Liebrecht, Johannes, Fritz Kern und das „gute alte Recht“. Geistesgeschichte als neuer Zugang für die Mediävistik (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main 302). Klostermann, Frankfurt am Main 2016. VIII, 161 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Der Verfasser des vorliegenden schlanken Werkes ist seit 1993 in Rechtswissenschaft und Philosophie ausgebildet, seit 2007 bzw. 2013 (als wissenschaftlicher Referent) an dem Max-Planck- Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg tätig und seit 2013 mit einer Dissertation über Brunners Wissenschaft (im Spiegel seiner Rechtsgeschichte) in Regensburg promoviert. Seiner jetzigen Abhandlung stellt er den aus Fritz Kerns 1919 in der Historischen Zeitschrift veröffentlichtem Aufsatz über Recht und Verfassung im Mittelalter entnommenen Satz voran, dass wer „aus klassischen Werken wie Brunners Rechtsgeschichte die Rechtsanschauungen der betreffenden Zeit“ kennenlernen wolle oder zu rekonstruieren versuche, „zu einer wunderlich unzeitgemäßen Vorstellung“ gelangen werde. Sein Interesse an Kerns Lehre ist dabei bereits in einer Untersuchung über das gute alte Recht in der rechtshistorischen Kritik dokumentiert, die in dem von Karl Kroeschell 1996 herausgegebenen Band über Funktion und Form in Bezug auf Quellen- und Methodenprobleme der mittelalterlichen Rechtsgeschichte aufgenommen wurde.

 

Max Friedrich Ludwig Hermann Kern war in Stuttgart am 28. September 1884 als Sohn eines Staatsrats geboren worden und hatte nach dem Abitur des Jahres 1802 zunächst in Lausanne Rechtswissenschaft studiert, war aber nach zwei Semestern nach Tübingen zur Geschichtswissenschaft und nach weiteren zwei Semestern nach Berlin gewechselt, wo er 1906 bei Fritz Tangl mit einer Dissertation über Dorsualkonzept und Imbreviatur – Zur Geschichte der Notariatsurkunde in Italien promoviert wurde. Nach der in Kiel 1909 erfolgten Habilitation mit der Schrift Grundlagen der französischen Ausdehnungspolitik bis zum Jahre 1308 wurde er 1913 außerordentlicher Professor, 1914 als ordentlicher Professor nach Frankfurt am Main und 1922 nach Bonn berufen. Neben seiner universitären Tätigkeit war er lange politisch aktiv, ging aber 1933 in die innere Emigration und 1944 in den Widerstand und floh in die Schweiz.

 

Der Verfasser gliedert seine vielfältige, spannend und in bewundernswerter Kenntnis übergeordneter internationaler Entwicklungen verfasste Studie nach einer kurzen Einleitung in drei Abschnitte. Sie beginnen mit der europäischen Verfassungsgeschichte als Ideengeschichte. In diesem Rahmen widmet sich der Autor zuerst der inneren Entwicklungsgeschichte der monarchischen Herrschaft auf den Feldern Sakralkönigtum und Geblütsrecht, Konsens und Widerstandsrecht sowie Rechtswahrung und Erlösungsdenken, ehe er das Geistige als neuen Horizont der Mediävistik aufweist.

 

Danach wendet er sich dem Entdecker Fritz Kern in der durch die Industrialisierung ausgelösten Krise des geschichtlichen Bewusstseins zu, in der die Intuition zum Schlüssel wird. Dem folgt die Öffnung zu Universalgeschichte, Rassegeschichte und Erlösungskultur des Mittelalters. Im Ergebnis lässt sich der entlaufene Historiker, den politisches Engagement bewegt, als erfolgreicher Außenseiter verstehen, dem der große Plan einer historia mundi allerdings nicht gelingt.

 

Im dritten Teil geht es um das mittelalterliche Denken für die Rechtsgeschichte als einem nationalgeschichtliche Vorgänger  aufweisenden Übungsplatz einer neuen Methode. Auffällig ist dabei Kerns geringes Interesse an der Wirklichkeit des Mittelalters, die ihn zu einer geschickten Kompilation von Quellen unterschiedlichster Gattung und Zeiträume für ein Ideenpanorama verführt. Zwar konnte dieses zeitweilig zahlreiche Leser in seinen Bann schlagen, doch überwiegen nach dem ansprechend bilanzierenden Verfasser die skeptischen, Kerns Konzept ablehnenden Stimmen hinsichtlich seiner lange Zeit als unangreifbar angesehenen idealtypischen, die Wirklichkeit der Quellen vernachlässigenden  These.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler