Antisemitismus in Österreich 1933-1938, hg. v. Enderle-Burcel, Gertrude/Reiter-Zatloukal, Ilse. Böhlau, Wien 2018. 1167 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Der Mensch ist seit seinen Anfängen ein Individuum, das von der Natur zwecks Arterhaltung mit Egoismus ausgestattet wurde und sich dessen bei Bedarf aggressiv wie defensiv bedienen kann und bedient. Seit der Bildung von Völkern und Staaten hat sich diese Eigenschaft des Einzelnen auch den ihn umgebenden Gruppen mitgeteilt, die ihrerseits stetig versuchen, zwecks Gewinnung günstigerer Lebensverhältnisse sich selbst zu stärken und andere zu schwächen, wie sich von Kain und Abel über Romulus und Remus, Alexander und Caesar, die Römer und Punier, die Hunnen, Awaren, Ungarn, Mongolen, Türken, die Kolonialmächte Großbritannien, Frankreich, Spanien, Portugal, die Massenmörder Stalin, Mussolini, Hitler bis zu den Politikern der unmittelbaren Gegenwart zeigen lässt. Von daher liegen Freundschaften und Feindschaften zu eigenem Nutzen und fremdem Schaden vielleicht in der Natur des Menschen und sind nur die konkreten Verhaltensweisen unterschiedlich und damit auch ihre Sublimierung und ihre Bekämpfung, wobei wohl ein wichtiges Moment in der Gesellschaft auch die Gewinnung der Meinungsführerschaft für die eigenen Interessen sein könnte.

 

Mit dem Antisemitismus in Österreich zwischen 1933 und 1938 befasst sich der gewichtige Sammelband der beiden Herausgeberinnen, der auf eine viertägige, multidisziplinär besetzte Veranstaltung mit gleichem Titel in dem Juridicum der Universität Wien von dem 23. bis 26. März 2015 unter dem Ehrenschutz des seinerzeitigen Bundespräsidenten zurückgeht und sowohl ungeplante Einbußen wie auch unerwartete Zuwächse verarbeitet. Er umfasst im Ergebnis insgesamt 59 Referate, die in neun Abteilungen gegliedert sind. Diese betreffen nach einleitenden Streiflichtern Grundlagen, Politik und Religion, Kunst und Kultur, Wirtschaft und Berufe, Wissenschaft, Bundesländer, Justiz, Mikrogeschichtliches und jüdische Positionen.

 

An dem Beginn des durch ein umfangreiches Personenregister von Abel über Hitler bis Zwierzina aufgeschlossenen Werkes stehen dabei Untersuchungen über den Weg von dem Antijudaismus zu dem Antisemitismus in Österreich, über den Antisemitismus vor dem Hintergrund der österreichischen Rechtsentwicklung bis 1918, über die jüdische Bevölkerung und verfassungsrechtliche Lage von 1918 bis 1938, über die Bedeutung der Zahl (der Juden) in dem Antisemitismus und die jüdische Bevölkerung der Republik Österreich von 1933 bis 1938 in der Statistik. Schon hier aber auch sonst zeigt sich eine auffällige Vielfalt des Antisemitismus in Österreich vor 1938, der anfangs eher versteckt und nicht so offen sichtbar war (Notwehrantisemitismus, Tatantisemitismus, Abwehrantisemitismus, Sommerfrischenantisemitismus, schleichender Antisemitismus, kaschierter Antisemitismus, verdeckter Antisemitismus, verlogener Antisemitismus, Gummisohlenantisemitismus), aber wie auch in anderen europäischen Staaten allmählich immer offener und gewalttätiger zu Tage trat. Obwohl in Österreich vor 1938 keine grundsätzliche Ächtung des Antisemitismus erkennbar ist und der politische Kern des Nationalsozialismus sich schon in der Monarchie gebildet haben könnte, vermitteln einzelne Detailstudien doch auch den Eindruck, dass sich Juden in Österreich trotz des „latenten Antisemitismus durchaus integriert fühlten“.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler