Oltmer, Jochen, Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart. Wissenschaftliche Buchgesellschaft/Theiss, Darmstadt 2017. 288 S., Ill. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Seit seiner Frühzeit ist der Mensch aus vielerlei Gründen angehalten, in Bewegung zu bleiben und seinen Aufenthaltsort zu verändern. Als soziales, auf Gemeinschaft angewiesenes Wesen vollzieht er solche Bewegungen üblicher Weise in kleineren oder größeren Gruppen. Unter den Begriff Migration fallen „jene Formen regionaler Mobilität, die weitreichende Konsequenzen für die Lebensläufe der Wandernden haben und aus denen sozialer Wandel resultiert“, eine Definition, die Bewegungen wie „touristische Unternehmungen, Reisen oder das tägliche Pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsort“ ausschließt. Zumeist sei Migration „verbunden mit einem längerfristigen Aufenthalt andernorts und als Verlagerung des Lebensmittelpunktes von Individuen, Familien oder Kollektiven angelegt“ (S. 20f.). Allgemein als Abwanderung und Zuwanderung, im Staatsgrenzen überschreitenden Kontext als Auswanderung und Einwanderung vollzieht sich Migration in vielerlei Form; durch je eigene Spezifika sei etwa zwischen der Arbeitswanderung, der Bildungs- und Ausbildungswanderung, der Dienstmädchen- und Hausarbeiterinnenwanderung, der Entsendung (Kaufleute, Militär, Beamte, Missionare), der Gesellenwanderung, der Gewaltmigration (Flucht, Evakuierung, Vertreibung, Deportation, Umsiedlung), der Heirats- und Liebeswanderung, der Lebensstil-Migration, dem Nomadismus (Migration als Struktur), der Siedlungswanderung, dem Sklaven- und Menschenhandel, der Wanderarbeit (im Baugewerbe zwischen Großbaustellen) und dem Wanderhandel (Hausierer) zu unterscheiden. Sogenannte Migrationsregime – „ein Geflecht von Normen, Regeln, Konstruktionen, Wissensbeständen und Handlungen institutioneller Akteure, die Migrationsbewegungen kanalisieren und Migranten kategorisieren“ (S. 38) – beschränken die Autonomie des Handelns der Migranten.

 

Im vorliegenden Band gibt der Migrationsforscher Jochen Oltmer, der an der Universität Osnabrück Neueste Geschichte lehrt und dem Vorstand des dortigen Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) angehört, nach einer Einführung (Begriffsklärung und Felder der Historischen Migrationsforschung) und einer allgemeinen Betrachtung der Migrationshintergründe einen Überblick über wichtige Migrationsprozesse deutschen, europäischen und interkontinentalen Zuschnitts vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Sein Ziel ist es, „durch den Blick auf lange Linien des historischen Wandels grundlegende Bedingungen, Formen und Folgen von Migration aufzuzeigen und auf diese Weise einen Beitrag zu leisten, die Wanderungsverhältnisse der Gegenwart zu erklären und Perspektiven zu absehbaren migratorischen Zukunftsfragen zu entwickeln“ (S. 17). Ausgangspunkt ist die mit Beginn der Neuzeit einsetzende territoriale Expansion Europas nach Übersee, die auf lange Sicht die Bevölkerungszusammensetzung in vielen Teilen der Welt veränderte. In der Neuen Welt dominierte im Süden „bis ins 19. Jahrhundert die (Gewalt-)Migration afrikanischer Sklaven, den Norden hingegen prägte die europäische Zuwanderung. Anders als in den spanischen und portugiesischen Besitzungen, die als Beherrschungs- und Ausbeutungskolonien ausgelegt waren, wurden die britischen Kolonien im Norden […] von Beginn an als Besiedlungskolonien verstanden“ (S. 46). Während des „langen“ 19. Jahrhunderts wanderten infolge des „Missverhältnis(ses) von Bevölkerungswachstum und Erwerbsangebot“ (S. 58) in Europa viele Deutsche und andere Europäer nach Übersee ab. Urbanisierung, Agrarmodernisierung und Industrialisierung gingen jeweils mit beachtlichen Migrationsphänomenen einher, ebenso wie der Kolonialismus und die Dekolonisierung. Im Zusammenhang mit den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts treten vor allem Formen der Gewaltmigration verstärkt ins Blickfeld, wie sie auch heute noch viele Asylsuchende betreffen. Der Fall des Eisernen Vorhangs initiierte ab 1989 eine neue Ost-West-Migration in Europa, andere rezente Wanderungsbewegungen hängen mit der zunehmenden Weltbevölkerung, dem Sog urbaner Zentren und dem Klimawandel zusammen.

 

Aus aktuellem Anlass sei auf die Ausführungen des Bandes zur Entwicklung des deutschen Asylrechts und der deutschen Asylpolitik näher hingewiesen. Das 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen erstmalig fixierte individuelle Asylrecht sei „nur selten […] in nationales Recht überführt“ worden, die Bundesrepublik Deutschland bilde mit Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 des Grundgesetzes, „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, eine Ausnahme, indem „jeder politisch Verfolgte, der nach Westdeutschland komme, ohne Einschränkungen einen verfassungsrechtlich einklagbaren Anspruch“ auf dauerhaften Schutz geltend machen kann. Ausschlaggebende Gesichtspunkte für diesen Schritt seien die demonstrative Distanzierung von der nationalsozialistischen Vergangenheit und die Hinwendung zu den Menschenrechten sowie die sich verschärfende West-Ost-Systemkonkurrenz gewesen. Eine nähere Definition der „politischen Verfolgung“ unterblieb bewusst, um die Aufnahme der (ursprünglich vorwiegend ins Auge gefassten) Asylwerber aus der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands nicht einzuschränken, womit allerdings ein „bis heute andauernder Prozess des ständigen Neudefinierens“ in Gang gesetzt wurde (S. 224f.). Während in der Polarisierung des Kalten Krieges Asylsuchende aus Ungarn (1956) und der Tschechoslowakei (1968) noch bereitwillig Aufnahme fanden, stieß die Anerkennung von linksgerichteten Flüchtlingen aus Griechenland (1967) und Chile (1973) auf teils heftigen Widerstand; dass sie dennoch Schutz erhielten, spreche „für eine verbreitete Akzeptanz der Vorstellung, Asyl sei ein universales Menschenrecht und dürfe nicht entlang politischer Einstellungen verhandelt werden“ (S. 227). Das Ausländergesetz von 1965 brachte neben einer Vereinheitlichung des Verfahrens als wichtige Neuerung vor allem die Einführung der Duldung abgelehnter Asylwerber aus politischen oder humanitären Erwägungen. Obwohl in den 1970er-Jahren „(m)ehrere höchstrichterliche Urteile […] zu einer Beseitigung von Barrieren, die die Behörden aufgerichtet hatten, um zu verhindern, dass Flüchtlinge das Asylrecht in Anspruch nahmen“, geführt haben, habe sich mit stark steigenden Antragszahlen im Lauf der 1980er-Jahre ein längerfristiger Trend etabliert: „(J)e häufiger […] das bundesdeutsche Asylrecht in Anspruch genommen worden war, desto stärker wurde es mit Hilfe gesetzlicher Maßnahmen und Verordnungen eingeschränkt“ (S. 228f.). Mit der deutschen Wiedervereinigung 1990 seien dann die 1948/1949 maßgeblichen Rücksichten endgültig für obsolet erachtet worden. Gemäß dem am 1. Juli 1993 in Rechtskraft erwachsenen Artikel 16a des Grundgesetzes „hat in aller Regel keine Chance mehr auf Asyl, wer aus ‚verfolgungsfreien‘ Ländern stammt oder über sogenannte ‚sichere Drittstaaten‘ einreist, mit denen Deutschland lückenlos umgeben ist“ (S. 231), ein unter der Kurzformel des „Dublin-Systems“ bekannter Mechanismus.

 

Warum dennoch seit „2015 weitaus mehr Flüchtlinge in die Bundesrepublik kamen als in den Jahren zuvor“, erklärt Jochen Oltmer mit einem Bündel sechser zusammenhängender Faktoren. So lägen wichtige Konfliktherde wie Syrien und der Irak in relativer räumlicher Nähe zur Europäischen Union (EU). Die migrationspolitische Zusammenarbeit mit den Vorfeldstaaten als wirksame Migrationsbarriere sei durch die destabilisierenden Effekte des Arabischen Frühlings und des Ukraine-Konflikts weitgehend deaktiviert worden, das „Dublin-System“ durch seine Lastenverteilung zu Ungunsten der wirtschaftlich schwächeren Randstaaten wie Griechenland oder Italien bei hohen Asylbewerberzahlen überfordert und weitgehend unwirksam. In Deutschland existierten seit längerer Zeit migrantische Netzwerke als Anlaufstationen und Motivatoren für weiteren Zuzug. Die zunächst „relativ große Aufnahmebereitschaft in der Bundesrepublik Deutschland (bis weit in das Jahr 2015 hinein)“ fußte auf günstigen Wirtschaftsdaten, positiven Zukunftserwartungen, der Akzeptanz menschenrechtlicher Standards und der „Anerkennung des Erfordernisses des Schutzes vornehmlich syrischer Flüchtlinge“. Da traditionsreiche und potente Aufnahmeländer wie Großbritannien und Frankreich infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise ihr Engagement einschränkt hätten, sei Deutschland als „Ersatz-Zufluchtsland“ immer gefragter geworden. Die angestrebte Vergemeinschaftung der Flüchtlingspolitik auf europäischer Ebene müsse jedoch „als fragmentiert bezeichnet werden, gewissermaßen ein in den Anfängen steckengebliebenes Projekt“. Der Verfasser registriert abschließend, dass mittlerweile in politischen Debatten und in der medialen Berichterstattung Migrationsbewegungen im Vordergrund stünden, „die als (potenzielle) Gefahr für die Sozialsysteme, die innere und äußere Sicherheit, aber auch für den gesellschaftlichen Frieden in Bundesrepublik und EU eingeschätzt werden“. Dabei werde übersehen, „(d)ass Europa nur ein kleiner Teil der umfangreichen Fluchtbewegungen aus und in den Kriegs- und Krisenzonen der Welt erreicht“, wie auch „die Normalität der europäischen Migrationssituation mit ihren umfangreichen räumlichen Bewegungen zur Wahrnehmung von Erwerbs- und Bildungschancen andernorts“ (S. 234ff.).

 

Ob diese Relativierung der Perspektive geeignet sein mag, die erhitzten Gemüter in Deutschland und Europa zu beruhigen, darf bezweifelt werden. Jochen Oltmer enthält sich auch dahingehend jeder Spekulation. Seine Ausführungen beschränken sich durchgehend auf eine deskriptive Ebene und meiden wertende Stellungnahmen ebenso wie weitschweifige Prognosen jenseits statistischer Berechnungen, auf eine Zusammenfassung des Wesentlichen wird verzichtet. Es bleibt daher weitgehend dem Leser überlassen, aus den Darlegungen, den insgesamt 18 Schaubildern (Diagramme und Karten) und den Daten der sechs Tabellen seine eigenen Schlüsse zu ziehen.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic