Wagner, Joachim, Ende der Wahrheitssuche. Justiz zwischen Macht und Ohnmacht. Beck, München 2017. VII, 270 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Die Justiz als Rechtspflege ist bereits bei Griechen und Römern in dem Altertum umfangreich bezeugt, wenn auch nicht als eigene freie Kunst der sieben artes liberales. Immerhin gilt bereits bei Aischylos in dem Stück „Sieben gegen Theben“ (487 v. Chr.) gerecht (dikaios) neben verständig, fromm und tapfer als eine der vier als allgemein bekannt vorausgesetzten Tugenden. Seitdem ist die Justiz zu einer der drei Gewalten des Staates geworden, die seit John Locke (Two treatises of government) und Charles de Montesquieu (1748) getrennt werden.

 

Mit gegenwärtigen Entwicklungen der Justiz Deutschlands beschäftigt sich das vorliegende materialgesättigte und gedankenreiche Werk des in Hamburg 1943 geborenen, journalistisch als Leiter der Rechtspolitik des Hörfunks des Norddeutschen Rundfunks beginnenden, promovierten, als  Assistenzprofessor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie an der Freien Universität Berlin sowie später als stellvertretender Leider des Hauptstadtstudios der Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands  und Leiter des Fernsehmagazins Panorama tätigen Verfassers. Er beschreibt auf der Grundlage von nahezu 200 Interviews mit Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten das Selbstverständnis der deutschen Justiz. Dabei sieht er vor allem eine durch die hohe Belastung  von Richtern und Staatsanwälten einerseits und durch einen Einstellungswandel  andererseits bewirkte geänderte Rechtsprechungskultur.

 

Gegliedert ist die hilfreich aufklärende Studie nach einer kurzen Einleitung in siebzehn Abschnitte. Sie betreffen Trauermärsche und Trillerpfeifen, Spitzenreiter und  Schlusslichter im 2014 gewonnenen Ländervergleich der so genannten Berliner Tabelle für Eingänge, Erledigungen, Bestände, Art der Erledigungen und Dauer der Verfahren für die ordentliche Gerichtsbarkeit und der so genannten Sachsen-Tabelle für die Fachgerichtsbarkeiten, den Berufswunsch Richter (Jobber und Friedenstifter), die von verantwortungsarmer Politik wie Annehmlichkeiten anstrebenden Absolventinnen gewünschte Verweiblichung der Justiz als Paradies für Frauen (Ende 2012 55 Prozent der neu eingestellten Richter weiblich), die junge Richtergeneration, die Unabhängigkeit des Richters als sinnvollen Schutzschild und zugleich gefährliches Alibi, den Kampf um die Beförderung, die zähe und zahnlose Dienstaufsicht, den Mindestlohn für Richter und Staatsanwälte (als Steine statt Brot)  und die einzelnen Gerichtsbarkeiten (Zivilgerichtsbarkeit, Strafgerichtsbarkeit, Verwaltungsgerichtsbarkeit, Sozialgerichtsbarkeit, Arbeitsgerichtsbarkeit und Finanzgerichtsbarkeit. Dass in einer Einrichtung erst fast siebzig Jahre nach ihrer Gefährdung durch den Nationalsozialismus Adolf Hitlers und ihrer Neuausrichtung unter den Idealen des Grundgesetzes sehr hohe Nebenverdienste hoher Repräsentanten in das allgemeine Bewusstsein gehoben werden, lässt vermuten, dass die gründlichen Recherchen und wertvollen Vorschläge des Verfassers (wie z. B. mehr Wahrheitssuche statt zu vieler rascher Vergleiche ohne Aufklärung des Sachverhalts und Aufnahme von Beweisen) und voraussichtlich in dem allgemeinen Klima der Gefälligkeiten  im Wesentlichen ausgesessen und damit abgesehen von dem allgemeinen Bedeutungsverlust der Justiz in der Wahrnehmung der Bundesrepublik Deutschland keine gewichtigen Veränderungen zur Folge haben werden.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler