Recht und Konsens im frühen Mittelalter, hg. v. Epp, Verena/Meyer, Christoph H. F., (= Vorträge und Forschungen 82). Thorbecke, Ostfildern 2017, 487 S. Besprochen von Steffen Schlinker.

 

Der vorliegende Tagungsband vereint 14 Aufsätze, denen Referate im Rahmen einer Tagung des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte zugrunde liegen, die unter der Leitung von Verena Epp und Christoph H. F. Meyer vom 27. bis 30. März 2012 auf der Insel Reichenau stattgefunden hat. Die Vorträge widmen sich der Frage, ob es „konsensuale, d. h. unter verantwortlicher Mitwirkung der Großen getragene politische Entscheidungen im Frühmittelalter“ gegeben hat. In ihrer prägnanten „Historischen Einleitung“ (S. 9-17) erinnert Verena Epp noch einmal ausdrücklich daran, dass Herrschaft auf der Basis von Konsens immer wieder als Charakteristikum des Mittelalters beschrieben worden sei. Gerade für die Rechtsfindung in der Gerichtsversammlung muss das nachdrücklich unterstrichen werden, auch wenn nicht auszuschließen ist, dass der König oder ein Graf meinungsbildend in die Urteilsfindung und Entscheidungsfindung eingegriffen haben mag. Ergänzend analysiert Christoph H. F. Meyer in seinem Beitrag „Konsens in der Rechtsgeschichte des frühen Mittelalters“ das Spektrum der Forschungsansichten zum Konsens im frühen Mittelalter mit einem Ausblick auf künftige Forschungen (S. 19-45).

 

Thomas F. X. Noble hebt in „Theological perspectives on law and consensus in the writings of Gregory the Great“ (S. 47-62) insbesondere den Einfluss biblischen Denkens auf das römische Recht hervor, weil die biblischen Lehren von Vergebung, Erlösung und Gnade die Strenge des römischen Rechts abzumildern vermochten. Detlef Liebs kann in seinem Beitrag über „Geltung kraft Konsenses oder kraft königlichem Befehl“ (S. 63-85) zeigen, dass die Zusammenarbeit der Romanen und der westgotischen, burgundischen oder fränkischen Bevölkerung im Rahmen der Rechtssetzung von ganz unterschiedlicher Intensität war. Auch Wilfried Hartmann, „Das Westgotenreich: Mißlingen „konsensualer“ Herrschaft?“ (S. 87-115), hebt hervor, dass es zwar Zeichen für ein Zusammenwirken des Königs mit den Großen gibt, sich ein einheitliches Bild jedoch nicht zeichnen lässt. Die Frage, ob gerade der Mangel an Konsens zum Zusammenbruch der westgotischen Herrschaft im frühen 8. Jahrhundert geführt hat, ist eine von vielen Anregungen in diesem Band für künftige Forschungen.

 

Fergus Kelly, „The evidence for consensus in the Irish law-texts of the seventh to ninth centuries AD“ (S. 117- 128), gewährt einen Blick auf irische Rechtstexte, die dem König situationsabhängig unterschiedliche Befugnisse zuschreiben. Wie in der fränkischen Thinggenossenschaft saß der König dem Gericht nur vor und verkündete das Urteil der „judges“, doch in Notzeiten konnte er auch Verordnungen erlassen. Insoweit liegt wahrscheinlich eine Parallele zum Oberbefehl in Kriegszeiten vor. John Moorhead, „The making and qualities of ostrogothic Kings in the decade after Theoderic“ (S. 129-149), sieht in den von ihm untersuchten Quellen den Konsens weniger in der Herrschaftsausübung als vielmehr in der Herrschaftsbegründung: Konsens sei als Argument zur Legitimierung eines neuen Königs angestrebt worden. Der umfangreiche Beitrag Christoph H. F. Meyers, König Rothari begründet seine Gesetze. Zum Verhältnis von Konsens und Argumentation in den „Leges Langobardorum“  (S. 151-234), erarbeitet aus den langobardischen Quellen den Befund, dass Konsens nicht als bloße Einwilligung zu einer Entscheidung zu verstehen ist, sondern als „Übereinstimmung der Meinungen“ (S. 233) begriffen werden muss, die durch Argumentation und Gesetzesbegründung hergestellt werden sollte.

 

Wolfgang Haubrichs, „Leudes, fara, faramanni und farones“: Zur Semantik der Bezeichnungen für einige am Konsenshandeln beteiligte Gruppen" (S. 235-263), beschäftigt sich in seiner sprachgeschichtlichen Untersuchung mit den „leudes“ und „farones“, die als Volksgruppen in den Quellen der Merowingerzeit eine bedeutende politische Rolle spielten. Auch Steffen Patzold, „Konsens“ und „consensus“ im Merowingerreich“ (S. 265-297) stellt Untersuchungen zum Wortgebrauch anhand normativer und erzählender Quellen an und vermutet, „consensus“ sei als Topos aus kirchlichen Texten vom „consensus fidelium“, der Einigkeit der Gläubigen, in den politischen Raum übertragen worden.

 

Harald Siems, „Herrschaft und Konsens in der „Lex Baiuvariorum“ und den „Decreta Tassilonis“ (S. 299-361), gelingt es, durch sachliche und kritische Arbeit mit den Quellen bisherige Forschungshypothesen zur Lex Baiuvariorum zu widerlegen, Legenden in das Reich der Fabel zu verweisen und eine feste Basis für weitere Forschungen zu begründen (S. 305ff., 328 ff.). Siems betont, der Begriff Konsens lasse sich als Mitgestaltung verstehen, aber auch als Zustimmung, die von den beteiligten Kreisen nicht verweigert werden konnte (S. 301). Der „consensus omnium“ habe schon in der Antike als Merkmal der Wahrheit gegolten (S. 302). Überzeugend weist Siems auch auf das „Problem des Prestigeverlustes“ hin: „Kein Herrscher kann es sich leisten, ohne Unterstützung der Mächtigen zu bleiben. Sich vor aller Augen nicht durchsetzen zu können, kann jede Sachfrage zu einem Politikum machen. Ansehensverlust kann aber auch diese Mächtigen treffen. Sollte die Zustimmung eines von ihnen nicht mehr gefragt sein, so kann er in seinen Kreisen an Bedeutung verlieren, ...“ (S. 302). Der Anstoß zur Rechtsaufzeichnung sei wahrscheinlich vom König ausgegangen, der diese Aufgabe jedoch dann Fachleuten übertragen habe (S. 330). Diese „sapientes“ erstellten sodann die „lex“ auf der Grundlage der „consuetudines“ des Volkes. Daran seien Adel und Volk nicht beteiligt gewesen. Bei der Abfassung der Texte hätten die Redaktoren aus einer Reihe von Vorlagen schöpfen können (S. 319). Die Aufforderung zum „consentire“ sei im Normbildungsprozess nicht als Voraussetzung für die Rechtsgeltung zu verstehen, sondern als erwartete Zustimmung und als Mitwirkung an der Durchsetzung der Regeln (S. 321). So erklärt Siems die Berufung auf die „consuetudo“ des Volkes, auf den angeblichen Konsens aller sowie die inhaltliche Argumentation und den Werteappell als Versuche, Akzeptanz zu begründen, aber dezidiert nicht als Normentstehung aus dem Konsens (S. 358).

 

Roland Steinacher, „Vandalisches oder römische Recht? Betrachtungen zu Recht und Konsens im vandalischen Nordafrika am Beispiel der Verfolgungsgeschichte Victors von Vita“ (S. 363-387), untersucht eingehend die Anwendung römischen Rechts auf die Vandalen durch den vandalischen König in Nordafrika. Chris Wickham, „Consensus and assemblies in the romano-germanic kingdoms: a comparative approach“ (S. 389-426), beschreibt eine ganze Bandbreite unterschiedlicher Wege zur Herstellung von Konsens in mittelalterlichen Versammlungen. Sein vergleichender Ansatz erlaubt ihm den Blick vom westgotischen Spanien und dem langobardischen Italien über das merowingische und karolingische Herrschaftsgebiet bis hin zum angelsächsischen England und den skandinavischen Herrschaften zu wenden. Wickham arbeitet heraus, dass der Konsens teils kaum gesucht, sondern vielmehr erwartet worden sei (westgotisches und langobardisches Königtum), teils seien Verhandlungen notwendig gewesen, um (regelmäßig erfolgreich) einen Konsens herbeizuführen (fränkisches Königtum), teils sei Konsens als Voraussetzung königlichen Handelns betrachtet worden (englisches Königtum), teils sei die Herbeiführung von Konsens als weitgehend aussichtslos angesehen worden (skandinavisches Königtum). Stefan Esders, „Zwischen Historie und Rechtshistorie: Der consensus iuris im frühen Mittelalter“ (S. 427-474), nähert sich seinem Thema zunächst begriffsgeschichtlich und fragt dann, inwieweit die Herstellung von Konsens institutionalisiert worden sei, vor allem im Gericht und in kirchlichen Versammlungen.

 

Wie stets erfüllt auch dieser Band aus der Reihe „Vorträge und Forschungen“ des Konstanzer Arbeitskreises die Erwartungen des Lesers in reichem Maße. Berücksichtigung finden alle geographischen Gebiete des ehemaligen weströmischen Reichs und darüber hinaus. Auf der Basis dieses vergleichenden Ansatzes lässt sich für das frühe Mittelalter zusammenfassend feststellen, dass in den ethnisch und religiös heterogenen germanischen Königreichen erst der Konsens Integration ermöglichte und sowohl Recht als auch Legitimität herbeizuführen vermochte. Die gehaltvollen Beiträge internationaler Wissenschaftler formulieren klare Ergebnisse, legen aber in wissenschaftlicher Redlichkeit auch immer wieder die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis offen. Und nicht zuletzt werden in fast allen Texten weiterführende Fragen gestellt und neue Forschungen angeregt. Daher ist dieser Band zugleich ein schönes Beispiel dafür, dass die Forschung weniger von Ergebnissen, als vielmehr und vor allem von Fragen lebt.

 

Würzburg/Tallinn                                                      Steffen Schlinker