Lehnhardt, Jochen, Die Waffen-SS: Geburt einer Legende. Himmlers Krieger in der NS-Propaganda (= Krieg in der Geschichte 100). Schöningh, Paderborn 2017. 629 S., 18 Abb., 103 Tab. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Es ist eine anerkannte Tatsache, dass sich der allgemeine Eindruck einer Institution nur zu einem Teil aus ihren faktischen Handlungen speist. Von gleichwertiger, wenn nicht gar größerer Bedeutung sind die selektive Präsentation und bewusst gesteuerte Interpretation des eigenen Agierens durch die Institution selbst und damit die Konstruktion und Verbreitung eines erwünschten Selbstbildes, wie sie einer professionellen Öffentlichkeitsarbeit obliegen. Einmal solchermaßen in das öffentliche Bewusstsein eingedrungene und verfestigte Bilder zeichnen sich durch eine zähe Langlebigkeit aus, ihre nachträgliche Korrektur setzt in erster Linie akribische rezeptionsgeschichtliche Forschungsarbeit auf empirischer Grundlage voraus. In der Erforschung des Nationalsozialismus zeigt etwa die Entwicklung der Hitler-Biographik immer wieder die methodischen Schwierigkeiten auf, die sich aus der Notwendigkeit ergeben, den Schleier der durch Hitlers Selbstdarstellung und den nationalsozialistischen Propagandaapparat gestrickten Mythen zu zerreißen und die Fakten dahinter offenzulegen.

 

Gleiches scheint auch für den militärischen Arm der Schutzstaffel (SS), die Waffen-SS, zu gelten. Das Bild, das wir uns heute von dieser Formation machen, ist zunächst in einem hohen Ausmaß von der Nachkriegs-Lobbyarbeit ihrer Veteranen und höchsten Offiziere geformt worden; von dort fand es Eingang in die ersten, bahnbrechenden und lange nachwirkenden Standardwerke zur Geschichte der Waffen-SS aus den Federn Heinz Höhnes (1967) und George H. Steins (1967). Erst um die Jahrtausendwende begann auf der Grundlage von komparativen Untersuchungen mit dem Ergebnis nahezu identer Verluste, Frontverlegungen und Auszeichnungen bei Spitzenverbänden des Heeres und der Waffen-SS das Bild von der Waffen-SS als einer der Wehrmacht überlegenen Elitetruppe zu bröckeln. 2007 hob Jean-Luc Leleu den vorwiegend politischen Charakter des Aufbaues der bewaffneten SS-Formationen hervor, Fragen ihres militärischen Wertes und des Grades ihrer Ideologisierung wurden in der Folge zunehmend kontrovers diskutiert. Da nun „(a)lle neueren Studien zeigen […], dass die gemeinhin verbreitete Vorstellung von der Waffen-SS als militärisch-ideologischer Elitetruppe keineswegs eine gesicherte Erkenntnis darstellt, sondern vielmehr in all ihren Einzelaspekten der Differenzierung bedarf“ (S. 16), ergebe sich immer dringender die Frage nach dem Ursprung dieser so hartnäckig dominierenden, doch offenbar fragwürdigen Erzählung.

 

Die vorliegende Studie Jochen Lehnhardts erhärtet die nahe liegende Vermutung, dass diese Prägung bereits auf die nationalsozialistische Propaganda zurückzuführen ist, insbesondere auf die professionelle, breit in die damalige Medienlandschaft wirkende Arbeit der Propagandakompanie der Waffen-SS (SS-PK) unter Gunter d’Alquen. Allein 2.829 Beiträge fünfer Blätter (Völkischer Beobachter, Deutsche Allgemeine Zeitung, Frankfurter Zeitung, Das Reich, Das Schwarze Korps), die sich aus dieser Quelle speisen, wertet der Verfasser quantitativ und qualitativ inhaltsanalytisch aus, um die wichtigsten Merkmale der zeitgenössischen Darstellung der Waffen-SS herauszuarbeiten und den Wandel des der Öffentlichkeit präsentierten Bildes im Lauf des Krieges aufzuzeigen. Ausgehend von einer Einleitung, die den Forschungsstand ausbreitet, entwickelt sich die Studie über fünf Kapitel hin zu einer resümierenden Schlussbetrachtung. Im ersten Kapitel werden Fragen der SS-Ideologie, insbesondere des dort gepflegten Heldenmythos, und des militärischen Werts der Waffen-SS erörtert. Das zweite Kapitel widmet sich der Organisation der deutschen Kriegspropaganda im Kontext der Medienlenkung und der institutionellen Struktur der militärischen Propaganda zwischen dem Propagandaministerium (RMVP), der Abteilung Wehrmachtpropaganda beim Oberkommando der Wehrmacht (OKW/WPr) und den nachgeordneten Propagandakompanien (PK). Sodann folgt im dritten Kapitel die ausführliche Darstellung von Organisation, Ausstattung, Personal und medialer Differenzierung des Kriegspropagandaapparats der SS, also der SS-Propagandakompanie, unter Berücksichtigung ihres Verhältnisses zu maßgeblichen Akteuren des Systems wie Hitler, Propagandaminister Goebbels, Reichspressechef Otto Dietrich und der Wehrmacht. Kapitel vier liefert die erwähnten zentralen Inhaltsanalysen, das abschließende Kapitel fünf den Ausblick auf den Transfer des von der nationalsozialistischen Propaganda kreierten spezifischen Bildes der Waffen-SS in den 1960er-Jahren – als die frühen, von der Generalität der Wehrmacht bestimmten und die Waffen-SS nur wenig berücksichtigenden Darstellungen zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs an Glaubwürdigkeit eingebüßt hatten – über die apologetische Erinnerungsliteratur ehemaliger hoher Kommandeure der Waffen-SS hinein in die wissenschaftliche Literatur. Kurze Zusammenfassungen und das Festhalten von Zwischenergebnissen am Ende einzelner Abschnitte sorgen zusätzlich für inhaltliche Klarheit und eine gute Orientierung.

 

Jochen Lehnhardt kommt nach Auswertung seiner Daten zum Schluss, dass es der SS-Kriegsberichterstattung nicht darum gegangen sei, das reale Frontgeschehen und das dortige Verhalten der Soldaten der Waffen-SS ungeschminkt und detailgetreu zu vermitteln. Allein „eine unverzichtbare Basis an Fakten“ wurde zur Erlangung der erforderlichen Glaubwürdigkeit übernommen; hingegen wurden „die Beschreibungen ihres Fronteinsatzes entsprechend der Ideale der SS-Ideologie modelliert“ und die Absichten der Reichsführung-SS umgesetzt, wonach die SS-Truppen „sowohl als ideologische wie auch als militärische Elite erscheinen“ mussten, um ihre Existenz und ihren Fronteinsatz zu legitimieren, die begehrten Freiwilligen zu ködern sowie den gesamtgesellschaftlichen Führungsanspruch der SS aufrecht zu erhalten. Die realen, „durchaus beachtlichen militärischen Erfolge der Waffen-SS“ hätten aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf dem propagierten Leitbild eines weltanschaulichen Fanatismus gegründet, sondern „auf der Feuerkraft der bei Eliteeinheiten wie der ‚LAH‘ [= Leibstandarte Adolf Hitler], ‚DR‘ [= Das Reich] oder ‚TK‘ [= Totenkopf] konzentrierten modernen Panzer und Artillerie, auf der ungewöhnlich starke[n] Motorisierung wie auch auf der im Laufe des Krieges gewonnenen Erfahrung der SS-Soldaten, also auf klassischen Voraussetzungen für eine große Kampfkraft im militärischen Bereich“ (S. 543f.).

 

Dass es der ab 1940 agierenden SS-Propagandakompanie gelungen sei, ihre Produktionen in einem immer stärkeren Ausmaß in der deutschen Medienlandschaft zu lancieren, sei mehreren günstigen Faktoren geschuldet. Für den außergewöhnlichen Erfolg dieses SS-Unternehmens sorgte vor allem sein organisatorisch und fachlich versierter Kommandeur, der Hauptschriftleiter des „Schwarzen Korps“ Gunter d‘Alquen, der ungeachtet seiner Jugend bis in die höchsten Etagen der Führung des nationalsozialistischen Staates bestens vernetzt war, qualifiziertes Personal aus allen Medienbereichen an sich zog oder ausbilden ließ, materielle Ressourcen erschloss und die Selbständigkeit seiner Einheit gegenüber den Begehrlichkeiten der lokalen Truppenführer zu wahren vermochte. Große Bedeutung seien zudem dem gut funktionierenden Kuriersystem, das den raschen Transport des Materials von der Front in die Heimat und damit eine hohe Aktualität gewährleistete, sowie dem speziellen Lektorat zugekommen, das jeden Artikel hinsichtlich seiner Verwertbarkeit prüfte, verbesserte und Vorschläge für das jeweils bestgeeignete Publikationsmedium unterbreitete. Ende 1941 habe die SS-Propaganda an Fahrt aufgenommen, nachdem Hitler den Ausbau der Waffen-SS zur Massenorganisation genehmigt und die Ausrüstung ihrer wichtigsten Divisionen mit modernen Panzern angeordnet hatte. „Ab 1942 […] wurde die Waffen-SS allgemein als die mit dem ‚Führer‘ besonders verbundene Verkörperung der kämpferischen Ideale der NS-Ideologie und […] auch als militärische Elite dargestellt“, ab 1943 „zum Hoffnungsträger auf einen doch noch möglichen ‚Endsieg‘“ und 1944 „zu der Heimat der kriegsfreiwilligen, fanatisch nationalsozialistischen deutschen Jugend stilisiert, und schließlich, nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944, ganz offen zum Vorbild der Wehrmacht erklärt“ (S. 547). Ein grundlegendes Erfolgsgeheimnis der SS-Propagandisten sei dabei ihre Fähigkeit gewesen, im Rahmen der inhaltlichen Vorgaben der von Goebbels eingeforderten großen Bandbreite textlicher und medialer Präsentation Genüge zu tun, damit den Eindruck der gesteuerten Einförmigkeit zu vermeiden und stattdessen die erwünschten Botschaften subtil und abwechslungsreich an die Rezipienten zu bringen.

 

Die Wirksamkeit des von der Waffen-SS medial gezeichneten Selbstbildes habe mit hoher Wahrscheinlichkeit auch an den Reichsgrenzen nicht Halt gemacht, denn auch in den zeitgenössischen alliierten Medien seien die SS-Truppen „allem Anschein nach als fanatische Elite der nationalsozialistischen Wehrmacht beschrieben worden“, und wie in Deutschland sei diese Interpretation auch im Ausland heute noch vielfach in populären Veröffentlichungen anzutreffen. Allerdings sei „(v)öllig unbekannt […], welche Merkmale der Waffen-SS zu welchem Zeitpunkt zugeschrieben wurden, auf wen diese Darstellung zurückging, wie einheitlich dieses Bild in den verschiedenen Ländern war, wann es aufkam und ob sich Gemeinsamkeiten mit der deutschen Propagandadarstellung feststellen lassen“. Bevor man diese Umstände nicht kläre, sei Vorsicht solchen Publikationen gegenüber angebracht, die ein Bild verbreiteten, das „meist wenig mit einer nachprüfbaren Wahrheit zu tun hat, sondern im Wesentlichen eine Art Recycling der alten Propagandavorstellungen ist“ (S. 551).

 

Die Frage nach der endgültigen Einschätzung der militärischen Fähigkeiten der Waffen-SS wird somit auch in Zukunft auf der Agenda der Zeitgeschichtsforschung bleiben und nur über erweiterte methodische – vor allem militärgeschichtliche – Zugänge einer Klärung zugeführt werden können. Jochen Lehnhardts 2015 von der Universität Mainz approbierte, von Sönke Neitzel betreute Dissertation leistet mit ihrer Analyse der SS-Kriegspropaganda und des von dieser medial gezeichneten Bildes der bewaffneten SS-Formationen insofern wichtige Grundlagenarbeit, als sie die hohe Übereinstimmung rezenter Vorstellungen mit den interessensgeleiteten, von der zeitgenössischen Propaganda forcierten angeblichen Charakteristika des Kampfs der Waffen-SS empirisch nachweisen, den Weg ihrer Tradierung aufzeigen und damit vermeintlichen Gewissheiten die Qualität möglicher Konstruktion zuschreiben kann. Mit Fleiß hat der Verfasser bislang nicht beachtete Quellenbestände vor allem zum Wirken der SS-Propagandakompanie erschlossen. Die inhaltliche Aufschlüsselung seiner die Aufmerksamkeit des Lesers reichlich strapazierenden, mehr als 100 detaillierten Tabellen bewerkstelligt ein eigenes, in den Anhang gestelltes Codebuch. Dass er es mit der Schreibung der Namen einiger namhafter Persönlichkeiten offenbar nicht so genau nimmt (so etwa Margarete Boverie, Emil Dovivat, Dietrich Eckard, Carl Friedrich Erdmann statt richtig Margret Boveri, Emil Dovifat, Dietrich Eckart, Karl Dietrich Erdmann), ist nicht erfreulich, sei ihm darüber aber nachgesehen.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic