Clark, Christopher, Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten, aus dem Englischen v. Juraschitz, Norbert. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2018. 313 S., 12 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Spätestens seit dem durchschlagenden Erfolg seiner die Dynamiken um den Ausbruch des Ersten Weltkriegs neu interpretierenden „Schlafwandler“ (2013) ist der 1960 in Australien geborene, als Professor am St. Catherine’s College in Cambridge Neuere Europäische Geschichte lehrende Christopher Clark in den Medien immer wieder ein gern gesehener Gast, unter anderem als Präsentator eines populärwissenschaftlichen Mehrteilers zur deutschen Geschichte oder zuletzt als eloquenter Erklärer des Antisemitismus. Sein jüngstes Buch greift auf Inhalte seiner 2015 an der Princeton University gehaltenen Vorlesungen zurück und widmet sich der ihm durch eigene frühere Publikationen bereits wohlvertrauten Geschichte Preußens, die mit dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg Fahrt aufnimmt, unter Friedrich II. von räumlicher Expansion gekennzeichnet ist, in der Ära Bismarck im Kaiserreich der Hohenzollern ihren Höhepunkt erreicht und schließlich mit der Niederlage des Nationalsozialismus ihr Ende findet. Umrissen ist damit der zeitliche, örtliche und sachliche Rahmen, den die Darstellung ausfüllt, innovativ aber sind die Fragen, die der Verfasser aufwirft und zu beantworten sucht.

 

Christopher Clarks Thema ist die These, dass sich spezifische Strukturen der Macht in jeweils eigenen, beobachtbaren Formen der Geschichtlichkeit ausdrücken. Geschichtlichkeit oder Historizität meint dabei im Sinne François Hartogs „eine Reihe von Annahmen zum Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“, die in verschiedener Form zutage treten und durch „die Konstitution temporaler Modalitäten und die Selektion dessen (bestimmt werden), was in ihnen relevant ist“. Die Konfiguration dieser Beziehung vermittle „wiederum ein bestimmtes Zeitgefühl, das eine intuitiv erfasste Form oder Beschaffenheit der Zeit, eine ‚Zeitlandschaft‘ besitzt. Wie diese aussieht, hängt davon ab, welche Teile der Vergangenheit als nahe und eng mit der Gegenwart verbunden empfunden und welche als fremd und fern wahrgenommen werden“ (S. 9). Dem Begriff der Historizität nahe stehend, verstehe sich Zeitlichkeit oder Temporalität als „das intuitive Gespür eines politischen Akteurs für die Struktur der erlebten Zeit“ oder auch als „das Empfinden des Fortgangs der Zeit“. Eine Reihe prominenter Vordenker wie Henri Bergson, Émile Durkheim, Maurice Halbwachs und Martin Heidegger hätten die Vielfalt zeitlicher Ordnungen offengelegt, Historiker der französischen Schule der Annales „die Geschichte verzeitlicht“, Reinhart Koselleck „die Zeitlichkeit historisiert“ (S. 14). Vielfach stand der Übergang von vormodernen zu modernen zeitlichen Ordnungen im Fokus der Betrachtung, wobei die Modernisierungstheorie vor allem Termini wie Beschleunigung, Ausdehnung, Verengung, Kompression, Distanzierung, Spaltung, Zersplitterung, Entleerung, Vernichtung, Intensivierung oder Verflüssigung bemüht habe. Es sei daher „heutzutage allgemein bekannt, dass Zeit keine neutrale, universelle Substanz ist, in deren Leere sich etwas, das ‚Geschichte‘ genannt wird, abspielt, sondern ein bedingtes, kulturelles Konstrukt, dessen Form, Struktur und Konsistenz vielfach variierten“ (S. 12). Während sich die überwiegende Zahl der Zeitlichkeitsstudien immer noch mit Veränderungsprozessen ohne Akteur befasst, widmet sich Christopher Clark aus einem chronopolitischen Interesse „intensiv […] den spezifischen zeitlichen Gefügen und Texturen“ der von ihm untersuchten vier Regime: „Während der gesamten Zeitspanne, die in diesem Buch behandelt wird, wurde das politische Leben von einer Pluralität nebeneinander existierender zeitlicher Ordnungen strukturiert. Doch die Zeitlichkeit der politischen Macht, wie sie von den einflussreichsten Akteuren ausgeübt wurde, behielt und behält eine besondere Bedeutung. Sie war der Ort, wo die politischen Begründungen der Macht als Ansprüche an die Vergangenheit und Erwartungen an die Zukunft Ausdruck fanden“ (S. 24f.).

 

Nach einer Einführung in die Thematik der Erforschung der Zeitlichkeit bespricht der Verfasser unter der Überschrift „Die Geschichtsmaschine“ als erstes der untersuchten vier Zeitregime jenes von einer zukunftsorientierten Dynamik gekennzeichnete des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm im 17. Jahrhundert. Die Wahrnehmung, dass sich der monarchische Staat „an der Schwelle zwischen einer katastrophalen Vergangenheit [gemeint ist der Dreißigjährige Krieg; W. A.] und einer Zukunft voller Gefahren befand“ (S. 31), habe den calvinistischen Fürsten veranlasst, im Abgabenkonflikt mit dem überwiegend lutherischen landständischen Adel sukzessive dessen aus der Vergangenheit rührende und sich darauf berufende Privilegien zurückzudrängen, indem er sich auf zukünftige Notlagen berief, deren anfangs außerordentlichen Charakter er nach und nach in einen dauerhaften Normalzustand wandelte. In dem Juristen, Naturrechtsphilosophen, Völkerrechtslehrer und Historiker Samuel Pufendorf habe Friedrich Wilhelm nicht nur einen genialen Theoretiker gefunden, der den Ausbau der kurfürstlichen Macht philosophisch zu rechtfertigen wusste, sondern auch einen Geschichtsschreiber, der das Wirken des Großen Kurfürsten und seiner Exekutive in einem Narrativ festhielt, das die zukunftsorientierte Dynamik der Herrschaft – sozusagen das unaufhaltsame Fortschreiten der „Geschichtsmaschine“ – durch die genau recherchierte, prozessorientierte Aufzeichnung der jeweiligen politischen und militärischen Optionen und des aus dieser Auswahl an Möglichkeiten jeweils abgeleiteten konkreten Entschlusses zum Ausdruck bringt.

 

Ganz anders sei die Geschichtlichkeit seines Nachfahren Friedrich II. ein Jahrhundert später beschaffen gewesen, des „Historiker-König(s)“, als welchen ihn Christopher Clark in gewollter Analogie und bewusster Abgrenzung zum gängigen Attribut des Philosophen-Königs vorstellt. Friedrich sei „als Historiker weit einflussreicher denn als Philosoph“ gewesen (S. 89); ausweislich seiner in französischer Sprache verfassten Schriften „hielt [er] den Staat für eine zeitlose, logische Notwendigkeit – die historischen Rahmenbedingungen, unter denen er seine heutige Form erlangt hatte, interessierten ihn nicht“, die Vergangenheit pries er „als Magazin herausragender Beispiele, die einen Bezug zu seinen eigenen Errungenschaften hatten und dort ihren Nachhall fanden, der Rest war Schall und Rauch“. Als König unantastbarer Mittelpunkt, pflegte er trotz seiner sprichwörtlichen Bescheidenheit einen ganz aristokratischen Lebensstil und wähnte sich in enger geistiger Verbindung mit der klassischen Antike. Dem korrespondierte eine „Gesellschaftspolitik des Stillstands und der Bewahrung“, in welcher der unter dem großen Kurfürsten noch störrische, nun ökonomisch gefährdete Landadel längst „als unverzichtbares gesellschaftliches Rückgrat des friderizianischen Militärstaats“ seinen wohl gehüteten Platz hatte (S. 127). Künstlerisch sei diese Aufhebung der Zeit besonders in den Gemälden Antoine Watteaus präsent, für die der König nicht zufällig eine Vorliebe hegte, in anderer Weise in der Form der Bestattung, die er für sich vorsah, und in den Anekdoten, die man bald über ihn erzählte und die „einzigartige, in der Zeit schwebende Augenblicke (boten), die sich der Einbindung in das Narrativ der Geschichte widersetzten“ (S. 126). Friedrich „erlebte während seiner Herrschaft gewaltige geopolitische Veränderungen – und trug selbst maßgeblich dazu bei –, doch sein Zeitempfinden tendierte zu einer ästhetisierten Stasis“, war „erstaunlich rekursiv und nicht linear“ (S. 87).

 

Im 19. Jahrhundert trieb Otto von Bismarck, den „Steuermann im Strom der Zeit“, wiederum ein ganz anderes Verständnis von Geschichtlichkeit um. Um dessen Zeitregime zu charakterisieren, bemüht Christopher Clark, ausgehend von einer zeitgenössischen Karikatur, die Kunst des Schachspiels: „Das Schachspiel war sowohl ständig im Fluss als auch zusammengesetzt aus einer langen Kette separater Entscheidungsmomente, bei denen sich jedes Mal der Lauf einer ganzen Partie wenden konnte – ein Merkmal des Spiels, das in der Studie von ‚Problemen‘ eingefangen wird“ (S. 141). Bismarck hat die Schachanalogie in seinen Schriften selbst gerne verwendet. Seine Denkweise „war ihrem Wesen nach insofern ‚genetisch‘, als sie das Augenmerk auf das ‚geschichtliche Werden als eine fortlaufende Reihe‘ richtete, ‚die prinzipiell ohne Unterbrechung in ihrer ständigen Veränderung verfolgt wird‘. […] Diese historische Denkweise hinterließ ihre Spuren in Bismarcks Praxis als Politiker. […] Er erkannte […], dass neue Kräfte auf die politische Bühne getreten waren, deren Wechselwirkung angesichts einer unbekannten und unbegreiflichen Zukunft behutsam gesteuert werden musste. […] Aber selbst wenn sich die Kräfte nicht steuern oder kontrollieren ließen, konnte man sie im Gleichgewicht halten oder gegeneinander ausspielen“ (S. 156). Mit diesem Konzept war dem Reichskanzler bekanntlich in der Außenpolitik großer, in der Innenpolitik bescheidenerer Erfolg beschieden. „Mit der Behauptung, Geschichte entwickle sich in unvorhersehbaren und fließenden Augenblicken, warb Bismarck für seine Dominanz als überaus geschickter Entscheidungsträger“ (S. 232). Die von ihm als dauerhaft und unveränderlich angenommene Macht und Autonomie des monarchischen Staats Preußen blieb in diesem Fluss der ruhende Pol, weshalb Otto von Bismarck im Konfliktfall die Verfassung zugunsten der monarchischen Prärogative zurückzustellen bereit gewesen sei. Aus diesem Staatsverständnis heraus sei die Krise des Historismus und die politische Krise, die Deutschland nach dem Zusammenbruch der Hohenzollernmonarchie erfasst habe, zu einem guten Teil erklärbar. Mircea Eliade habe von speziellen „Bedingungen“ gesprochen, „unter denen sich Menschen gegen den Albtraum geschichtlicher Ereignisse auflehnen mögen und außerhalb der Grenzen der ‚profanen Zeit‘ Zuflucht suchen“ (S. 187).

 

Im deutschen Fall habe die Revolte in den Nationalsozialismus geführt, der sich „überhaupt nicht im Entwicklungs- und Fortschrittsnarrativ der ‚Geschichte‘ (verankerte), sondern in der nichtlinearen Zeit des völkischen Daseins“, eine Flucht, die „seinem apokalyptischen Projekt einer rassischen Selbstverwirklichung Kohärenz verlieh“ (S. 231f.). Das nationalsozialistische Selbstverständnis eines radikalen zeitlichen Bruchs veranschaulicht der Verfasser am Arrangement der ab 1933 eröffneten NS-Revolutionsmuseen in Abgrenzung zum italienischen Faschismus und dem sowjetischen Bolschewismus, für die im Gegensatz zum nationalsozialistischen Zeitregime Geschichte „immer noch als treibender Motor des Fortschritts wahrgenommen wurde“ (S. 206). Hitler habe sich in der Formulierung seiner ultimativen politischen Ziele stets an Endzuständen orientiert, an „Fluchtpunkten, an denen man davon ausgehen konnte, dass sich sämtliche Anforderungen der Gegenwart von selbst aufgelöst hätten“ (S. 220). Es sei gerade diese ahistorische Zeitlandschaft gewesen, „die wiederum dem ‚Sinn und Legitimität‘ verlieh, was zu den ultimativen und definitiven Zielen des Regimes werden sollte: die Vernichtung des europäischen Judentums, die Ermordung und Versklavung der Slawen, die Biologisierung der Politik, die Auslöschung von gesellschaftlichen und sexuellen Abweichlern, die Errichtung gigantischer neoklassischer Bauten und der Erwerb eines gewaltigen kontinentalen Lebensraums“ (S. 228).

 

Christopher Clark begnügt sich jedoch nicht mit der retrospektiven Bestandsaufnahme verflossener Epochen. Chronopolitik sei selbstverständlich, wie er in Teilen der Einleitung und des Epilogs zeigt, nicht nur ein Phänomen der Vergangenheit, sondern tagtäglich präsent; „die Berufung auf imaginäre Zeitlandschaften bleibt eines der wichtigsten Instrumente politischer Kommunikation“ (S. 25) und sei eine große Herausforderung für die Werte der liberalen Demokratie. So würden „in Großbritannien, in den Vereinigten Staaten, in Frankreich, Ungarn und anderen Ländern, die eine Wiedergeburt populistischer Strömungen erleben, neue Vergangenheiten konstruiert, um alte Zukunftsvorstellungen zu verdrängen“ (S. 26f.). In einem wegweisenden Appell habe der französische Präsident Emmanuel Macron deshalb die Mitgliedstaaten der Europäischen Union beschworen, sich den Herausforderungen solidarisch und aktiv zu stellen, denn sonst werde „die Gegenwart und mit ihr die Zukunft von der Vergangenheit verschlungen“ (S. 246). Der ultimative Breakdown der Temporalität sei im Klimawandel und seiner „kumulativen und endgültigen Qualität“ manifest, dessen bedrohliche Ereignisse laut Amitav Ghosh „die Gesamtheit allen menschlichen Handelns zu allen Zeiten und somit zugleich den Endpunkt unserer Geschichte (repräsentieren)“ (S. 244). In diesen aktuellen Bezügen wird besonders deutlich, welches gesellschaftspolitisch hoch relevante Erklärungspotential in dem kreativen Ansatz des Verfassers schlummert. Die Lektüre des Buches nötigt dem Leser zwar einiges an Konzentration ab, doch für seine Mühe wird er reich belohnt. Deshalb steht zu wünschen, dass Christopher Clarks populäre mediale Auftritte ihm auch weiterhin genug Zeit lassen, die Fachwelt und die Öffentlichkeit mit derart außergewöhnlichen und gelungenen Publikationen zu überraschen.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic