277f.; hierzu das im Eingang des Beitrags herausgestellte Urteil von 1943 gegen eine Berliner Hausgehilfin) und über die Handlungsspielräume der Treuhänder der Arbeit. Leiter der arbeitsrechtlichen und sozialpolitischen Abteilung des Reichsarbeitsministeriums war bis 1942 Werner Mansfeld (hierzu die Kurzbiografie S. 259); über diesen fehlt immer noch eine detaillierte Biografie, die auch die Nachkriegszeit einbeziehen müsste (vgl. auch die Nachweise im Register S. 578). Die „Arbeitsverwaltung und Organisation der Kriegswirtschaft“ (S. 282-312) ist Gegenstand des Beitrags von Henry Marx (Stipendiat und Mitarbeiter der Historikerkommission). Hierbei geht es insbesondere um den Aufbau der Arbeitsverwaltung (bis hinunter zu den Arbeitsämtern), deren Einbeziehung in den Vier-Jahres-Plan und die Organisation der Kriegswirtschaft nach Eingliederung der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in das Reichsarbeitsministerium 1938. Als konkretes Beispiel schildert Marx eine fehlgeschlagene Arbeitskräftelenkung (Reichsausgleich).
Der Abschnitt: „Expansion, Krieg und Verbrechen“ (S. 317ff.) wird eingeleitet mit dem Beitrag von Kiran Klaus Patel und Sandrine Kott über „Sozialpolitik zwischen Auslandspropaganda und imperialen Ambitionen“ (S. 317ff.). Es folgt der Beitrag Elizabeth Harveys (Historikerin an der Universität Nottingham) über die „Arbeitsverwaltung und Arbeitskräfterekrutierung im besetzten Europa. Belgien und das Generalgouvernement“ (S. 348-386), in dem Harvey auf das „ ‚rassistische Gefälle‘ zwischen Ost und West“ hinweist, „das auch in der Arbeitskräftepolitik bis zum Ende des 2. Weltkriegs zu beobachten war“ (S. 386). Swantje Greve (Doktorandin und Stipendiatin) beschäftigt sich mit der Dienststelle des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz (GBA) unter Fritz Sauckel (ab März 1942), die weitgehend aus den zur Verfügung gestellten Hauptabteilungen III und V des Reichsarbeitsministeriums bestand. Die Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen des Reichsarbeitsministeriums und dem Stamm des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz verlief weitgehend „reibungsfrei“ (S. 422). Ein eigener Abschnitt behandelt die Arbeitspolitik des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz in der besetzten Ukraine (S. 412ff.). Letztlich führte die „in Berlin in die Wege geleitete Verwaltungsarbeit letztlich zu einer Spirale der Gewalt, die die Hoffnung der ukrainischen Bevölkerung auf ein normales Leben zunichtemachte“ (S. 422). Michael Wildt (Historiker an der Humboldt-Universität) befasst sich mit den Ghettos der besetzten Ostgebiete (Warthegau, Generalgouvernement und besetzte sowjetische Gebiete). Hinsichtlich der „Unterstellungsverhältnisse“ hatte zwar das Reichsarbeitsministerium keine Weisungsbefugnisse; jedoch waren „die personellen Verknüpfungen – und damit auch die administrative Erfahrung und Kontinuität bürokratischer Verwaltungspraxis – mit der reichsdeutschen Arbeitsverwaltung eng“ (S. 453). In einem Epilog geht Wildt noch ein auf die verschlungene Geschichte der „Ghetto-Renten“ für die Zeit ab 1990/1991 (S. 254ff.).
Im vierten und letzten Abschnitt: „Das Ministerium nach 1945“ handelt zunächst der Beitrag Kim Christian Priemels über das Reichsarbeitsministerium und die Nürnberger Prozesse 1945-1949 (S. 461-493). Die fünf „potentiellen Angeklagten“ aus dem Reichsarbeitsministerium avancierten „zu sachverständigen Zeugen, auf deren Expertenwissen in der Prozessvorbereitung gegen die Industriellen aus Privat- und Staatswirtschaft, aber auch gegen Wehrmacht- und SS-Angehörige immer wieder zurückgegriffen wurde“ (S. 490). Martin Münzel stellt in seinem Beitrag: „Neubeginn und Kontinuitäten. Das Spitzenpersonal der zentralen deutschen Arbeitsbehörden 1945-1960“ (S. 493-550) fest, dass das Bundesarbeitsministerium „zumindest“ an seiner Spitze zu den am stärksten mit ehemaligen NSDAP-Mitgliedern durchsetzten Bundesministerien gehörte (S. 549). Dies lasse jedoch „keine vereinfachenden Rückschlüsse auf die inhaltliche Ausgestaltung der Ministeriumspolitik sowie die arbeits- und sozialpolitischen Initiativen des Arbeitsressorts ab 1949 zu“ (S. 549). Die „demokratischen Spielregeln“ seien „von Vielen wenigstens hingenommen, wenn nicht akzeptiert worden“ (S. 549f.). Erhebliche Schwierigkeiten einer Integration hatten allerdings die Beamten, die mit dem Amt Sauckel in Verbindung standen (S. 532ff. zum Fall Walter Strothfang). Das Werk wird abgeschlossen mit Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren sowie einem hinreichend detaillierten Register.
Mit dem von Nützenadel herausgegebenen Werk liegen wichtige Bausteine zu einer umfassenden Geschichte des Reichsarbeitsministeriums vor, die noch stärker auf die sozialversicherungsrechtlichen Reformen und Pläne des Reichsarbeitsministeriums sowie zu den nationalsozialistischen Plänen zu einer Umgestaltung der Sozialversicherung (vgl. hierzu u. a. den Plan der Deutschen Arbeitsfront bzw. des Arbeitswissenschaftlichen Instituts der Deutschen Arbeitsfront zu einem Versorgungswerk des deutschen Volkes von 1940/1941) eingehen sollte. Hinzu kommen noch die Richtungsänderung im Arbeitsrecht und die Ausweitung der Sozialversicherung (u. a. auf das Handwerk 1938; zu allem vgl. auch die Quellen bei W. Schubert [Hrsg.], Akademie für Deutsches Recht 1933-1945. Ausschuss für die Reform der Sozialversicherung/für Sozialversicherung (1934-1944), Versorgungswerk und Gesundheitswerk des Deutschen Volkes [1940-1942], 2000). Das Werk verdeutlicht, dass auch das Reichsarbeitsministerium in die verbrecherische Politik des Nationalsozialismus stärker verwickelt war als bisher angenommen. Es ist zu wünschen, dass die im Vorwort angekündigten weiteren Bände zur Geschichte des Reichsarbeitsministeriums in Nationalsozialismus möglichst zeitnah erscheinen.
Kiel |
Werner Schubert |