Baumann, Anette, Visitationen am Reichskammergericht. Speyer als politischer und juristischer Aktionsraum des Reiches (1529-1588) (= Bibliothek altes Reich 24). De Gruyter Oldenburg, Berlin 2018. X, 264 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

In großen Organisationen von Menschen entwickeln einzelne Teile auf Grund des allgemeinen Strebens jeden Einzelnen nach günstigeren Lebensbedingungen nach Möglichkeit vielfach ein besonderes Eigenleben, das sich von den allgemeinen Zielsetzungen der Einrichtung mehr oder weniger deutlich entfernen kann. In dieser schon früh möglichen Einsicht hat die christliche Kirche bereits bald nach ihren Anfängen eine aufsichtliche Überprüfung der Pfarreien durch den Bischof und später den Archidiakon für insgesamt angezeigt gehalten und immer wieder auch tatsächlich ausgeführt oder zumindest erreichen wollen. Dieser Gedanke hat auch das 1495 eingerichtete Reichskammergericht des Heiligen römischen Reiches zwischen 1507 und 1776 mit gewisser bis geringer Regelmäßigkeit erfasst.

 

Mit einem Teilaspekt dieser Problematik beschäftigt sich die vorliegende, in dem Rahmen ihres Projekts der Deutschen Forschungsgemeinschaft Speyer als Zentralort des Reiches entstandene  Untersuchung der seit 1983/1983 in der mittelalterlichen und neueren/neusten Geschichte sowie Kunstgeschichte in Heidelberg und München ausgebildeten, ab 1990 an dem bayerischen Hauptstaatsarchiv in München bei dem Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu der Inventarisierung der Prozessakten des Reichskammergerichts und ab 1993 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an dem Lehrstuhl für Paläographie und Diplomatik  in Barcelona (Josefina Mateu Ibars) tätigen, 1994 in München mit einer Dissertation über Weltchronistik im ausgehenden Mittelalter (Heinrich von Herford, Gobelinus Person, Dietrich Engelhus) promovierten, seit 1996 als Leiterin der 2009 in die Universität Frankfurt am Main aufgenommenen Forschungsstelle der Gesellschaft  für Reichskammergerichtsforschung e. V. in Wetzlar wirkende, 2009 zu einer Honorarprofssorin der Universität Gießen berufene Verfasserin. Das mit zahlreichen Tabellen und einigen Abbildungen ausgestattete Werk gliedert sich nach einer kurzen Einleitung und einer Übersicht über die Quellen in elf Abschnitte. Sie betreffen die Visitation als juristischen und politischen Aktionsraum, das Ereignis der Visitation in Speyer, die Verhandlungsgegenstände  der Visitation, die Orte der Arbeit oder die Suche nach einer effizienten Arbeitsweise, die Arbeit der Richter, das Ringen um Disziplin oder die Suche nach der Definition angemessenen Verhaltens, die Definition von Landfriedensbruch und Religionsfriedensbruch als wichtigste Aufgabe des Gerichts, die Reichsstadt Speyer als Verhandlungsgegenstand in den Visitationen, der Abschluss der Visitation in Abschieden, Memorialen und gemeinen Bescheiden, Speyer als Zentralort des Reiches sowie Reichskammergerichtsvisitation, Reichstag und Reichsdeputationstag im Vergleich.

 

In ihren vielfältigen, aus unterschiedlichen, vielfach erst aufzubereitenden Quellen in sorgfältiger Bestandsaufnahme gewonnenen weiterführenden Ergebnissen kann die Verfasserin feststellen, dass die Visitation immer zu der gleichen Zeit (seit 1529 mit nur wenigen Unterbrechungen in den 1540er Jahren regelmäßig in dem Monat Mai bis 1588 während mehrerer Wochen) und an dem gleichen Ort (Speyer) stattfand und der Ablauf in vielen Punkten an dem Reichstag angelehnt war, wenn auch alle glanzvollen Elemente ausgespart blieben, so dass das Geschäft ziemlich nüchtern durchgeführt wurde. Grundlage der Visitation war ein nur in Einzelfragen den jeweiligen Bedürfnissen der aktuellen Politik angepasster Fragenkatalog, der jedem einzelnen Angehörigen des Gerichts von dem Kammerrichter bis zu dem Pedell vorgelegt wurde. Auf Grund der dabei in dem Laufe der Zeit auftretenden tatsächlichen Schwierigkeiten übernahmen die Reichsdeputationstage von 1595 und 1600/1601 die Visitation des endgültig zu einem Instrument kaiserlicher Politik gewordenen Gerichts, für das danach nur noch zwei Visitationen in dem 18. Jahrhundert stattfanden, weil die Visitationen als Tagungen von Sachkundigen in ihrer anfänglichen Form obsolet erschienen und der ursprüngliche unbedingte Wille zu Frieden an Gewicht verloren hatte.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler