Hein, Bastian, Die SS. Geschichte und Verbrechen. Beck, München 2015. 127 S., 10 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Wohl keine andere Organisation verkörpert die Ideologie des Nationalsozialismus und die mit der nationalsozialistischen Herrschaft verbundenen Schrecken so sehr wie die Schutzstaffel, kurz SS. Geboren 1923 aus dem Bedarf Hitlers an einer kleinen, verlässlichen persönlichen Leibwache, baute Heinrich Himmler seit 1929 seinen „Schwarzen Orden“ systematisch zu einem effizienten Herrschaftsinstrument aus, das, 1934 blutig von der Sturmabteilung (SA) emanzipiert, gleichsam polypenhaft Staat und Gesellschaft durchdrungen und auf rassistischer Grundlage unerbittlich und mit radikaler Konsequenz die Bekämpfung und Ausmerzung der vom Regime definierten Gegner vollzogen hat. Dergestalt exponiert, ist die SS vom Internationalen Militärtribunal (IMT) in Nürnberg zur verbrecherischen Organisation erklärt worden, ein Umstand, der es anderen Institutionen des NS-Staates und auch der Nachkriegsgesellschaft insgesamt ermöglichte und erleichterte, über lange Zeit die eigene Mitwirkung an Verbrechen zu unterschlagen und den Popanz eines Images der Sauberkeit aufzubauen – Mythen, die mittlerweile von der neueren Forschung systematisch dekonstruiert worden sind.

 

Bastian Heins Expertise auf dem Feld der Geschichte der Schutzstaffel ist unbestritten, 2011 wurde er mit einer grundlegenden Studie zur Allgemeinen SS (veröffentlicht 2012) in Regensburg für das Fach Zeitgeschichte habilitiert. Die jüngste Schrift bietet, der Grundidee der Reihe Wissen des C. H. Beck-Verlages folgend, eine kompakte, auch dem historischen Laien eingängige Orientierung zum Thema auf dem aktuellen Stand der Forschung. Trotz des mit etwa 110 Seiten Text sehr beschränkten Rahmens, der den Verzicht auf einen dokumentierenden Anmerkungsapparat erzwingt, reduziert sich so die Darstellung nicht auf eine einfache Chronik der Ereignisse, sondern problematisiert die konstituierenden Wesenselemente der behandelten Organisation ebenso wie Fragen ihres Nachlebens und der Rezeption. Eine zwei Druckseiten umfassende Auswahlbibliographie im Anhang verweist den näher Interessierten auf weiterführendes Schrifttum.

 

Das erste der insgesamt sechs Kapitel stellt die Entstehung der nationalsozialistischen Parteiarmeen SA und SS in den allgemeinen Kontext der Militarisierung der deutschen Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg. Zunächst hätten sich die beiden Formationen kaum voneinander unterschieden, außer vielleicht darin, dass die Männer der Schutzstaffel „noch intensiver an den Straßen- und Saalschlachten der ‚Kampfzeit‘ beteiligt (waren) als die braunen Bataillone der SA“ (S. 13). Erst – wie Kapitel zwei veranschaulicht – dem ab 1929 als Reichsführer-SS eingesetzten, unterschätzten Organisationstalent Heinrich Himmler sei es gelungen, im Zuge heftiger interner Konflikte in der nationalsozialistischen Bewegung „sich nicht nur formal und organisatorisch, sondern auch programmatisch und inhaltlich von der Sturmabteilung abzugrenzen“ und „den ‚Schwarzen Orden‘ nach innen und außen als Elite“ sowie als „‘Auslese besonders ausgesuchter Menschen‘ der ‚nordischen Rasse‘“ zu propagieren (S. 24f.). Die Darlegung des mit einem hohen Anspruch intendierten, aber in der Praxis immer mehr aufgeweichten Auswahl- und Aufnahmeverfahrens der SS, der Erziehung der SS-Männer, der kultischen Versatzstücke und der SS-Suborganisationen „Ahnenerbe“ und „Lebensborn“ leistet das dritte Kapitel, bevor im vierten Abschnitt die Entwicklung der Konzentrationslager und die Verschmelzung der SS mit der Polizei zu einem „Staatsschutzkorps“, das fortan in erster Linie nicht mehr reaktiv, sondern präventiv agieren sollte, zur Sprache kommen: „Polizeibeamte sollten nicht mehr nur politische Feinde ausschalten und Gesetzesbrecher fangen, sondern gegen all diejenigen vorgehen, die von den Nationalsozialisten als ‚abweichend‘ vom ‚normalen‘, ‚gesunden‘ Zustand des Volkes betrachtet wurden […], wobei die Deutungsmacht darüber, was normal und was abweichend war, allein der Führung von SS und Polizei zufallen sollte“ (S. 72f.).

 

Mit dem Zweiten Weltkrieg (Kapitel fünf) erreichte das Operieren der SS quantitativ wie qualitativ seinen Zenit: auf den Schlachtfeldern im Rahmen des militärischen Einsatzes der Waffen-SS (militärisch ausgebildete und bewaffnete SS-Formationen, die mit anderen SS-Gliederungen in einem „institutionalisierten personellen Austausch“ standen, was die „Haltlosigkeit der nach 1945 konstruierten Trennung zwischen der Waffen-SS und der restlichen Schutzstaffel“ zeige; S. 79), zu der bald wenige Freiwillige und eine große Zahl Zwangsrekrutierter aus aller Herren Länder stoßen sollten, sodass insgesamt an die 900.000 Männer während des Krieges dort ihren Dienst versahen, und schließlich in der im Holocaust gipfelnden Realisierung der rassenideologischen und bevölkerungspolitischen Zielsetzungen des NS-Regimes, zu welchem Zweck Himmler 1939 mit den Agenden eines „Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums“ (RKFDV) betraut worden war. Frühzeitig habe Hitler seine Exekutoren vor strafrechtlichen Anfechtungen bewahrt: „Am 4. Oktober 1939 erließ er eine Generalamnestie für alle während des Polenfeldzugs begangenen Taten. Am 17. Oktober 1939 gewährte er dem ‚Schwarzen Orden‘ eine eigenständige SS- und Polizeigerichtsbarkeit. Bis 1945 blieben Himmlers Henker dem Zugriff regulärer (Militär-)Gerichte entzogen. Der ‚Führer‘ wusste sehr genau, was die Schutzstaffel im Rücken der Front trieb. Und er hieß es gut“ (S. 88). Unter der vielsagenden Überschrift „Alibi einer Nation“ geht es dann im abschließenden, sechsten Abschnitt um die juristische Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen, um die Nachkriegskarrieren von Tätern und um den Wandel der Täterbilder vom Kriegsende bis zur Gegenwart.

 

Heute sei festzuhalten, dass die in populären Produktionen wie Jonathan Littells Bestsellerroman „Die Wohlgesinnten“ (2008) oder Quentin Tarantinos Thriller „Inglourious Basterds“ (2009) kreierte „Dämonisierung von SS-Männern zu genialisch-faszinierenden Verkörperungen eines gewissermaßen überzeitlichen ‚Bösen an sich‘“ nichts zum historischen Verstehen beitrage, welches vielmehr eine „Vielzahl von Faktoren“ zu berücksichtigen habe: „die speziellen Erfahrungen der Kriegs- und Kriegsjugendgeneration des Ersten Weltkriegs, die gesellschaftlichen und kulturellen Verwerfungen der Weimarer Jahre, die Ideen der Rassisten, Eugeniker, Raumplaner und anderen Vordenker der Vernichtung, die von Himmler konzipierte ‚Erziehung‘ der SS-Männer und ebenso gruppen- wie situationsspezifische Sozialisation der Gewalt in den KZ-Wachmannschaften, Einsatzgruppen und Einheiten der Waffen-SS“. Eine offenere Gesellschaft sei nun „(d)ank des jahrzehntelangen Einsatzes deutscher und internationaler Strafverfolger und Historiker“ in eine intensive öffentliche Auseinandersetzung mit „dem schweren Erbe des Nationalsozialismus“ eingetreten, womit endlich auch „die SS ihre Rolle als ‚Alibi einer Nation‘ ausgespielt“ habe (S. 118).

 

Wie der Text bemühen sich auch die ausgewählten Illustrationen des Bändchens um die Vermittlung eines knappen und dennoch möglichst repräsentativen Einblicks in die gespaltene Lebenswelt der Schutzstaffel; sie zeigen die prominenten SS-Führer Himmler und Heydrich, das SS-Idealbild eines nordischen Mannes, eine Schulungsszene aus der Allgemeinen SS, eine kultische Heinrichs-Feier in der Krypta des Quedlinburger Doms, ein Heim des „Lebensborn“, Dachauer Häftlinge bei der Zwangsarbeit, bosnische Muslime in den Reihen der Waffen-SS, eine Selektion ungarischer Juden und ein Nachkriegstreffen der „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit“ (HIAG). Drei auf eine Seite (S. 119) gedruckte Organigramme des SS-Apparates 1934, 1939 und 1944 sollen dessen zunehmende Komplexität illustrieren, sind allerdings so klein geraten, dass sie für das Auge gerade noch mit Mühe lesbar sind.

 

Kapfenberg                                                               Werner Augustinovic