Stollberg-Rilinger, Barbara, Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit. Eine Biographie. Beck, München 2017. XXVIII, 1083 S., 82 Abb., 1 Kart., 3 Tab. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Zwischen 1863 und 1879 erschienen insgesamt zehn Bände „Geschichte Maria Theresias“ aus der Feder Alfred Ritter von Arneths. Nicht zufällig entstand dieses „an Genauigkeit und Materialreichtum unübertroffen(e)“ Monumentalwerk in einer Zeit der Erschütterungen der Habsburgermonarchie (1866 Niederlage von Königgrätz, Verdrängung aus dem Deutschen Bund; 1867 „Ausgleich“ mit Ungarn; 1871 Gründung des deutschen Kaiserreiches und damit das Ende großdeutscher Ambitionen), in der es darum ging, „aus der Betrachtung heroisch überstandener Krisen der Vergangenheit Hoffnung und Orientierung für die Zukunft zu schöpfen“. Seither stehe diese „monumentalistische Geschichte des 19. Jahrhunderts zwischen uns und der historischen Gestalt Maria Theresias und versperrt uns die nüchterne Sicht auf sie“ (S. XIII). Es gehe somit heute vorwiegend darum, die Figur Maria Theresias „unter den Schichten der verschiedenen historiographischen Projektionen […], die sie mit der Zeit überwuchert haben“, wieder freizulegen und sich dabei bewusst zu halten, dass auch eine postmoderne, postnationalistische Perspektive eben nur eine Betrachtungsweise unter vielen und somit ohne absoluten Objektivitätsanspruch bleiben muss. Um ihr Ziel, „die Gestalt Maria Theresias in ihrer Zeit zu verstehen – und umgekehrt, die Zeit pars pro toto durch diese Gestalt zu erschließen“, bestmöglich zu erreichen, bedient sich die Verfasserin dreier Darstellungsprinzipien: einer Multiperspektivität, die bemüht ist, selbst widersprüchliche Wahrnehmungen nebeneinander stehen zu lassen; des Wechsels zwischen erzählerischen und analytischen Elementen; schließlich größtmöglicher Quellennähe, wobei die Dokumente „so oft wie möglich selbst zu Wort kommen“ sollen (S. XXVI). Das durchaus gelungene, bemerkenswerte Ergebnis dieser Bemühungen ist bereits mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2017 ausgezeichnet worden.

 

Vergleicht man das vorliegende Werk Barbara Stollberg-Rilingers mit der unlängst vom Rezensenten hier besprochenen, weniger umfangreichen Schrift der französischen Philosophin, Historikerin und Feministin Élisabeth Badinter, so ist zunächst einmal festzuhalten, dass die Deutungshoheit über das Wirken Maria Theresias nach einer langen Tradition vornehmlich männlicher Interpreten von Arneth über Srbik bis Friedrich Heer nunmehr in nicht weniger kompetenter weiblicher Obhut angekommen ist. Nicht zuletzt ist mit diesem Wechsel ein elementares Interesse an der Weiblichkeit der Herrscherin und deren Auswirkungen auf die Herrschaftspraxis verbunden. Élisabeth Badinter hat diesen Gesichtspunkt sogar im Titel ausgewiesen und damit zum Kern ihrer Untersuchung gemacht, während er bei Barbara Stollberg-Rilinger, die bei dem dreimal so starken Volumen ihrer Arbeit breiter anzusetzen und viel stärker ins Detail zu gehen vermag, ebenfalls durchgehend präsent ist. Die 1955 in Bergisch Gladbach geborene Professorin, die seit 1997 an der Universität Münster Geschichte der Frühen Neuzeit lehrt, entwickelt über – einschließlich des Prologs und des Epilogs – 15 Kapitel die Biographie Maria Theresias im Kosmos ihrer Zeit. Vom Status der Erbtochter führt die Darstellung über den Erbfolgekrieg, die Bedeutung des Kaisertums und der Reichspolitik hin zu den führend zunächst von Haugwitz, dann von Kaunitz gesteuerten Reformen des Staatswesens. Nach zwei Abschnitten, die sich jeweils mit „Körperpolitik“ (dem politischen Charakter von Schönheit, Sexualität, Keuschheit und Fruchtbarkeit) und „Distinktionen und Finessen“ (den Ausprägungen der höfischen Rang- und Gunstordnung) befassen, steht der Siebenjährige Krieg im Fokus. Daran schließen sich Betrachtungen zu den Kindern der Herrschaft als deren wichtigstes politisches Kapital, zum Charakter der Regierung Maria Theresias seit dem unerwarteten Tod ihres Ehegatten 1765 und der Einsetzung ihres Sohnes Joseph zum Mitregenten, zu Fragen der Religion, des „Fremden im Eigenen“ (ihr problematischer Umgang mit Juden und Protestanten sowie die Türkenmode), zu den Untertanen und schließlich zum „Herbst der Matriarchin“, der Phase des Lebensüberdrusses, unter Einschluss des Verhältnisses zu ihren Söhnen und Töchtern.

 

Die Verfasserin führt vor allem vor Augen, wie sehr Maria Theresia als Königin und Kaiserin in ihrem Bestreben, Macht und Größe des Hauses Österreich zu verteidigen und zu fördern, dem ständischen Koordinatensystem, das sich elementar in der Rangordnung des Hofes abbildete, verhaftet geblieben ist. Reformen stieß sie daher nicht aus irgendwelchen ideologischen Überzeugungen an, sondern aus der Erkenntnis staatspolitischer Notwendigkeit, manches ergab sich erst im Lauf des Prozesses. Der Reformer Haugwitz, der nach dem Erbfolgekrieg gemäß dem Modell des Staates als einer perfekt ablaufenden Maschine Strukturdefizite zu beseitigen suchte, sei weder moderner Bürokrat noch geborener Gegner des Adels gewesen, wie später Historiker glauben machen wollten. „Er stellte sich nicht in den Dienst einer abstrakten Staatsgewalt, sondern diente der geheiligten Dynastie und war von deren göttlichem Erbrecht überzeugt. Er war selbst einer von Adel und verfolgte wie jeder andere seine persönlichen Karriereinteressen“ (S. 195). Mit der Schaffung der Obersten Justizstelle, welche die Gerichtsrechte bündelte und für alle Gerichtsverfahren in den Erbländern nunmehr die höchste Instanz bildete, sei die Trennung der Gerichtsbarkeit von der Verwaltung zwar de facto vollzogen worden, aber diese „aus moderner Perspektive substantielle staatsrechtliche Errungenschaft hatte ursprünglich keineswegs die zentrale programmatische Bedeutung, die ihr später im Sinne des liberalen Grundprinzips der Gewaltenteilung zugeschrieben wurde. Sie war tatsächlich eher eine notwendige Folge der anderen Arrangements; in der Obersten Justizstelle wurden die Kompetenzen zusammengefasst, die noch übrig geblieben waren“ (S. 206). Mithin gab es „keine folgerichtige Entfaltung einer abstrakten ‚Staatsidee‘ zu dem schon immer angelegten Ziel ihrer konkreten Verwirklichung […]. Wesentlich ist etwas anderes: Haugwitz‘ Reformen bedeuteten tatsächlich einen Einschnitt, weil sie durch ihren entschlossenen Traditionsbruch eine Veränderungsdynamik auslösten, die sich in der Folgezeit immer weiter selbst verstärkte und beschleunigte. […] Die Reformen produzierten Probleme, auf die mit neuen, ähnlichen Reformen reagiert wurde, die wiederum ähnliche Probleme produzierten, und so fort“ (S. 244f.).

 

Auch auf dem Feld der Kriegsführung habe Maria Theresia wie ihre Zeitgenossen nach „den Imperativen der adeligen Standeskultur“ agiert. So „hielt sie an ihrem Schwager Karl von Lothringen als Oberkommandierendem trotz dessen notorischer militärischer Misserfolge stets unbeirrt fest und gehorchte auch sonst bei der Kommandovergabe den Regeln der höfischen Patronage“ (S. 115ff.). Dennoch sei in der zweiten Jahrhunderthälfte „die prekäre Balance zwischen Herrscherhaus und altem Adel […] zusehends verloren“ gegangen. Als wesentliche Gründe dafür benennt die Verfasserin den Bedarf an qualifiziertem Personal, „das sich weniger durch altehrwürdige Abstammung als vielmehr durch individuelle Berufsqualifikation auszeichnete“, für Politik Verwaltung und Militär sowie die „immer ärgere Finanznot“, womit „nichts anderes übrig blieb, als die Hürden für den Zugang zu den adeligen Hofämtern zu senken“ und damit automatisch „eine ständische Abwärtsspirale“ in Gang zu setzen, „die den Glanz des Hofes in den Augen des hohen Adels immer weiter verblassen […] ließ“. Nach Kaiser Franz Stephans Ableben 1765 „sollte sich das noch erheblich verstärken – durch Maria Theresias Melancholie ebenso wie durch den schroffen antiadeligen Affekt ihres Sohnes“, Mitregenten und späteren Nachfolgers Joseph II. (S. 398f.).

 

Was Maria Theresias kompromisslose Haltung jeweils gegenüber Juden (ein Faktum, das Historiker nach 1945 „diskret zu beschweigen“ bemüht gewesen seien; S. 635) und Protestanten angeht, arbeitet die vorliegende Studie die relevanten Strukturen heraus. Der Status der Juden sei damals „(i)n allen europäischen Ländern […] prekär“ gewesen, „nirgendwo hatten sie ein selbstverständliches und uneingeschränktes Aufenthaltsrecht. […] Die Schutzbriefe, die jederzeit widerrufen werden konnten, waren für die Fürsten ein ausgezeichnetes Geschäft“ (S. 636). Schon Arneth ortete bei Maria Theresia, bei der weder das „unermessliche Elend der vertriebenen Menschen“ noch „staatswirtschaftliche Vernunftargumente“ verfangen hätten, eine „feste( ) Überzeugung, an den Juden, den notorischen Verrätern, Betrügern und verstockten Christusmördern, ein gottgefälliges und gerechtes Werk zu tun“; darüber hinaus sah sie sich „auch in Übereinstimmung mit der Tradition ihrer Vorfahren – auch wenn diese in den Augen aufgeklärter Beamter mittlerweile wirtschaftlich unvernünftig und nicht mehr zeitgemäß erschien“ (S. 643). 1744 bis 1746 in Prag „Urheberin der letzten großen Massenaustreibung von Juden im vormodernen Europa“ (S. 636), kehrte sie erst aufgrund von landständischer Obstruktion „gezwungenermaßen zu einer Strategie der eingeschränkten Duldung und finanziellen Abschöpfung zurück“. Denn: „Anders als anderen Monarchen ging es Maria Theresia gerade nicht in erster Linie um wirtschaftliches Kalkül“ (S. 644). Protestantische Fürsten und Städte genossen im Römisch-deutschen Reich seit dem Westfälischen Frieden 1648 „Gleichstellung mit den katholischen“ und „in den Reichsinstitutionen herrschte konfessionelle Parität“. Konfessionsfreiheit sei „ein historisch begründeter, vertraglich verankerter Besitzstand“ gewesen, jedoch „kein abstraktes individuelles Grundrecht“. Für ihre deutschen Erbländer jedoch „(hatten) die Habsburger durchgesetzt, dass die Toleranzbestimmungen für sie […] gar nicht galten“ (S. 646). In der Bekämpfung des (Untergrund-)Protestantismus mittels Religionspatent, Konversionshaus und „Transplantationen“ (wie man die Zwangsdeportationen in den äußersten Südosten des Habsburgerreiches nannte, „eine humanitäre Katastrophe [und] auch als bevölkerungspolitisches Projekt ein Desaster“; S. 653) „stand Maria Theresia unerschütterlich in der Tradition ihrer Vorfahren, was in der aufgeklärten Öffentlichkeit jenseits ihrer Länder allerdings zunehmend als Skandal empfunden wurde“ (S. 646f.). Dennoch hatte sie auch „Skrupel“, sah sie sich doch lieber „nicht als Verfolgerin, sondern als milde und gnädige Landesmutter“. Unmittelbar nach ihrem Tod „erließ Joseph sein berühmtes, in Aufklärerkreisen gefeiertes Toleranzpatent, das dem Gewissenszwang gegenüber allen Akatholischen ein Ende setzen sollte. Den Juden eröffnete es den Weg in die völlige Assimilation“ (S. 666).

 

Das Rechtsverständnis der Herrscherin, die wie alle weiblichen Erzherzöge während ihrer Ausbildung „keinen Unterricht in Jurisprudenz erhielt“ (S. 24), lässt sich nicht auf einen einfachen Nenner reduzieren. Ein „grundsätzliches Dilemma, dem sich Maria Theresia […] immer wieder ausgesetzt sah“, sei „die Unvereinbarkeit von generell-abstrakter Norm und persönlicher sozialer Loyalität“ gewesen. Über die Empfehlung einer von ihr im Revisionsverfahren eingesetzten Fachkommission, die das Todesurteil gegen den vielfacher Kriegsverbrechen beschuldigten Pandurenoberst Franz von der Trenck bestätigte, setzte sie sich hinweg und wandelte die Strafe in lebenslängliche Festungshaft mit „standesgemäße(r) Alimentation“ des Häftlings um. „Vor die Wahl gestellt zwischen der gesetzlichen Bestrafung des Kriegsverbrechers zum Schutz der Untertanen einerseits und der persönlichen Dankbarkeit gegenüber dem verdienten Kriegshelden andererseits, entschied sie sich für Letzteres“ (S. 137f.). Ihre tiefe Verankerung im katholischen Glauben, die sie so radikal und erbarmungslos gegen Andersgläubige vorgehen ließ, veranlasste die vielfache Mutter auf der anderen Seite zur sensiblen Wahrnehmung des ausufernden Problems des Kindermordes. Schon 1755 erließ sie „zwei Verordnungen zugunsten von Mädchen, die verführt, geschwängert und dann verlassen worden waren. […] Man wollte den Mädchen alle Motive zur Verheimlichung ihrer Schwangerschaft nehmen, um die Kinder zu retten. […] Die Obrigkeiten und Gerichte wurden angewiesen, schwangere Mädchen allenfalls mild und diskret für ihren Fehltritt zu bestrafen, besser noch nur zu ermahnen, keinesfalls aber Geldbußen gegen sie zu verhängen oder gar, wie traditionell üblich, ihre Schande herauszustellen. […] Kam es dennoch zu einem Kindsmord, dann sollten der Kindsvater sowie Eltern und Verwandte, die zur Verheimlichung der Schwangerschaft beigetragen oder bei der Entbindung keine Hilfe geleistet hatten, empfindlich bestraft werden“. Mit diesen Normen „war Maria Theresia ihrer Zeit mithin um ein Vierteljahrhundert voraus“ (S. 290f.). Auch im Hinblick auf die umstrittenen Themen Aberglauben und Exorzismus vertrat sie schon im selben Jahr „eine Position, die der Aufklärungstheologie erstaunlich nahestand“. Im Theresianischen Strafrechtscodex von 1769 existierte zwar „nach wie vor das Delikt des crimen magiae, der Zauberei auf der Grundlage eines Paktes mit dem Teufel“, doch sei „(d)en Juristen […] offensichtlich nicht sehr wohl dabei“ gewesen. Nur „wenn ein konkreter Schaden verursacht worden sei, den man in keinerlei Weise auf Einbildung, Wahn oder Betrug zurückführen könne, dürfe man nicht gänzlich ausschließen, dass es sich tatsächlich um die Mitwirkung des Teufels handeln könne – was herauszufinden aber unbedingt der höchsten Gerichtsinstanz überlassen werden musste“. Bemerkenswert ist, dass Maria Theresias Kritik am Aberglauben „paradoxerweise eher die Folge des Glaubens an seine [Gerhard van Swietens] Autorität als das Ergebnis eines kritischen Denkprozesses“ gewesen sein soll (S. 617ff.).

 

Barbara Stollberg-Rilingers mit 30 prächtigen Farbtafeln illustrierte Biographie Maria Theresias zeichnet sich besonders durch ihre gelungene Aufnahme der zeitgenössischen Parameter aus, die den Rahmen für ihr Agieren als Herrscherin abstecken. Erst die umfassende Kenntnis dieses Kosmos ermöglicht es, ihre Entscheidungen historisch korrekt zu interpretieren, zu verstehen und einer angemessenen Beurteilung zu unterziehen. In Summe ergibt sich das Bild einer außergewöhnlich begabten Frau, der es mit Hilfe von ihr klug gewählter Ratgeber und Mitarbeiter gelungen ist, die Habsburgermonarchie in schwierigen Zeiten im Kreis der europäischen Großmächte zu halten und zugleich die Fundamente eines modernen Staatswesens zu legen, wobei Letzteres als das glückliche Ergebnis punktuell richtiger Entscheidungen und Maßnahmen im Angesicht jeweils aktueller Herausforderungen, nicht aber eines intendierten, planmäßig durchstrukturierten Reformvorhabens erscheint.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic