Reinhardt, Volker, Pontifex. Die Geschichte der Päpste. Von Petrus bis Franziskus. Beck, München 2017. 928 S., 109 Abb., 4 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Die Geschichte des Papsttums ist ohne Zweifel (auch) Herrschaftsgeschichte, doch repräsentiert diese Institution wirklich vorrangig, wie hier zu lesen ist, „die Macht in ihrer höchsten und reinsten Potenz“ (S. 22)? „Staatsrechtlich […] ein(en) letzte(n) Restbestand Alteuropas“ nennt der Verfasser ganz am Anfang seiner Studie die päpstliche Regentschaft, sei der Pontifex maximus doch heute „der einzige absolute, durch keine gesetzgebende Versammlung in seiner Gewaltenfülle eingeschränkte Herrscher des Kontinents“ (S. 13). Der Ausnahmecharakter dieser Stellung sei wesentlich durch die Multifunktionalität ihrer Ansprüche gekennzeichnet. So reklamierten die Päpste im Lauf der Geschichte nicht nur den (im Unfehlbarkeitsdogma am deutlichsten verkörperten) Primat über die Kirche, sondern auch den moralisch-politischen Primat über die weltliche Herrschaft, dazu die unabhängige Verfügungsgewalt über ein eigenes Territorium und die Befugnis zur intensiven Beförderung ihrer höchstpersönlichen (Familien-)Netzwerke. Dies alles gegen konkurrierende Machtansprüche etablierter Herrscher und Gewalten durchzusetzen, sei ihnen gelungen, „weil  sie sich auf eine immer sorgfältiger und wortmächtiger ausgearbeitete Ideologie stützten, die die von ihnen angestrebte Machtstellung als Ausdruck des göttlichen Willens und zugleich als der Natur des Menschen angemessen und daher vernünftig verkündete“ (S. 15) und mittels entsprechender Prachtentfaltung propagandistisch eindrucksvoll untermauerte.

 

In Anbetracht dieser Verhältnisse ist es wenig verwunderlich, dass nicht nur die klassischen Vertreter der Papstgeschichte sich schwer von ihren konfessionellen Prägungen freizumachen vermochten und vermögen. Dies gilt selbst für die Arbeit des so sehr um historische Objektivität bemühten protestantischen Preußen Leopold von Ranke, dessen berühmtes Werk „Die römischen Päpste, ihre Kirche und ihr Staat im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert“ (1832 – 1836) den katholischen Konvertiten Ludwig von Pastor zu seinem aus Quellen des Vatikanischen Geheimarchivs schöpfenden, umfangreichen Gegenwerk „Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters (1879 – 1928) motivierte, das die Papstgeschichte als Heilsgeschichte wahrnimmt und trotz seines Reichtums an authentischem Material zu entsprechend apologetischen Einschätzungen gelangt. Bis heute seien diese beiden konträren Positionen in Darstellungen zur Papstgeschichte vertreten, nun allerdings „noch unterschwelliger, uneingestandener und damit unaufrichtiger und unwissenschaftlicher“ (S. 18).

 

Als modernen wissenschaftlichen Standards verpflichteter Historiker betont der als Professor an der Universität Fribourg Geschichte der Neuzeit lehrende Volker Reinhardt den Unterschied zwischen einer „Geschichte des Glaubens“ und einer „Geschichte des Wissens“: Fragen des Glaubens behandle sein die gesamten zwei Jahrtausende Pontifikalgeschichte erfassendes Buch konsequent „als reine Ideen und Vorstellungen, nicht als Tatsachen“. Dem Ideal des Tacitus verpflichtet, suche er hingegen sine ira et studio auf der Grundlage einer profunden Kenntnis vor allem der vatikanischen und römischen Archive sowie einer Synthese des aktuellen Forschungsstandes auch „gegen Mythen des Amtes, der Institution und der Personen an[zutreten]“ mit dem Ziel einer „möglichst anschaulichen und behutsam erklärenden Erzählung […], die nicht einem starren Schema folgt, sondern nach den jeweils hervorstechenden Aktivitäten, Problemstellungen und Strategien gewichtet“ (S. 19ff.). Halte man sich das ideologische Fundament der päpstlichen Herrschaft vor Augen, wonach der Glaube höhere Wahrheiten vermittle als der Verstand und Glaubenswahrheiten demnach nicht verhandelbar seien, werde klar: „Wie weit ein Papst der Welt und ihren Forderungen nach ‚Modernität‘, ‚Zeitgemäßheit‘ und ‚Reformen‘ entgegenkommt, ist für ihn und die Kurie nur eine Frage des taktischen Ermessens und der Imagebildung; die uralte Substanz des Amtes mit seinem Anspruch auf doppelten Primat wird durch diese wechselnde Einkleidung in keiner Weise tangiert. […] Die Kurie ist früh eine höfische Gesellschaft, in der die Akteure Masken tragen. Der Historiker kann diese Inszenierungen beschreiben und deuten; das ist […] seine wichtigste und schwierigste Aufgabe. In das ‚Wesen‘, das ‚Ich‘, das dahintersteht, hat er jedoch kaum je Einblick“ (S. 20f.).

 

Zwei Millennien Papstgeschichte zu strukturieren ist kein einfaches Unterfangen; der Verfasser hat sich für 14 Kapitel entschieden, die chronologisch jeweils durch entsprechende Pontifikate gerahmt und unter ein möglichst aussagekräftiges Motto gestellt sind. „Legenden, Uranfänge und erste Machtkämpfe“ charakterisieren den Einstieg bis 309/310, an den die Phase der „Konstantinische(n) Wende“ und des Weges zum doppelten Primat bis 535 anschließt. Bis 715 agierten sodann die Päpste „(a)m langen Arm von Byzanz“, bevor sie sich im Zeitabschnitt bis 867 nach Westen wandten. Die folgende Phase bis 1046 ist spektakulär, aber doch recht unspezifisch „Silberstreifen an blutigen Horizonten“ überschrieben, während „Kirchenreform und Hegemoniekämpfe“ bis 1198 den Weg in den bis 1304 datierten „Kampf um die Vorherrschaft“ ebneten. Etwas mehr als ein Jahrhundert, von 1305 bis 1415, umfasst die Periode des „Umzug(s) nach Avignon“ und des damit verbundenen Schismas, dem 1417 ein Neuanfang und das bis 1534 anzusetzende Renaissancepapsttum folgen sollten. Reform und Erneuerung bis 1605 taten not und führten letztendlich in eine bis 1676 angesetzte Phase einer neuen „Nepotenherrlichkeit“ und der „barocke(n) Prachtentfaltung“. Im folgenden Jahrhundert bis 1799 sieht Volker Reinhardt die Päpste „(w)ider den Geist der Zeit“ agieren und bis 1914 durch „Selbstabschließung“ in eine „Sackgasse“ manövriert. Den Kurs Roms seit Benedikt XV. inklusive des aktuellen Pontifikats Franziskus I. stellt er unter das weit gefasste Motto „Schwankende Haltungen zur Gegenwart“.

 

Einen zentralen Mythos des Papsttums ortet der Verfasser in dessen Selbstwahrnehmung als einer von Anbeginn als vollkommen kreierten und so bis heute im Kern unverändert fortbestehenden Einrichtung. Diesem statischen Konstrukt begegnet er mit der Darlegung der Historizität der Institution, indem er beispielsweise zeigen kann, dass mit Damasus I. (366 – 384) „die römische Kirche erstmals ihre eigene Geschichte als Quelle des Ruhmes und Legitimationsbeweis (entdeckte und erfand)“. Auf dem Konzil von Konstantinopel 381 wurde eine Rangfolge der Bischofssitze verbindlich festgelegt und Rom auf den ersten Platz gesetzt, ein „Ehrenvorrang“, den es fortan „zur Jurisdiktionshoheit auszubauen“ galt (S. 59ff.). Leo I. (440 - 461) mit dem Beinamen der Große „brachte die Konstruktion eines römischen Primats zu einem ersten Abschluss […] durch die systematische Zusammenfügung, konsequente Auswertung und kühne Ausnützung der in den drei Jahrhunderten zuvor zusammengetragenen Elemente“. Nach dieser Geschichtskonstruktion trete das päpstliche Rom das „gereinigte“ Erbe der römischen Imperatoren an; damit „war der Machtwechsel von den Kaisern zu den Päpsten, der sich ankündigte, aber noch drei Jahrhunderte auf sich warten ließ, ideologisch vorbereitet. […] Wenn Rom seine wahre Identität erst durch seine Verchristlichung erhielt, dann gewann auch das Imperium als ganzes unter dem principatus des Papstes ein höheres Wesen. Für den Kaiser blieb dann nur noch die untergeordnete Rolle, […] äußeren Schutz zu spenden. So zeichnet sich […] der zweite, politische Primat der Päpste bereits deutlich konturiert ab“ (S. 81). Die Schaffung des „Kirchenstaats“, die viele Kirchenhistoriker mit der sogenannten Pippinschen Schenkung 754 an Papst Stephan II. (752 – 757) – höchstwahrscheinlich „Rom und sein ( ) Dukat zum einen und […] das Exarchat von Ravenna nebst angeschlossenen Distrikten zum anderen“ – verbinden, gehe auf eine ältere „päpstliche Direktherrschafts-Ideologie“ zurück, und es sollte noch mehr als vier Jahrhunderte dauern, „bis von päpstlicher Herrschaft in diesem ‚Patrimonium des heiligen Petrus‘ auch nur ansatzweise die Rede sein konnte“ (S. 164). Mit dem Pontifikat Hadrians I. (772 – 795) verbindet sich vermutlich die spektakulärste Fälschung in der Geschichte des Papsttums, die sogenannte Konstantinische Schenkung, ein Dokument, „das den Päpsten zuerst machtpolitisch von großem Nutzen war und ihr Ansehen danach schwer beschädigt hat. […] Gemäß dieser Rechtskonstruktion stand der Papst über dem Kaiser, dem Imperium und allen weltlichen Mächten, die wiederum dem Kaiser untergeordnet waren. Diesen konnte der Papst bei ungenügender Pflichterfüllung wie ein ungeeignetes Werkzeug nach Belieben austauschen. […] Dass der Mittelpunkt der Christenheit [Rom] von einem ausgedehnten Herrschaftsgebiet umgürtet sein musste, das dem päpstlichen Weltherrscher Schutz und Unabhängigkeit garantierte, verstand sich von selbst. […] Durch diese grandiose Märchenerzählung schrumpfte die Pippinsche Schenkung zu einer vernachlässigbaren, ja geradezu peinlichen Größe“ (S. 180ff.). Die Geschichte der nachfolgenden Jahrhunderte sollte zentral – man denke nur an den Investiturstreit – bestimmt sein vom Bestreben um Durchsetzung bzw. Zurückweisung dieser Ansprüche.

 

In seiner bisherigen Forschungsarbeit hat Volker Reinhardt seinen Schwerpunkt auf die Epoche der Renaissance gelegt, was seine erfolgreichen Biographien über Alexander VI. Borgia (2005), Pius II. Piccolomini (2013) und auch Martin Luther belegen, sodass dieser Zeitabschnitt im vorliegenden Band besonders kompetent zur Darstellung gelangt. Weniger Begeisterung haben hingegen bei manchem Kritiker die beiden jüngsten Jahrhunderte ausgelöst. So hat etwa der Rezensent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für diesen Teil den verhältnismäßig zu geringen Umfang der Sektion, eine angeblich selektive Literaturauswahl und eine unscharfe Konturierung beklagt. Insbesondere würden die päpstlichen Bemühungen im „Zeitalter der Diplomatenpäpste“ ab 1878 nicht hinreichend gewürdigt und die faktische Erneuerungskraft des II. Vaticanums unterschätzt. Zuzustimmen ist sicherlich der Feststellung, dass auch der glaubwürdige Verzicht auf einen konfessionellen Standpunkt nicht davor bewahrt, bestimmte Gesichtspunkte zu Lasten anderer verstärkt ins Auge zu fassen. Eine Aufarbeitung der Geschichte des Papsttums unter dem dominanten Aspekt der Herrschaftsausübung wird demnach dessen Selbstverständnis als Wächter über das Seelenheil des Menschen nicht zum zentralen Objekt ihres Interesses machen und deshalb auf diesem Feld womöglich zu diskussionswürdigen Schlussfolgerungen gelangen. Ob in diesem Sinne auch der amtierende Papst Franziskus in seiner Amtsführung tatsächlich, wie im vorliegenden Band angedacht, nur einem bekannten Rollenmodell der Herrschaft folgt und am päpstlichen Absolutismus nicht zu rütteln gewillt ist, wird die Zukunft erweisen.

 

Die den laufenden Text begleitenden Illustrationen hat der Verlag – wohl aus Kostengründen – in Schwarzweiß gehalten; Farbtafeln wären sicherlich eindrucksvoller und hätten den Band zusätzlich aufgewertet. Abgesehen von diesem Desiderat ist die Ausstattung durchaus zweckmäßig, wenn auch nicht üppig. Da der Band auf den üblichen Anmerkungsapparat verzichtet, kommt der ausführlichen Bibliographie eine erhöhte Bedeutung zu. Um dem interessierten Leser den Zugang zu relevanter Information zu erleichtern, wurden ausgewählte Werke noch einmal aus dem allgemeinen Literaturverzeichnis ausgekoppelt und blockweise zu chronologisch zusammengestellten Literaturhinweisen versammelt (Überblicksdarstellungen und Epochenabrisse; Anfänge bis 715; 715 – 1415; 1415 – 1800; 1800 bis heute). Die „Liste der Päpste und Gegenpäpste“ basiert auf den offiziellen Angaben des vatikanischen „Annuario pontificio“ des Jahres 2016 und folge hinsichtlich ihrer Zuschreibungen dessen „dogmatischen Vorannahmen“ (S. 879), die aber durch die komplexere geschichtliche Wirklichkeit und das abweichende Urteil der Zeitgenossen zu relativieren seien. Ein zwei Seiten einnehmender Stadtplan des historischen Zentrums von Rom und drei weitere topographische Darstellungen im Umfang von jeweils einer Seite (das christliche Rom im 2./3. Jahrhundert mit Titelkirchen und Friedhöfen; die annonarischen Provinzen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert; die Provinzen des Kirchenstaats unter Pius IX. vor 1860) runden neben dem Personenregister – auf ein für die Zusammenschau durchaus zweckmäßiges Sachregister wurde verzichtet – die Liste der Hilfsmittel ab.

 

Volker Reinhardts moderner, um strenge Wissenschaftlichkeit bemühter Darstellung des Papsttums als einer Institution der Macht kommt gerade in einer Zeit, in der der politische Islam verstärkt einen Primat über das profane Herrschaftsmodell reklamiert, Bedeutung zu. Die mit dieser Entwicklung in ihrer Selbstverständlichkeit zunehmend gefährdete aufgeklärte Botschaft, dass Herrschaft, die sich auf Glaubenssätze beruft, jedenfalls zwangsläufig fundamentale Rechte Nichtgläubiger und Andersgläubiger verletzt, bedarf solcher überzeugenden Bekräftigungen.

 

Kapfenberg                                                               Werner Augustinovic