Hagemeister, Michael, Die „Protokolle der Weisen von Zion“ vor Gericht. Der Berner Prozess 1933-1937 und die „antisemitische Internationale“ (= Veröffentlichungen des Archivs für Zeitgeschichte ETH Zürich 10). Chronos, Zürich 2017. 645 S., 39 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Bei den „Protokolle(n) der Weisen von Zion“ (kurz „Protokolle“) handelt es sich um eine Schrift bis heute nicht restlos geklärten Ursprungs, die sich als wörtliche Wiedergabe einer von einem jüdischen Sprecher vor einer nicht näher definierten Zuhörerschaft gehaltenen Rede präsentiert. Inhaltlich werden darin die Methoden und Ziele einer angeblich jahrhundertealten jüdisch-freimaurerischen Verschwörung zur Erlangung der Weltherrschaft geschildert. 1902/1903 im zaristischen Russland erstmalig erwähnt und publiziert, aber kaum beachtet, „(begann) ihr weltweiter Siegeszug in der krisengeschüttelten Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und der Revolution in Russland, als sie im Gepäck russischer Emigranten in den Westen gelangten, wo sie als Erklärung für den Zusammenbruch der alten Ordnung und als Warnung vor der ‚jüdisch-bolschewistischen Gefahr‘ begierig aufgenommen wurden“ (S. 45f.). Die in unterschiedlichen Varianten kursierenden Übersetzungen des Textes avancierten ungeachtet seiner zweifelhaften Herkunft nun für antisemitische Verschwörungstheoretiker jeder Couleur zum programmatischen Bezugspunkt, wobei „(f)ür den Glauben an die Verschwörung die Frage, ob es sich bei den Protokollen um ein authentisches Dokument handelte, letztlich belanglos (war). Entscheidend war, dass der Gang der Geschichte in Übereinstimmung mit ihren vermeintlichen Vorhersagen zu verlaufen und damit den Plan der unsichtbaren Manipulateure zu bestätigen schien“ (S. 53). Anknüpfend an ältere Beziehungsgeflechte, habe sich über nationale Grenzen hinweg ein bislang noch wenig erforschtes, „Kontinente umfassendes Netzwerk“ von Antisemiten etabliert, „so dass sowohl sie selbst als auch ihre Gegner von einer ‚antisemitischen Internationale‘ sprachen“ (S. 60). Auch in der neutralen Schweiz „erlebte die Judenhetze […] während des sogenannten ‚Frontenfrühlings‘ im Jahr 1933 (einen Aufschwung). Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise, der wachsenden Arbeitslosigkeit, der Spaltung der ‚Volksgemeinschaft‘ durch Rechtsparteien und Linksparteien sowie der Erfolge des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus hatten sich Gruppen formiert, die eine grundlegende Umgestaltung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse auch in der Schweiz forderten“ (S. 80).

 

Unter die Maßnahmen, mit denen sich die Organisationen der Schweizer Juden des zunehmend aggressiveren Antisemitismus in ihrem Land zu erwehren suchten, fällt auch die Strafanzeige, die der Israelitische Gemeindebund und die Israelitische Kultusgemeinde Bern am 26. Juni 1933 beim Untersuchungsrichteramt Bern gegen die Gauleitung Bern des Bundes National-Sozialistischer Eidgenossen sowie gegen Unbekannte einbrachten. Die Anzeige führte nach den üblichen Ermittlungen zur Eröffnung eines Strafverfahrens gegen fünf Aktivisten, die im Anschluss an eine Großkundgebung in Bern antijüdische Schriften, darunter die „Protokolle“, in Umlauf gebracht hatten. Rechtsgrundlage war ein nur im Kanton Bern geltendes Gesetz über das Lichtspielwesen und Maßnahmen gegen die Schundliteratur aus dem Jahr 1916, das die „Herstellung und das ‚Inverkehrbringen‘ jeglicher Schriften, Lieder und Darstellungen, ‚deren Form und Inhalt geeignet sind, zur Begehung von Verbrechen anzureizen oder Anleitung zu geben, die Sittlichkeit zu gefährden, das Schamgefühl gröblich zu verletzen, eine verrohende Wirkung auszuüben oder sonst wie groben Anstoss zu erregen“, untersagte und im Fall des Zuwiderhandelns eine Geldbuße oder eine Gefängnisstrafe androhte. Die tiefere Absicht der Kläger war es jedoch, auf diesem Weg über Urkundenbeweise, Zeugenaussagen und Expertengutachten die „Protokolle“ als Fälschung zu erweisen und durch den Spruch eines neutralen Gerichts feststellen zu lassen. Tatsächlich verkündete Richter Walter Meyer am 14. Mai 1935: „Die Protokolle sind eine Fälschung, sie sind ein Plagiat und sie fallen unter den Tatbestand des Art. 14 des […] Gesetzes [über Schundliteratur]. Zwei der fünf Beklagten, Silvio Schnell und Theodor Fischer, wurden wegen Verstössen gegen das Schundliteraturgesetz zu geringen Geldbussen […] sowie zur Beteiligung an den hohen Staats- und Parteikosten verurteilt. Die übrigen drei Beklagten wurden freigesprochen und entschädigt“ (S. 114). Im Berufungsverfahren kassierte die I. Strafkammer des Berner Obergerichts allerdings den Spruch und erklärte „die Frage nach dem Urheber der Protokolle und nach Echtheit oder Fälschung sowie das damit verbundene aufwendige Beweisverfahren in erster Instanz einschliesslich der Zeugeneinvernahmen, Dokumente und Expertisen rundweg für bedeutungslos“, Schnell und Fischer wurden „mangels eines vorliegenden gesetzlichen Tatbestandes in allen Punkten freigesprochen“. Erklärt wurde, die „Protokolle“ seien „Schundliteratur – im ästhetischen, literarischen, aber nicht im rechtlichen Sinne“;  darüber hinaus wurde jedenfalls anerkannt, dass der Beweis für ihre Echtheit „bis heute nicht geleistet“ und sie „mindestens zur Hälfte […] abgeschrieben“ worden seien (S. 127f.). Nach Ansicht Sibylle Hofers („Richter zwischen den Fronten“, 2011) offenbare das Urteil der Berner Richter den Vorrang liberal-rechtsstaatlicher  Grundsätze gegenüber einer politischen Justiz. Völlig zutreffend verweist auch der Verfasser auf die hier sichtbar werdenden „Grenzen der Justiz bei der Abwehr ideologischer Angriffe“, deren Instrumentarium der Klärung historischer Fragestellungen nicht angemessen sein kann. Das Vorgehen der Kläger im Bemühen um den Fälschungsnachweis erweise sich „in weiten Teilen als ein mit Hilfe zweifelhafter Zeugen sowie durch Selektion und Manipulation der Quellen verfertigtes Konstrukt, das der Bekämpfung des antisemitischen Verschwörungsdenkens dienen sollte, nicht aber um gesicherte historische Erkenntnis bemüht war“. Durch den Berner Prozess sei so „die Ochrana-These [also die vermutete Urheberschaft des zaristischen Geheimdienstes an den „Protokollen“; W. A.] gleichsam kanonisiert und fortan nur mehr tradiert, kaum jedoch ergänzt und kritisch hinterfragt“ worden (S. 133). Auf der anderen Seite wiederum seien die im Zuge des Prozesses zutage geförderten und angefallenen, nun auf zahlreiche Archive verstreuten aussagekräftigen Materialien dem Vergessen anheimgefallen.

 

Es ist das Anliegen des vorliegenden Bandes, diese Defizite aufzuarbeiten. Zu diesem Zweck hat Michael Hagemeister, dessen akademische Laufbahn als Historiker und Slavist sich, wie er selbst sagt, „aus einem guten Dutzend befristeter Stellen zusammensetzt“ (S. 8) und ihn mittlerweile an die Ruhr-Universität Bochum geführt hat, sein 2006 im Rahmen eines Projekts am Historischen Seminar der Universität Basel gestartetes Forschungsvorhaben systematisch weitergeführt und nun zum Abschluss gebracht. Seine Publikation präsentiert sich als Quellendokumentation, eingebettet in kommentierende und kontextualisierende Begleitelemente. Der Darlegung der Forschungsgeschichte und der Quellenlage (relevante Quellen mussten in mehr als 30 Archiven in 10 Ländern recherchiert werden und sind in der umfangreichen Bibliographie des Bandes vorbildlich ausgewiesen) folgt eine etwa 100 Seiten umfassende Darstellung zur Geschichte der „Protokolle“ und des Berner Prozesses. Daneben wird auch über einen parallel geführten, per Privatstrafklage wegen Verleumdung initiierten und nur wenig beachteten Prozess in Basel (1933 – 1936) berichtet. Beide Prozesse sind im Kernteil des Bandes (S. 135 – 447) jeweils als Chronik erfasst. Die Eintragungen enthalten das Datum des Ereignisses, einen mehr oder weniger ausführlichen Text (punktuelle Angabe eines relevanten Sachverhalts oder die regestenartige, bisweilen um Zitate erweiterte Erfassung von Beschlüssen, Anträgen, Mitteilungen, Schreiben usw.) und – in den meisten Fällen – einen Quellennachweis. Beispielsweise lautet eine (besonders knappe) Einheit: „1933 15.6. In der Zeitung Der Eidgenosse. Kampfblatt der Nationalsozialistischen Eidgenossen erscheint ein anonymer Artikel ‚Schweizermädchen, hüte Dich vor schändenden Juden!‘“ (S. 137), eine andere: „1934 12.11. Gerichtspräsident Meyer an Fleischhauer: Stellt ihm die Akten des Prozesses im Bezirksamt Zurzach zur Einsichtnahme zur Verfügung, kann jedoch keine Hilfskräfte zum Abschreiben stellen (W[iener]C[ollection]: B[ern]T[rial] 12B/12)“ (S. 221). Die Aufzeichnungen sollen erkennen lassen, „wie in Bern und Basel die ‚Abwehr des Antisemitismus‘ organisiert wurde, welche Vorgehensweisen und Argumentationsmuster erörtert, verworfen oder verfestigt wurden, wie man sich auf Zeugen einigte, Gutachten in Auftrag gab und kommentierte und wie die Gerichte und die Experten agierten“, wurden doch „sowohl auf Seiten der Kläger wie der Beklagten […] umfangreiche, international koordinierte Recherchen zum Ursprung und zur Frühgeschichte der Protokolle betrieben, von deren Ergebnissen nur jener – relativ geringe – Teil an die Öffentlichkeit gelangte, der für die jeweilige Prozessstrategie verwendbar zu sein schien“ (S. 12). Es erfordert allerdings bei der Lektüre große Aufmerksamkeit und fällt keineswegs leicht, diese zahlreichen, chronologisch fortlaufend angeordneten und vielfältigen Angaben gedanklich zu einem konsistenten Bild der Ereignisse zusammenzuführen. Zu den Chroniken treten schließlich noch ein separater Dokumententeil (acht Schriftstücke, mehrere davon in französischer Sprache) und eine umfangreiche Zusammenstellung der Biographien der oft kaum bekannten und in das historische Geschehen um die Geschichte der „Protokolle“ involvierten Akteure von Juliette Adam bis Otto Zoller. Gerade diese detailreichen Lebensläufe wie jener des altösterreichischen Diplomaten und exponierten Judengegners Anton Georg de Pottere, der sich in den 1920er-Jahren als Organisator internationaler Antisemitenkongresse betätigte und – ein Konzept seines britischen Gesinnungsgenossen Henry Hamilton Beamish fortschreibend – 1931 „die ‚radikale Ausscheidung‘ aller Juden und ihre Deportation auf eine Insel (Madagaskar) (propagierte), wo sie abgesondert und unter ‚pan-arischer Kontrolle‘ einen eigenen Judenstaat errichten und sich ‚entparasiten‘ sollten“ (S. 558), vermitteln erhellende Einblicke in die Netzwerke der „antisemitischen Internationale“ und ihrer Kontrahenten.

 

Auffallend ist das trotz seines radikalen Antisemitismus ambivalente Verhältnis des nationalsozialistischen Staates zu den „Protokollen“. Hitler bediente sich zwar „des Mythos der jüdischen Weltverschwörung als Propagandawaffe, doch bezog er sich dabei nur selten ausdrücklich auf die Protokolle“, und auch andere führende Vertreter des Regimes hätten sich gegenüber der Schrift betont „skeptisch“ und „zurückhaltend“ geäußert. Ab 1939 sei sie „in Deutschland nicht mehr aufgelegt“ worden; „vielleicht fürchteten die Machthaber den Vergleich  ihrer eigenen Herrschaftsmethoden und –ziele mit denen der angeblichen Weltverschwörer“. Diesen Vorwurf hätten bereits zeitgenössische Kritiker ventiliert, und Hannah Arendt habe später geschrieben: „Die Nazis begannen mit der ideologischen Fiktion einer Weltverschwörung und organisierten sich mehr oder weniger bewusst nach dem Modell der fiktiven Geheimgesellschaft der Weisen von Zion“ (S. 50ff.). Für die Gegenwart gilt, dass bekanntlich weder der Antisemitismus noch der Glaube an die in den „Protokollen“ niedergelegten Szenarien verschwunden sind. Mit Oleg Platonov und Jurij Begunov haben sich zuletzt im postsowjetischen Russland zwei einflussreiche Apologeten der „Protokolle“ öffentlichkeitswirksam zu positionieren vermocht, darüber hinaus fördern globale krisenhafte Entwicklungen generell die Neigung zu Verschwörungstheorien. Transparenz ist somit weiterhin gefragt. Publikationen, die sich, wie die vorliegende, um eine unvoreingenommene Dokumentation und Einschätzung nachweisbarer Fakten und Argumentationslinien und damit um sachliche Aufklärung bemühen, stellen hierzu einen nützlichen Beitrag dar.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic