Breuer, Stefan, Die Nordische Bewegung in der Weimarer Republik (= Kultur- und sozialwissenschaftliche Studien 18). Harrassowitz, Wiesbaden 2018. 271 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Die überbordende Gewalt, mit der die nationalsozialistischen Machthaber einst Deutschland und den Kontinent überzogen, war in wesentlichen Bereichen dem Versuch geschuldet, ihre rassenideologischen Postulate mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu realisieren und dem als „nordisch“ Definierten eine dauerhafte Vorherrschaft über alle aus dem Blickwinkel dieser Weltanschauung als minderwertig oder feindlich eingestuften Ethnien zu verschaffen. Es verspricht daher Gewinn zu fragen, wo diese Begeisterung für den Norden ihre historischen Wurzeln hat, wie sie sich rassistisch auflud, welche Persönlichkeiten sie forcierten, wie sie sich in Netzwerken zu organisieren und zu vergesellschaften verstand und auf welchen Wegen und in welcher Form sie ihren fatalen Einfluss auf die Ideologie und die Herrschaftsrealität des „Dritten Reichs“ gewinnen konnte.

 

Der Politikwissenschaftler und Soziologe Stefan Breuer, 1982 mit einer Sozialgeschichte des Naturrechts habilitiert und bis zu seiner Emeritierung 2014 Professor für Soziologie an der Universität Hamburg, hat sich in seinen Forschungen vorrangig mit Ideengeschichte befasst und ist dabei mit einer größeren Anzahl von Publikationen zur Geschichte der völkischen Bewegung und der radikalen Rechten in Deutschland im Zeitraum von der Reichsgründung 1871 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Erscheinung getreten. Da sich die Entwicklung der Nordischen Bewegung in diesem Kontext vollzogen hat, ist der Verfasser in besonderer Weise befähigt, die relevanten Querverbindungen herzustellen und nachzuzeichnen, die den Weg dieser Idee und ihrer Proponenten charakterisieren. Dabei wird deutlich: Ihr partieller Erfolg war keineswegs das folgerichtige Ergebnis besonders überzeugender Inhalte oder eines schlüssigen Konzeptes; vielmehr stand das ohnehin fragwürdige exklusive – und somit potentiell desintegrative – Rassendogma der Nordischen in einem unübersehbaren Gegensatz zum Bemühen der Völkisch-Nationalen um die Gewinnung des gesamten, ganz offensichtlich nur zu einem geringen Teil aus „nordisch“ definierten Komponenten bestehenden deutschen Volkes. Somit war es vielmehr eine spezifische historische Konstellation, in der wechselseitige Bedürfnisse zueinander fanden und gravierende Verwerfungen nach sich zogen, die in ihrer Radikalität so nicht unbedingt vorhersehbar waren.

 

Von der „Idolatrie des Nordens“ spricht Karl Heinz Bohrer in seiner 1961 veröffentlichten Dissertation und meint damit eine im Frankreich des 18. Jahrhunderts wurzelnde geschichtsprophetische Konstruktion, die von Johann Gottfried Herder im deutschen Raum aufgenommen und, versehen mit dem speziellen Aspekt der sogenannten Palingenese, popularisiert wurde. Der zufolge falle den Völkern Nordeuropas die Rolle zu, nach dem Niedergang der antiken Kultur gleichsam in einem Akt der Wiedergeburt die Menschheit zu neuen Höhen zu führen, weshalb Herder das Eintauchen in die nordische Überlieferung als „Verjüngungsbad“ zur Reinigung „von aller lateinischen und ‚gallicomanischen‘ Überfremdung“ empfahl. Obwohl ihm in der klassischen Bildung verwurzelte Größen wie Goethe, Hegel und auch Nietzsche in dieser Wertung nicht folgten, schloss das nicht aus, „daß manche der von Herder […] bekannt gemachten Topoi ein Eigenleben führten und zeitweise erhebliche Verbreitung gewannen“ (S. 10f.). Vor allem geschah dies nach der Reichsgründung durch das außergewöhnlich populäre Historienepos „Ein Kampf um Rom“ (1876) des germanistischen Rechtshistorikers Felix Dahn, der sich im Übrigen „in der Debatte über das BGB für die vollständige Abschaffung des römischen Rechts und die Einführung eines genuin deutschen Rechts auf germanischer Grundlage einsetzte“ (S. 16, Anm. 49). Ähnliche Diskrepanzen entwickelten sich auf dem Gebiet der Religion, wo die Deutschchristen einem spezifisch deutschen Protestantismus das Wort redeten, während wiederum die Deutschgläubigen das Christentum als wesensfremd verwarfen und für eine Wiederbelebung germanischer Kulte eintraten.

 

Die angenommene geographische Urheimat der Germanen wurde zunehmend von Asien, wo man sie zunächst vermutet hatte, nach dem europäischen Norden verlegt. Kraniometrische Studien (Langschädel und Rundköpfe), anthropologische Entdeckungen (Neandertaler, Cro Magnon-Mensch) und klimatheoretische Überlegungen (die größeren Herausforderungen in den kälteren Klimazonen seien der Evolution förderlich gewesen) fügten sich zwar „keineswegs zu einer zwingenden Deduktionskette“, boten jedoch genügend Anlass, diese Befunde zu „Dauertypen“ und „Rassen“ zuzuspitzen und „das bis dahin unbefragt geltende ‚ex-oriente-lux‘-Theorem […] durch die Annahme zu ersetzen, daß das größte kulturelle Potential der Menschheit im Norden lag“ (S. 24). Diese als „ex-septentrione-lux“-Theorie bezeichnete Auffassung ließ einen ihrer Vertreter, den badischen Arzt Ludwig Wilser, 1898 zum Schluss kommen: „Der nordische Zweig der weissen Rasse, zur Weltherrschaft geboren und berufen, hat keine Nebenbuhler mehr“. Wilser habe auch die Unterscheidung zwischen Rasse und Volk als „grundlegend“ erachtet: „Volk war für ihn ein sprachlich-geschichtlicher, Rasse ein rein naturwissenschaftlicher Begriff, woraus sich vorab die Unzuständigkeit der Sprach- und Geschichtswissenschaft für die Basiskategorie der Rassenkunde ergab“ (S. 26f.). Ludwig Woltmann, ab 1902 einer der „aktivsten und wortmächtigsten Propagandisten der ‚sozialanthropologischen Schule‘“, hielt es für notwendig, „den gesunden und edlen Bestand des gegenwärtigen Geschlechts durch rassenhygienische und rassenpolitische Maßnahmen zu erhalten und zu schützen“ (S. 29ff.). Houston Stewart Chamberlains von einem stark manichäischen Weltbild (Germanen versus Juden) geprägte Position zeichnet sich dadurch aus, „daß er den zeitgenössischen Rassendiskurs der physischen Anthropologie einerseits aufnahm […], ihn andererseits jedoch durch eine damit inkompatible spiritualistische und voluntaristische Sichtweise relativierte“ (S. 38), woraus eine „optimistische( ), Nationalismus und Rassismus bis zur Ununterscheidbarkeit verschmelzende( ) Einstellung“ hervorgegangen sei, durch die sich Chamberlain „wie kein zweiter Ideologe des Kaiserreichs für die Rolle eines Praeceptor Germaniae (empfahl), die ihm dann während des Ersten Weltkriegs auch tatsächlich zufiel“ (S. 41). Ab 1912 sei, von dem Publizisten Max Robert Gerstenhauer forciert, die Rassenlehre im Alldeutschen Verband (ADV) „eine der Grundlagen“ (S. 43) gewesen. In Freiburg im Breisgau, damals laut Gerhart von Schulze-Gaevernitz im Ruf einer „alldeutschen Pensionopolis“ (S. 51) stehender Kristallisationspunkt zahlreicher rassenideologischer Aktivisten, wuchsen mit Hans F. K. Günther und Ludwig Ferdinand Clauß die zwei einflussreichsten Gestalter des „Nordischen Gedankens“ auf und wurden dort akademisch sozialisiert. Von diesem könne man explizit „erst nach dem Ersten Weltkrieg“ sprechen, „als es breiten Kreisen plausibler erschien, die Konfliktlagen der Gegenwart auf Gegensätze zwischen Rassen zurückzuführen als auf solche zwischen Ständen, Klassen oder Völkern“ (S. 49).

 

Weder Günther noch Clauß waren in Anthropologie ausgebildet, sondern hatten in erster Linie philologische und geisteswissenschaftliche Studien betrieben. 1930 setzte der nationalsozialistische Innen- und Volksbildungsminister Thüringens, Wilhelm Frick, dennoch die Ernennung Günthers zum Professor für Sozialanthropologie an der Universität Jena durch. Günthers populäre „Rassenkunde des deutschen Volkes“ (1922) hatte trotz einzelner fachlicher Vorbehalte insgesamt eine wohlwollende Aufnahme auch bei namhaften naturwissenschaftlich-medizinischen Vertretern der rassenhygienischen Bewegung wie Fritz Lenz und Eugen Fischer gefunden. Clauß wiederum, dessen Hauptwerk „Die nordische Seele“ 1923 erschien, berief sich zwar primär auf die von Edmund Husserl in Freiburg gelehrte phänomenologische Methode zur „Ergründung der seelischen Artgesetze“, habe aber darüber hinaus ebenso „wie selbstverständlich die Arbeitsweise der Vererbungsbiologie in Anspruch“ genommen und sich „mit der gleichen Selbstverständlichkeit […] zentrale Theoreme der Anthroposoziologie zu eigen“ gemacht (S. 76). Sogenannte „Bewegungsunternehmer“ sorgten sodann für den „Schritt von der Idee zur sozialen Bewegung“, wie „der Verleger Julius Friedrich Lehmann, der insbesondere für Günther […] eine Art Patron oder Mäzen wurde, sowie der Bundesgroßmeister des Deutschbundes, Max Robert Gerstenhauer, [… oder] Hanno Konopacki-Konopath“ (S. 103). Ausführlich stellt der Verfasser die Motive, das weltanschauliche Umfeld, Organisationen und Publikationsorgane sowie den Werdegang dieses zentralen Personenkreises vor. Dem Nordischen Ring, der sich als „eine Art Generalstab der Nordischen Bewegung“ verstand und sich um „die restlose Erfassung aller geistig Arbeitenden, vor allem der nordisch gerichteten Lehrer an Hochschulen und aller anderen Schulen“ bemühte (S. 126), trat 1927 auch Richard Walther Darré bei, der die Überzeugung vertrat, „daß für die Nordische Rasse der Grund und Boden irgendwie entwicklungsgeschichtlich richtunggebend gewesen sein muß“ (S. 122). Ab 1930 ist Darré zum engeren Führungszirkel der NSDAP zu rechnen, nach der Machtübernahme 1933 rückte er zum Reichsbauernführer und zum Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft auf; Reichsführer-SS Heinrich Himmler betraute ihn mit der Führung seines Rasseamtes, später erweitert zum Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA).

 

Während der Nordizismus wegen seiner exklusiven Ausrichtung für die Gesamtheit der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft keine praktikable Option darstellte – schon 1930 hätten weder der völkische noch der linke Flügel der NSDAP Interesse an einem Bündnis mit der Nordischen Bewegung gezeigt –, habe er für Heinrich Himmler gerade aus diesem Grund das optimale ideologische Konzept zur Positionierung seiner Schutzstaffel (SS) als Sammelbecken eines rassisch erlesenen Neuadels bereitgestellt. Der Einfluss und die Machtfülle, die Himmler und sein Apparat im weiteren Verlauf der nationalsozialistischen Herrschaft erlangten, wurden dabei in hohem Maße ursächlich für die Verbrechen, mit denen sich das Regime belastete. Nicht vernachlässigt werden dürfe der katalytische Einfluss, den die Kriegsereignisse auf den unheilvollen Entwicklungsgang der nationalsozialistischen Rassenpolitik ausübten. Da sich „der Nordische Gedanke nicht in dem nur langfristig zu verwirklichenden Projekt der Aufnordung erschöpfte, sondern auch den schon im Hier und Jetzt ins Werk zu setzenden Aspekt der Ausmerzung unerwünschter Erbanlagen enthielt“, musste diese Politik „in dem Moment eine ganz neue Dimension erhalten, in dem im Zuge der militärischen Expansion Millionen von Menschen unter deutsche Herrschaft gerieten, die von der nordizistischen Rassenlehre auf der untersten Stufe der Hierarchie plaziert wurden. Für das Inferno, das über sie in Gestalt von Vertreibungen, Umsiedlungen und Massenmord hereinbrach, war gewiß nicht allein die Rassenideologie verantwortlich, sondern eine Vielzahl von Faktoren militärstrategischer, wehr- und ernährungswirtschaftlicher Art. Aber wenn schon bis Ende 1941 über drei Millionen Menschen ermordet waren, davon zwei Drittel sowjetische Kriegsgefangene, dann war dies auch einem Weltbild zuzuschreiben, das die traditionelle deutsche Ambivalenz gegenüber dem Osten, gegenüber ‚Asien‘, so sehr ins Negative auflöste, wie es durch den Nordizismus geschah“ (S. 249f.).

 

Bemerkenswerter Weise setzte zwar mit der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 „ein steiler Anstieg der Nachfrage nach Produkten ein, die Aufklärung und Orientierung über den Nordischen Gedanken versprachen“ (S. 243), doch die selbständigen Institutionen und Organe der Nordischen Bewegung wurden von Parteieinrichtungen aufgesogen, ihre Proponenten verloren mehr und mehr an Einfluss. Günther habe sich ab 1939 immer mehr ins Private zurückgezogen, sein neues Buch sei vom Regime sogar als unerwünscht verboten worden, Clauß sich nach einer Intrige einem Parteigerichtsverfahren stellen müssen, andere wie Banse, Konopath oder Schultze-Naumburg scheiterten ebenfalls, zuletzt auch Darré, der 1938 seinen Posten als Chef des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS räumen und einen sich bis 1942 hinziehenden Entmachtungsprozess hinnehmen musste. Auch in Heinrich Himmlers skurrilen okkulten Interessen und seinen damit verbundenen, oft fragwürdigen Personalentscheidungen sieht der Verfasser „ein deutliches Indiz dafür, wie wenig in Wahrheit der Nordische Gedanke in der SS verankert war“ (S. 249).

 

Somit veranschaulicht Stefan Breuers Geschichte der Nordischen Bewegung in der Weimarer Republik (und darüber hinaus) einmal mehr, wie wenig historische Entwicklungen der Determinierung unterliegen. Obwohl sich der Nordizismus weder als Idee noch als Institution durchzusetzen vermochte, waren seine Impulse für eine politische Instrumentalisierung geeignet und damit ausschlaggebend für verheerende Folgen. Die dargelegte Vielfalt seiner Strömungen mit ihren sehr unterschiedlichen, oft konträren Positionen verbietet es aber, diesen tragischen Prozess als eine unausweichliche (sehr wohl aber als eine durchaus wahrscheinliche) Konsequenz dieses Gedankenguts zu interpretieren, das durch seine aus der Kategorisierung von Menschen abgeleiteten Werturteile der Inhumanität Tür und Tor öffnet. Nachvollziehbar macht dies insbesondere die differenzierte Darstellung der maßgeblichen Diskurse durch den Verfasser, dessen fachliche Expertise und Stilsicherheit ebenso zu loben sind wie man seine Entscheidung, sich einer nicht mehr aktuellen Variante der deutschen Orthographie zu bedienen, hinterfragen darf.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic