Liebrandt, Hannes, „Das Recht mich zu richten, das spreche ich ihnen ab!“ Der Selbstmord der nationalsozialistischen Elite 1944/45. Schöningh, Paderborn 2017. 361 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Im Rahmen seiner Autonomie verfügt der Mensch über die Option, seinem Leben aus eigenem Entschluss zu einem frei gewählten Zeitpunkt und von eigener Hand ein Ende zu setzen. Da wiederum der natürliche Selbsterhaltungstrieb ihrer Realisierung entgegensteht, ist diese im Allgemeinen gebunden an subjektiv als unerträglich empfundene Belastungen der Psyche und/oder der Physis, die den Sinn einer Fortführung der eigenen Existenz fraglich erscheinen lassen. Umbrüche wie der Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches vor den Alliierten 1945 vermögen die Summe individueller Krisen bisweilen bis zur epidemischen Hysterie zu verdichten, ein Phänomen, das Florian Huber am Beispiel des Massensuizids in der vorpommerschen Kleinstadt Demmin so anschaulich darzustellen vermochte. Es liegt nahe, dass das, was die einfache Bevölkerung zu solchen Verzweiflungstaten hinriss, umso mehr jene tangieren musste, die sich exponiert und als Verantwortungsträger in führender Funktion das System am Laufen gehalten hatten: die Vertreter der nationalsozialistischen Eliten. Ihrem Verhalten widmet sich exemplarisch die von der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth 2016 approbierte Dissertation Hannes Liebrandts. Die methodischen Klippen, die ein derartiges Unterfangen zwangsläufig zu umschiffen hat, um zu einigermaßen tragfähigen Aussagen zu gelangen, sind nicht zu übersehen. Sie reichen von der Qualität der Selbsttötung als jeweils individuell angelegte, sich systematischer Beobachtung entziehende autonome Entscheidung, deren letztlich ausschlaggebende Motivation quellenmäßig meist nur unzureichend oder gar nicht zu erfassen ist, bis zur Problematik der Definition und Abgrenzung des Personenkreises, der unter dem Begriff der nationalsozialistischen Elite erfasst werden soll.

 

Der Verfasser lehnt „rein assoziative Aneinanderreihungen von Einzelpersonen, die als Eliten betrachtet werden“ (S. 25), als wenig produktiv ab und entscheidet sich stattdessen für die „Abfolge von prosopographischer Erfassung, kollektivbiographischer Analyse und individualbiographischer Einzelbetrachtung in Form biographischer Skizzen“, wodurch „die vorliegende Studie durch die methodische Synthese von objektivierenden und subjektivierenden Zugängen ihren besonderen Stellenwert“ gewinnen soll (S. 26f.). Die drei Großkapitel der Arbeit korrespondieren demzufolge mit drei Ebenen der Untersuchung, die als Diskursebene (Kap. I), Makroebene (Kap. II) und Mikroebene (Kap. III) erscheinen.

 

Auf der Diskursebene wird die Haltung des Nationalsozialismus zum Tod im Allgemeinen und zum Suizid im Besonderen in die historische Entwicklung des Phänomens eingebettet und näher bestimmt. Demnach stand der Kriminalisierung der Selbsttötung durch das Christentum der Individualismus der Aufklärung entgegen, der die Verfügungsgewalt des Individuums über das eigene Leben einforderte. Da sich keine der beiden konträren Positionen endgültig habe durchsetzen können, sei die Wertung des Suizids in der Gesellschaft in der Folge ambivalent geblieben. So konnte zwar einerseits Carl Georg Waechter belegen, „dass das Römische Recht weder eine strafrechtliche Sanktionierung noch eine soziale Ächtung des Suizids kannte“, andererseits habe Paul Johann Anselm Feuerbach vorwiegend aus sozial-gemeinschaftlichen Gründen „die Selbsttötung noch immer für rechtswidrig“ erklärt (S. 36). Diese Unentschiedenheit habe es der nationalsozialistischen Führung erleichtert, eine klare Positionierung in der Frage zu vermeiden und trotz der völkisch-rassenideologischen Vorgaben und Implikationen ihren Standpunkt jeweils pragmatisch dem Kriterium der Herrschaftsstabilisierung folgend zu variieren: „Per se stellte er [der Suizid, W. A.] eine immense Bedrohung für die Stabilität des Dritten Reichs dar und war deshalb auf politische[m] und administrative[m] Weg zu bekämpfen. Andererseits ließen die Nationalsozialisten bewusst Freiräume bezüglich der Bewertung, um über den Selbstmord situativ und abhängig von den Begleitumständen urteilen zu können“, womit die Möglichkeit eröffnet wurde, je nach Opportunität „eine Unterscheidung zwischen einem ehrenvollen und unehrenhaften Selbstmord“ zu treffen (S. 71f.). Der nationalsozialistische Totenkult und seine Instrumentalisierung durch das Regime würden dem ideologisch ganz dem Vitalismus verschriebenen Dritten Reich zugleich „Merkmale einer Nekrokratie“ (S. 60) verleihen, in der in einem Zuge der den Tod verachtende Held propagiert und das reale Sterben marginalisiert sowie Äußerungen der Trauer unterdrückt worden seien. Dass „nahezu alle Nationalsozialisten, Hitler eingeschlossen, den Suizid bis zum letzten Moment hinauszögerten, bis sie sich sicher sein konnten, dass am Ausgang des Krieges kein Zweifel mehr bestand“, zeige aber, dass „(d)er Selbstmord und somit der Märtyrergedanke stets eine Option (war), jedoch erst an zweiter Stelle (rangierte). Das eigentliche Ziel bestand im Leben und somit im Sieg der nationalsozialistischen Idee“ (S. 86). Abgekoppelt von der Ideologie und dem politischen Kontext erscheint ein solches Zuwarten aber wohl auch einfach aus den Motiven der Selbsterhaltung und der Furcht vor dem Sterben sehr plausibel.

 

Für die kollektivbiographische Erfassung definiert Hannes Liebrandt die „vier übergeordnete(n) Elitenbereiche Politik – Militär – Mordzentren – Justiz“, innerhalb derer er eine weitere Binnendifferenzierung vornimmt. Beispielsweise erfolgt die Erfassung der justiziellen Elite „streng hierarchisch und setzt insbesondere den Fokus auf die führenden Eliten des Reichsgerichts, des Volksgerichtshofes und der Oberlandesgerichte“ (S. 88). Die Studie berücksichtigt ausschließlich Selbsttötungen, „denen ein Zusammenhang mit dem Untergang des Dritten Reichs unterstellt werden kann“. Aus einem ermittelten, über 2000 Personen umfassenden Kreis mutmaßlich suizidaler NS-Funktionäre konnten letztendlich „159 hochrangige Selbstmorde innerhalb dieser Führungselite festgestellt werden, die nachfolgend die Basis der Studie bilden“ (S. 90f.), und, reichend von Adam, Fritz bis Zehender, August, mit Namen, Lebensdaten und der Zuordnung zur jeweiligen Elitengruppe gelistet werden (vgl. Abb. 5, S. 91 – 95). Die anschließend näher untersuchten Suizidenten aus den jeweiligen Elitenbereichen werden in weiteren Listen mit ihren Funktionen erfasst (Mehrfachnennung bei Ämterkumulation). Für die politische Führung sind dies Hitler und seine engsten Paladine (Bormann, Goebbels, Göring, Heß, Himmler, Ley), die Reichsminister (Backe, Goebbels, Göring, Himmler, Rust, Thierack) und Staatssekretäre (Pfundtner, Rothenberger), die Reichsleiter der NSDAP (Backe, Bormann, Bouhler, Buch, Goebbels, Himmler, Ley), die Gauleiter (Bracht, Bürckel, Eggeling, Giesler, Goebbels, Henlein, Jury, Meyer, Murr, Simon, Sprenger, Telschow, Terboven), dazu insgesamt 56 Reichstagsabgeordnete und sieben Oberbürgermeister (Freyberg / OB Leipzig, Drechsler / OB Lübeck, Liebel / OB Nürnberg, Mertens / OB Braunschweig, Schick / OB Hannover, Volgmann / OB Rostock, Wamboldt / OB Darmstadt); für das Militär die Generale der Wehrmacht (Blaskowitz, Böhme, Brandt, Burgdorf, Decker, Friedeburg, Geyer, v. Gilsa, Glaise-Horstenau, Göring, v. Greim, Hasse, v. Heimburg, Kinzel, v. Kluge, Krebs, Model, Petri, Rommel, v. Stülpnagel, Wagner) und der Waffen-SS (Bierkamp, Bolek, Freitag, Geibel, Globocnik, Glücks, v. Gottberg, Grawitz, Griphan, Hille, Himmler, Hoffmeyer, Kammler, Kleinheisterkamp, Korreng, Krüger, Montua, Neblich, Pflomm, Prützmann, Pückler-Burghauss, Querner, Redieß, Rumohr, Sauberzweig, Schimana, Schuberth, Schwedler, Thomas, Treuenfeld, Wenzel, Zehender); für die Mordzentren die Initiatoren des Euthanasieprogramms (Bormann, Bouhler, Conti), die T4-Obergutachter (Heyde, Linden) und T4-Gutachter (Lonauer, Müller, Munkwitz, Schneider, Sorger, Steinmeyer), die T4-Anstaltsleiter (Eberl, Lonauer) und 36 weitere führend in den Vernichtungsapparat eingebundene Persönlichkeiten (Mediziner wie Ernst-Robert Grawitz oder August Hirt, Psychiater wie Max de Crinis, Lagerkommandanten wie Max Koegel sowie Eichmanns Judenreferent Theodor Dannecker); schließlich für die Justiz Minister Thierack und Staatssekretär Rothenberger, Reichsgerichtspräsident Bumke, die Oberlandesgerichtspräsidenten Delitzsch (Kassel), Reinle (Karlsruhe), Rothenberger (Hamburg) und Szelinski (Marienwerder), dazu Walter Buch als Oberster Parteirichter der NSDAP, Wilhelm Crohne als Vizepräsident und geschäftsführender Präsident am Volksgerichtshof sowie Heinrich Müller als Präsident des Reichsrechnungshofs. Dass die Suizide von immerhin 19 der erwähnten Funktionäre erst nach 1946 vollzogen wurden, lässt den Verfasser zum Urteil kommen, dass „(d)er apokalyptische Untergang weder von der Mehrheit des nationalsozialistischen Führungskorps angenommen noch in radikaler Weise von den Anhängern konzentriert in der Endphase begangen (wurde)“ (S. 251). Unter dem Titel „‘Götzendämmerung‘ – der inszenierte Tod im Nationalsozialismus“ werden im abschließenden dritten, individualbiographisch angelegten Abschnitt exemplarisch die Selbsttötungen ausgewählter Funktionäre vertieft betrachtet und in spezifischen Kontexten gruppiert (Josef Terboven, Wilhelm Redieß, Heinrich Fehlis und Franz Böhme im System der deutschen Besatzungsherrschaft in Norwegen; Ernst-Robert Grawitz, Werner Heyde und Irmfried Eberl als Vertreter des „Euthanasie“-Programms; Adolf Hitler, Joseph Goebbels, Hans Krebs und Wilhelm Burgdorf für das Ende im Führerbunker; Walter Model, Günter von Kluge und Henning von Tresckow für die Wehrmacht zwischen Gehorsam und Widerstand; Heinrich Himmler und Odilo Globocnik als Symbolfiguren des Genozids; schließlich Hermann Göring und Robert Ley vor den Schranken des Nürnberger Tribunals).

 

Die Schlussbetrachtung versucht die breit angelegten, mit Zahlen statistisch unterfütterten Betrachtungen zusammenzuführen, wobei der Verfasser eingestehen muss, dass für die Suizidenten „keine allgemeingültigen und kollektiven Erklärungsmuster angegeben werden (können)“, sondern bloß „einzelne Motivlagen, die augenscheinlich den Entschluss zum Selbstmord begünstigten“. Allgemein als „maßgebliche Kontinuitätsmuster unter den berücksichtigten Suizidenten“ erkennt die Studie „den frühzeitlichen Parteibeitritt, die relativ hohe Machtstellung, die protestantische Gesinnung sowie die Zugehörigkeit zu der Alterskohorte der 40 bis 55-Jährigen“, dazu die häufig etablierte „existenzielle Abhängigkeit“ vom Regime. Die These, „dass die späteren Selbstmörder durch ein Kontinuum von Gewalterfahrungen geprägt gewesen seien“, habe hingegen keine ausreichende Bestätigung erfahren (S. 330f.). Hervorgehoben werden gezählte fünf, aus prominenten Suizidfällen durchwegs bekannte Motivkonstellationen: Zum Ersten das Motiv der Flucht vor der Verantwortung in einer ideologischen (Angst vor einer Welt ohne den Nationalsozialismus) oder einer mehr pragmatischen Prägung (Furcht vor der Offenlegung und Rechtfertigung des eigenen Tuns), wie es beispielsweise bei der Selbsttötung Heinrich Himmlers im Vordergrund steht. Andere Fälle der Selbsttötung, so der erweiterte Suizid der Goebbels-Familie, verständen sich als Ausdruck nationalsozialistischer Gesinnung, da für ideologisch verwurzelte Nationalsozialisten „im Augenblick des Untergangs nicht nur die eigene Mission (scheitert), sondern auch die historisch-kulturelle Dimension einer gesamten Weltanschauung“ (S. 332). Das Motiv der bewussten Inszenierung habe hingegen vorrangig das Handeln Hermann Görings geleitet, als „Paradigma der eigenen Apotheose“ und „Wunsch […], das historische Urteil über seine Person zu beeinflussen“: „Göring wollte in Gefangenschaft gelangen, er suchte die öffentliche Aufmerksamkeit und bewies im Selbstmord kurz vor der angesetzten Hinrichtung, dass er sich keiner alliierten Befehlsdiktion unterwerfen würde“ (S. 333). Das dementsprechende Zitat aus seinem Mund, überliefert von seiner Gattin Emmy, findet sich im Titel des vorliegenden Bandes. Das Eingeständnis des eigenen Scheiterns (das man zumeist dem ungenügenden Einsatz diverser Mitstreiter anlastete, aber nicht eigenem Verschulden), eine unheilvolle Zukunftserwartung (resultierend aus dem Absolutheitsanspruch, den nationalsozialistische Ideologen in der Deutung der Geschichte erhoben) und schließlich die Flucht vor dem Gewissen (wobei dem Verfasser zufolge der Rekurs auf das Gewissen meist die Funktion der Unterdrückung moralischer oder religiöser Bedenken vor dem Suizid erfüllt habe und nur selten – wie im Fall des Generalobersten Johannes Blaskowitz – tatsächlich als Ausdruck eines Schamgefühls zu verstehen sei) erscheinen als weitere Triebfedern der Selbsttötung. Unübersehbar ist die Offenheit der gebildeten Kategorien, die in vielem ineinandergreifen und trennscharfe Zuordnungen unmöglich machen. Letzten Endes bleibt so jeder Akt der Selbsttötung eines nationalsozialistischen Spitzenfunktionärs doch wiederum ein von einem dem jeweiligen Einzelfall singulär zuzuordnenden Motivkonglomerat gesteuerter Prozess. Als verbindendes Element ist allerdings die Erkenntnis hervorzuheben, dass das entschiedene Bekenntnis zur nationalsozialistischen Ideologie und das Bewusstsein, die Verfolgungs- und Vernichtungsmaßnahmen des Regimes gebilligt oder gefördert zu haben, zahlreiche Funktionsträger nicht an ein sinnvolles Weiterleben nach dem Zusammenbruch glauben ließen. Bezeichnender Weise war der Untergang der Hohenzollernmonarchie 1918 keineswegs mit einer vergleichbaren Suizidwelle unter den Eliten des Kaiserreiches einhergegangen.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic