Friedrich Wilhelm von Loebell: Erinnerungen an die ausgehende Kaiserzeit und politischer Schriftwechsel, hg. v. Peter Winzen, Droste, Düsseldorf 2016. XV, 1255 S. Abb. Besprochen von Werner Schubert.

 

Friedrich Wilhelm von Loebell (1855-1931) war von 1904 bis 1909 Leiter der Reichskanzlei (Vortragender Rat; 1907 Unterstaatssekretär) unter dem Reichskanzler Bülow und von Mitte 1914 bis August 1917 preußischer Innenminister. Mit seiner Edition macht Winzen, von dem mehrere Werke über den Reichskanzler Bülow vorliegen, mit dem vorliegenden Werk erstmals die Erinnerungen Loebells „Ein Leben in Deutschlands Aufstieg und Wende“ (S. 1-186) und eine Auswahl aus dem amtlichen und privaten Schriftverkehr (S. 187-1125) allgemein zugänglich. Auf eine „klassische biografische Einführung“ konnte nach Winzen verzichtet werden, da Loebell in seinen autobiografischen „Erinnerungen“ seine Persönlichkeit und sein politisches Wirken selbst vorstellt (S. XV). Im Übrigen schließt sich an den Dokumententeil ein umfangreiches Nachwort über „Loebells Rolle in der wilhelminischen Innenpolitik“ an (S. 1127-1217). Der Dokumententeil mit 686 Schriftstücken (u. a. Schreiben von v. Loebell bzw. an ihn; Denkschriften und Gesetzentwürfe) umfasst die Teile: Chef der Reichskanzlei (1904-1909; S. 207ff.), Im Wartestand (1909-1914; S. 937ff.), Im Zentrum der preußischen Innenpolitik (1914-1919; S. 847) und Präsident des Reichsbürgerrats (1919-1931; S. 1073).

 

Die „Erinnerungen“, die Winzen, soweit sie den privaten Bereich betreffen, gekürzt hat, hatte Loebell  zwei Jahre vor seinem Tod begonnen und nicht mehr vollenden und alsbald für eine Veröffentlichung redigieren können. Loebell wurde nach Abschluss seiner juristischen Ausbildung zum Regierungsassessor zunächst Landrat in Neuhaus (Oste) und anschließend des Kreises Westhavelland. Von 1898 bis 1900 war er im Reichstag für die Deutschkonservative Partei, anschließend Direktor der Landesfeuersozietät in Brandenburg. Im Reichstag trat er für die Reform des Invalidenversicherungsgesetzes (1899; S. 83f.) ein; die sog. Zuchthausnovelle (Schutz der Arbeitswilligen; S. 87ff.), die 1899 scheiterte, lehnte Loebell ab. In seiner Zeit als Leiter der Reichskanzlei war er u. a. befasst mit den Berggesetznovellen und der 1909 gescheiterten Reichsfinanzreform sowie mit dem Erbschaftssteuergesetz von 1906 (vgl. S. 1170ff.). Auch an der Verabschiedung des Reichsvereinsgesetzes von 1908 war er beteiligt (S. 1163ff.). Als preußischer Innenminister trat Loebell ab 1915 für eine Reform des Wahlrechts zum Abgeordnetenhaus ein (allgemeines Wahlrecht, jedoch mit abgestufter Stimmberechtigung [mit Zusatzstimmen u. a. aufgrund des Lebensalters und der Zahl der erwachsenen Kinder, aufgrund des Vermögens, des Einkommens oder der selbständigen Erwerbstätigkeit; S. 999ff., 1040ff., 1208ff.]), während der Reichskanzler Bethmann Hollweg eine Abstufung des Wahlrechts ablehnte. Nachdem der Kronrat am 9. 7. 1917 mit 10 gegen 6 Stimmen für ein allgemeines Wahlrecht ohne Pluralstimmen abgelehnt hatte, trat Loebell von seinem Amt am 11. 7. 1917 zurück (S. 1049; Entlassung am 5. 8. 1917). Als die Oberste Heeresleitung (Hindenburg, Ludendorff) die „drohende ‚Demokratisierung Preußens‘ vehement“ (S. 1214) ablehnte, reichte Bethmann Hollweg am 13. 7. 1917 sein Abschiedsgesuch ein, das noch am selben Tag bewilligt wurde (S. 1214). Nach seiner Entlassung war Loebell von Mitte 1917 bis Januar 1919 Oberpräsident der Provinz Brandenburg. 1919 übernahm er die Präsidentschaft des überparteilichen, antisozialistischen Reichsbürgerrats, zu deren Zielen er eine „Denkschrift zum Programm einer bürgerlich-nationalen Organisation“ im Juli 1924 vorlegte (S. 1101ff.). Über die Einstellung Loebells zum Nationalsozialismus – die NSDAP hatte in der Reichstagswahl vom 14. 9. 1930 einen Stimmenanteil von 18,3% erlangt – ist dem Nachruf eines nahestehenden Journalisten zu entnehmen, dass Loebell ihm nicht völlig ablehnend gegenüber gestanden hatte, wenn seiner Ansicht nach auch die „nationalsozialistische Bewegung manchen Gedankengängen“ nachgehe, „die mit den wirtschaftlichen Tatsachen nicht in Einklang zu bringen sind“ (S. 1121). Die Edition wird abgeschlossen mit einem Personenregister und Sachregister. Hingewiesen sei noch auf den Bildteil mit 46 Abbildungen (hinter S. 1200). Die zahlreichen Anmerkungen Winzens zu den einzelnen Quellen ermöglichen deren umfassende zeithistorische Einordnung. Mit Recht stellt Winzen abschließend fest, dass „die letzten Endes ausschlaggebende Rolle der von Loebell angeführten Ministerrevolte gegen den Kanzler, die mit Hilfe der OHL und des Kronprinzen zum Erfolg führte, merkwürdigerweise ausgeblendet worden“ sei, sodass sich ein „schiefes Gesamtbild der Julikrise von 1917“ ergeben habe (S. 1217).

 

Insgesamt lässt die Edition nur wenige Wünsche offen. Hilfreich wäre es vielleicht gewesen, wenn Winzen zur Biografie Loebells eine tabellarische Übersicht über das Leben Loebells gebracht hätte. Da die Kopfzeilen der abgedruckten Dokumente grundsätzlich nur den Absender und Empfänger nennen, ist für ihre inhaltliche Erschließung das Sachregister heranzuziehen. Insgesamt verdient die Edition zusammen mit dem Beitrag Winzens über Loebells Anteil an der preußischen Innenpolitik auch das Interesse des Rechtshistorikers, der sich mit wichtigen Gesetzesvorhaben der späten Kaiserzeit und der Zeit des ersten  Weltkriegs befasst.

 

Kiel

Werner Schubert