Liedloff, Julia, Föderalismus in historisch vergleichender Perspektive. Band 4 Föderale Mitwirkung an den Unfallversicherungsgesetzen im Kaiserreich (1884-1911) (= Schriftenreihe des Instituts für europäische Regionalforschungen 27). Nomos, Baden-Baden 2017. 443 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Die historisch-politikwissenschaftliche Arbeit Julia Liedloffs ist ein „Teilergebnis des übergeordneten DFG-Projektes „Integrieren durch Regieren – Funktionsweisen und Wandel des Föderalismus in Deutschen Reich 1871-1914 und behandelt die föderale Teilhabe an den Unfallversicherungsgesetzen zwischen 1884 und 1911“ (S. 5). Weitere Werke des Projekts stammen von Paul Hähnel (Nahrungsmittelregulierung) und Philipp Höfer (Einflussnahme der Einzelstaaten auf die Finanzpolitik des Reichs). Das vorliegende Werk präsentiert die Ergebnisse des Teilprojekts, das „im Bereich der Sozialpolitik angesiedelt ist und die föderale Teilhabe an den Unfallversicherungsgesetzen“ untersucht. Es ging also um die Frage, wie die „politische Entscheidungsfindung im föderalen System des Kaiserreichs am Beispiel der Unfallversicherungsgesetze“ funktionierte (S. 20), wobei die Inhalte der genannten Gesetze nicht im Vordergrund stehen und auch nicht detailliert erschlossen werden. Die Untersuchung Liedloffs beschränkt sich auf die Mitwirkung von Preußen, Bayern, Württemberg, Sachsen, Baden, der Hansestädte Hamburg und Lübeck sowie der mecklenburgischen Herzogtümer. Nicht näher thematisiert wird die interne einzelstaatliche Ebene, sondern nur die Art der Willensbildungsprozesse im Bundesrat und seinen Ausschüssen. Den Erörterungen Liedloffs liegen folgende „Arbeitshypothesen“ zugrunde: Das Kaiserreich sei „ein nicht-hierarchisches, Verhandlungen bedingendes und dynamisches Mehrebenensystem“, die „föderale Komponente“ sei für das Regieren im Kaiserreich von großer Bedeutung, sei es innerhalb des Bundesrats, sei es auch in den diesen umgebenden Konsultations- und Verhandlungsverfahren und der Aufstieg des Reichstags habe „keine unmittelbare Schwächung des föderalen Einflusses auf die Reichspolitik“ gebracht (S. 22 ff.).

 

Im ersten Hauptteil ihrer Untersuchungen geht Liedloff ein auf die Reichsorgane (Bundesrat, Reichskanzler, Kaiser und Reichstag), den Gang der Gesetzgebung, auf das Reichsamt des Innern (RdI, S. 43ff.). Letzteres hatte in der Nachfolge des Reichskanzleramts ab 1879 „weitreichende Aufgaben in der Reichsinnenpolitik“ übernommen (S. 68) und war auch mit der Ausarbeitung der sozialpolitischen Vorlagen befasst (S. 70). In den folgenden Abschnitten werden die besonderen Merkmale des Föderativsystems der Kaiserzeit besprochen (S. 73ff.).

In den Kapiteln 4-6 behandelt Liedloff die Mitwirkung der genannten Bundesstaaten am UVG von 1884, am Gesetz über die Abänderung der Unfallversicherungsgesetze – inzwischen war die Unfallversicherung ausgedehnt worden auf die Land- und Forstwirtschaft (1886), auf die bei Bauten beschäftigten Personen (1887) und auf die Seeleute (1887) – und die Reichsversicherungsordnung (RVO) von 1911. Das UVG von 1884 kam erst nach drei Anläufen (1880/1881, 1882 und 1883/1884) zustande (S. 131ff.), nachdem die Entwürfe zum UVG ohne Beteiligung der Bundesstaaten zunächst in dem Handelsministerium Preußens und anschließend im RdI ausgearbeitet worden waren. Die Bundesregierungen lehnten die im ersten Entwurf vorgesehene Errichtung einer Reichsversicherungsanstalt und die Heranziehung der Armenverbände ab. Erst im dritten Entwurf war die Reichsanstalt durch das Reichsversicherungsamt ersetzt worden, mit dem ein „reichsbehördlicher Eingriff in die Verwaltungshoheit der Länder“ (S. 217) nicht mehr verbunden war. Das Zentrum setzte dann  im Reichstag die fakultative Bildung von Landesversicherungsanstalten (LVA) durch (§ 92 des Gesetzes). Statt der Beteiligung der Armenverbände war ein Reichszuschuss vorgesehen.

 

Die Revision der Unfallversicherungsgesetze erfolgte wiederum erst nach drei Anläufen durch das Gesetz, betreffend die Abänderung der Unfallversicherungsgesetze vom 30. 6. 1900 in Verbindung mit der Revision der einzelnen Unfallversicherungsgesetze (S. 219ff.). Wenn auch die Bundesstaaten an der Ausarbeitung der Entwürfe nicht beteiligt waren, war ihre Fachkenntnis für den weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens unabdingbar. Im Übrigen hatten die Bundesstaaten die Möglichkeit erkannt, über die Reichstagskommissionen Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen. Entgegen den Wünschen Preußens wurden das Kleingewerbe und der Handel in die Unfallversicherung nicht mit einbezogen. Der Rekurs an das Reichsversicherungsamt wurde beibehalten und nicht durch das Rechtsmittel der Revision ersetzt. Die bisherigen Schiedsgerichte für die einzelnen Berufsgenossenschaften wurden aufgehoben und den Schiedsgerichten übertragen, die nach dem Invalidenversicherungsgesetz errichtet worden waren. Emanzipationsbestrebungen des Reichsversicherungsamts gegenüber dem RdI wurden unterbunden, so dass das Reichsversicherungsamt keine oberste Bundesbehörde wurde.

 

An der Reichsversicherungsordnung (RVO) von 1911 waren die Bundesstaaten erst von den Grundzügen vom März 1908 zur späteren Reichsversicherungsordnung an beteiligt (S. 311ff.). Am 15. 1. 1909 wurde die Gesamtfassung des ersten Entwurfs zur Reichsversicherungsordnung den Bundesregierungen übermittelt (S. 322ff.; im April 1909 im Bundesrat), die umfangreichen Beratungen in den Ausschüssen des Bundesrats konnten allerdings erst nach einer dritten Lesung im Februar 1910 abgeschlossen werden (am 7. 3. 1910 Annahme durch das Plenum). Als Hauptprobleme stellten sich heraus das Rechtsmittelsystem und die Finanzierung der Hinterbliebenenversicherung. Während der Beratungen der Reichstagskommission übernahm das RdI die Vermittlung mit den im Bundesrat vertretenen Ausschüssen. Für die Unfallversicherung wurden die Aufgaben der Schiedsgerichte auf die neu geschaffenen Oberversicherungsämter übertragen; der nunmehr eingeschränkte Rekurs an das Reichsversicherungsamt bzw. an eine Landesversicherungsanstalt blieb erhalten. Insgesamt hatte sich das Reichsamt des Inneren von den preußischen Ministern emanzipiert (S. 367).

 

In dem siebten Abschnitt bringt Liedloff eine Analyse der politischen Entscheidungsfindung am Beispiel der Unfallversicherungsgesetze. Analysekriterien sind die drei Dimensionen der Politik: Strukturen, Prozesse/Akteure und Inhalte/Politikergebnisse, denen für die drei Fallbeispiele (UVG 1884, UVG-Novelle 1900 und RVO 1911) im Einzelnen nachgegangen wird. Insgesamt waren alle drei Stufen mit unerheblichen Änderungen verbunden (Wandel der politischen Inhalte, des Institutionalisierungsgrades). Im „Fazit und Ausblick“ (S. 407ff.) stellt Liedloff fest, dass die „Arbeit in den BR-Ausschüssen bürokratisiert und die Behandlung über politisch-strategische Inhalte durch die Beratung sachbezogener Inhalte abgelöst“ worden seien. Den Einfluss der Einzelstaaten auf die Reichspolitik beurteilt sie im Fall der Unfallversicherungsgesetze „von vornherein als gering“, da sowohl das Agenda-Setting als auch die Politikformulierung von der Reichsleitung ausgegangen seien (S. 413). Wenn auch die Kompromissfindung mit dem Reichstag Vorrang hatte, sollte man den Einfluss der in den zuständigen Bundesratsausschüssen vertretenen Staaten auf die Inhalte der genannten Gesetze nicht unterschätzen.

 

Wie Liedloff anmerkt, hat die umfangreiche sozialgeschichtliche Forschung bisher auf die Einbeziehung der Mitwirkung der Einzelstaaten an der Gesetzgebung des Reichs weitgehend verzichtet. Es ist deshalb zu begrüßen, dass Liedloff mit ihrem Werk – wie bereits schon Hähnel und diesem folgend Höfer – die Materialien der Bestände in den Archiven in München, Stuttgart, Karlsruhe, Dresden, Schwerin, Lübeck und Hamburg über die Mitwirkung der Bundesstaaten an der Gesetzgebung des Reichs weiter erschlossen hat, Quellen, die (unter Einbeziehung auch der Akten des Reichsjustizamts und der Willensbildung innerhalb der einzelnen Bundesstaaten) von der Rechtsgeschichte immer noch vernachlässigt werden. Die Darstellung in den Abschnitten über die Genese der Gesetze von 1884, 1900 und 1911 hätte im Interesse des mit dem Inhalt dieser Gesetze nicht voll vertrauten Lesers noch detaillierter sein sollen. Dies wäre insbesondere für die Reichsversicherungsordnung wünschenswert gewesen. Insgesamt vermittelt die Lektüre der Untersuchungen Liedloffs auch dem Rechtshistoriker, der sich mit dem Reichsrecht befasst, wichtige Anregungen zur weiteren Erforschung der Gesetzgebungsgeschichte der Kaiserzeit.

 

Kiel

Werner Schubert