Nolte, Hans-Heinrich, Kurze Geschichte der Imperien. Mit einem Beitrag von Nolte, Christiane. Böhlau, Wien 2017. 505 S., 18 Tab., 12 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Allein auf sich gestellt in einer widrigen Umwelt auf Dauer nicht überlebensfähig, hat sich der Mensch von Anbeginn in kleinen, später in größeren Gruppen zusammengeschlossen. Die komplexe Frage, welche dieser sich als Herrschaftsgefüge ausdifferenzierenden Organisationsformen kraft ihrer Lösungspotentiale dem allgemeinen Wohl am besten gerecht wurde und wird, steht im Hintergrund der Untersuchung des emeritierten, einst an der Universität Hannover lehrenden Osteuropa- und Globalhistorikers Hans-Heinrich Nolte, der vor allem, aber keineswegs ausschließlich an Forschungen des Politikwissenschaftlers Herfried Münkler und an Immanuel Wallersteins Weltsystemtheorie anknüpft. In Betracht stehen das Imperium, der Nationalstaat und die Union. Der Ansatz des Verfassers ist breit, offen und selektiv; sympathisch gesteht er ein, „(a)ufgrund geringer oder fehlender Kompetenz […] leider keine Beispiele aus dem vorkolumbianischen Amerika und aus der romanischen Welt“ einzubeziehen (S. 8). In fünf Kapiteln werden 14 Imperien und/oder Hegemonialmächte skizziert und abschließend jeweils anhand eines festgelegten Kriterienkatalogs beschrieben. Ein weiteres, abschließendes Kapitel versucht Wesen und Leistungen von Imperien und Unionen zu bilanzieren.

 

Die Darstellung beginnt im ersten Abschnitt mit Betrachtungen zur bereits mehrfach ventilierten Streitfrage, ob die USA im 21. Jahrhundert den Weg zu einem neuen Imperium gingen. Es könne zwar „nicht die Aufgabe eines Historikers sein, über die politischen Lösungen der Zukunft zu schreiben“, aber da „mit den Imperien eine politische Herrschaftsform wieder ins Gespräch gekommen ist, die über 3000 Jahre alt ist, kann ein Historiker versuchen, eine Übersicht über Leistungen und Defizite von Imperien anzubieten. […] Es verspricht also Aufschluss, wenn die Geschichte der Imperien erstens global verglichen und zweitens in den Kontext der Kritik durch die kleinen Einheiten und besonders die Nationen gestellt wird“. Mit der nötigen Vorsicht könne man die – sich im Lauf der Darstellung bestätigende – „These vorausschicken, dass Imperien viele Jahrhunderte lang Kommunikation und Austausch innerhalb von Großregionen, von ‚Kulturen‘ und ‚Kontinenten‘ erleichterten und eher als kleine und einzelne Staaten Schutz gegen schwer zu fassende nomadische Gegner boten. Schlechter als Einzelstaaten sicherten sie Konkurrenz und Kontrolle sowie die Realisierung regionaler, ethnischer, religiöser oder anderer partikularer Interessen. Und Imperien boten geringere Möglichkeiten der Identitätsbildung“ (S. 13f.).

 

Der vorher erwähnte, der Überprüfung zugrundeliegende Kriterienkatalog generiert sich aus der Vielzahl der Definitionen, die zum Begriff des Imperiums vorliegen. Er umfasst folgende zwölf Elemente (vgl. S. 43): 1. Dynastie (monarchische Spitze); 2. Staatsreligion; 3. Reichskultur; 4. Bürokratie (geschriebene Reichssprache, andere Mittel zur Informationssicherung); 5. Adel oder andere Formen von alimentierter Elite; 6. Zentral organisierte Armee (und/oder Marine); 7. Zentral erhobene Steuern und Abgaben; 8. Vielfalt der Provinzen (auch der unterworfenen Königreiche); Zentrum (Metropole)-Peripherie-Gefälle; 9. „Weiche“ Grenzen, oft Grenzsäume; 10. Dem starken Imperium entspricht ein schwacher Staat; 11. Dauerhaftigkeit, Friede („augusteische Schwelle“); 12. „Barbaren“ vor den Toren, hinter den Mauern. Expansion fehlt in dieser Aufstellung der konstituierenden Merkmale von Imperien – vielleicht überraschend, und doch bewusst, denn der Verfasser konstatiert wohl mit Recht, dass diese „eine Universalie der Weltgeschichte ist und kolonialer Expansionismus seit dem Mittelalter ein Charakteristikum aller Staaten des europäischen Systems“ (S. 16). Die Messung anhand dieses Kriterienkatalogs steht jeweils am Ende eines Untersuchungsprozesses, der sich zusammensetzt aus einem chronologischen Aufriss, Hinweisen zu Quellenkunde und Methode sowie Explikationen zu den sozialen Einheiten und der Ökonomie, zu Religionen und Ideologien, zu den Außenbeziehungen sowie zu den Formen von Politik. Zeitleisten, Tabellen und Kartenskizzen gewährleisten jeweils die zusammenfassende Orientierung.

 

Konkret unterscheidet die Darstellung zwischen den originären „Imperien als Zusammenfassung einer Welt“ (Kap. 2: Neuassyrisches Reich – dieser Beitrag stammt von der Ehefrau des Verfassers, Christiane Nolte; Rom; China unter den Song; Mongolische Reiche – Dschingis Khan; Osmanisches Reich; als Gegenbewegung: Israel), „Imperien als Wiederherstellungen“ einstiger Imperien (Kap. 3: Heiliges Römisches Reich; Indien unter den Moguln; China unter den Mandschu; als Gegenbewegung: Ein Weltsystem von Nationen), „Imperien als Mitglieder des Weltsystems“ (Kap. 4: Russland; Großbritannien; Indien unter den Briten; als Gegenbewegung: Aufstand der Nationen?) sowie „Unionen – oder doch Imperien?“ (Kap. 5: UdSSR; Aus Sowjetrepubliken werden Nationen; Das „Dritte Reich“; Die USA als globale Nation). Die materialreichen Betrachtungen münden in den Schluss, dass das „Konzept Imperium“ in seinem heutigen Bedeutungsfeld „die Diskussionen und Verwerfungen, die Rückkoppelungen in den vielen Erneuerungen, die Überlappungen zwischen globaler Wirkung und lokaler Beharrung und nicht zuletzt den Gebrauch als Schimpfwort (umfasst)“ und daher „für gegenwärtige Phänomene nicht mehr erklärungskräftig“ sei. „Versteht man die Gegenwart in ihrer Geschichte genauer, wenn man auch die UdSSR und die USA sowie auch die EU Imperium nennt, oder macht man es sich zu einfach, simplifiziert man die Welt? Meines Erachtens führt diese Begriffsbildung eher zu konzeptionellen Schwierigkeiten. […] ‘Imperium’ hat eine Geschichte, einen Anfang und ein Ende. Es ist eine Aufgabe der Geschichtswissenschaft, Verfremdungen und Mythologisierungen zu kritisieren; aber auch eine Aufgabe, Fremdes als fremd zu erkennen und damit historische Alternativen zu beschreiben“ (S. 471f.). Dabei sei selbstverständlich real nicht völlig auszuschließen, dass irgendwann eine Hegemonialmacht dennoch wieder ein Imperium begründe, denn die „Möglichkeiten, eine Dummheit zu begehen“, seien nun einmal „unbegrenzt“, und „es wäre eben eine Dummheit den Anschein zu erwecken, als könne irgendeine Macht die Probleme der Welt aus einem Punkt heraus bearbeiten (oder sogar lösen). Klar, diese imperiale Macht könnte für einen Tag Millionen likes bekommen, weil so viele froh wären, wenn jemand ihnen die Verantwortung abnehmen würde. Aber er würde doch schon fünf Tage später in einem shitstorm untergehen“ (S. 465).

 

Wenn also das Konstrukt des Imperiums faktisch ausgedient hat – welches Modell erscheint unserer Gegenwart und Zukunft angemessen? Hans-Heinrich Nolte gibt auf der Basis seiner Beobachtungen eine klare, wenig überraschende Antwort: „Was die Welt auf der politischen Ebene des Handelns braucht, sind Verbindungen von Nationalem und Globalen, sind also Unionen“ (S. 473). Als frühe Beispiele dafür erscheinen zunächst die Schweiz im 16. Jahrhundert und die Niederlande im 17. Jahrhundert, denen es gelungen sei, „sowohl ein regionales, kantonales oder sogar lokales Interesse oder Identitätsbewusstsein als auch ein überregionales ‚nationales‘ Interesse in eine erfolgreiche Arbeitsbeziehung“ zu bringen, noch „leistungsfähiger“ sei dann die Lösung der USA im 18. Jahrhundert gewesen (S. 460). Nach dem Sieg im Zweiten Weltkrieg 1945 „(verhielten sich) die USA anders als alle ‚Imperien‘ vor ihnen, die lebende Beute […] durch die Hauptstädte getrieben oder gleich auf Sklavenmärkten verkauft bzw. bis zum 20. Jh. wenigstens ‚Reparationen‘ gefordert haben. Es hatte sich etwas Grundlegendes verändert. Es scheint eher, dass die USA im Zweifelsfall davor zurückschrecken, den Weg von der Hegemonialmacht zum Imperium zu gehen“, was unter anderem in „Nichtbeitritten zu vielen […] globalen Institutionen (Klimaabkommen, Internationaler Strafgerichtshof z. B.)“ seinen Ausdruck finde (S. 440). Die bisherigen programmatischen Aussagen der aktuellen Trump-Administration scheinen diesen Befund zu stützen, wobei deren isolationistische Tendenz angesichts der politischen und ökonomischen Potenz der USA insgesamt kontraproduktiv wirkt. Der Verfasser schlägt in dieselbe Kerbe: „(D)ie USA bringen die Mittel (sieht man von der Rüstung ab) nicht auf, um die globale Welt zu ordnen; ökonomisch leben sie vielmehr seit mehreren Jahrzehnten über ihre Verhältnisse – finanziert nicht zuletzt durch chinesische Anleihen. Die USA behindern aber auch die Entwicklung der globalen Institutionen mit dem Hinweis auf ihre Souveränität. Deshalb erlaube ich mir das Paradoxon, die USA als globale Nation zu bezeichnen“. Die USA würden wohl „mit einem imperialen Konzept ihre Ressourcen überbeanspruchen. […] Allerdings erfordert das Gewicht der Hegemonialmacht, dass die USA sich in die Unionen einordnen, die Regeln einhalten und gefundene Kompromisse akzeptieren sowie kontinuierlich mitarbeiten, und zwar sowohl auf der Ebene der Weltregion als auch auf der Ebene des Globus“ (S. 441ff.). Doch auch die Europäische Union (EU) müsse differenziert beurteilt werden. Indem sie in der Frage einer gleichberechtigten Vertretung dem Beispiel der Verfassung der USA (zwei Häuser) nicht gefolgt sei, sei heute „ein Deutscher […] bei allen Abstimmungen unterrepräsentiert und ein Luxemburger bei allen überrepräsentiert“, was „auf Dauer zu akzeptieren […] für einen Demokraten kein( ) Grund“ bestehe. Auf der anderen Seite „hat die EU ein neues Modell für die verschiedenen Stufen parlamentarischer Mitwirkung entwickelt, das die Weltverfassung ergänzen könnte: das Mehrebenensystem: 1. Kommune, 2. Land, Bundesstaat, 3. Nation, 4. Großregion, Kontinent (für Deutschland: EU), 5. UNO“ (S. 463). Hans-Heinrich Nolte votiert dafür, „Europa möge im Rahmen der Vereinten Nationen die Rolle einer Provinz der Welt akzeptieren sowie in Stabilität und festen Grenzen zu einem solidarischen Ausgleich der immer noch wachsenden sozialen und wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Differenzen innerhalb der Union und der Welt beitragen“ (S. 7).

 

Die Lektüre der sich allgemein an historisch und politisch interessierte Bürger richtenden, detailreichen Studie, die immer wieder auch Rechtsthemen berührt (beispielsweise wird darauf hingewiesen, dass im Heiligen Römischen Reich das „Lehenssystem ein Klientelsystem wie in vielen Gesellschaften der Welt“ war, mit dem Unterschied einer durch die lateinische Rechtstradition und die Rezeption des Römischen Rechts präfigurierten „juristischen Festlegung“, die dann „auch bei der Sicherung der Rechte von Adel, Kirche und Städten gegen den Fürsten und der Entwicklung von einer eher inoffiziellen curia regis zum offiziellen Parlament“ half; S. 199), stellt ungeachtet ihrer benutzerfreundlichen Aufbereitung keine geringen Ansprüche an die geschichtliche Vorbildung. Ein Personenregister erschließt die Darstellung; wer vertieft in die Materie eindringen will, findet im Literaturverzeichnis zahlreiche nützliche Hinweise. Inhaltlich hätte es sich angeboten, im Rahmen der Prüfung imperialer Herrschaftsgebilde auch das wichtige Beispiel der Habsburgermonarchie einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen, zu deren Identitätsverständnis zuletzt Pieter M. Judson („Habsburg. Geschichte eines Imperiums 1740-1918“, 2017) interessante Aspekte angestoßen hat.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic