Goldfine, Yitzhak, Einführung in das jüdische Recht. Eine historische und analytische Untersuchung des jüdischen Rechts und seiner Institutionen, Hamburg 1973. Neuausgabe New Academic Press, Wien 2017. 158 S., 1 Abb. Besprochen von Reinhard Schartl.

 

Der Verfasser legt eine, wie er im Vorwort mitteilt, neu bearbeitete und zum Teil korrigierte Fassung der Erstauflage von 1973 vor und nennt als Motivation, dass die Forschung im Bereich des jüdischen Rechts bis heute eine große Bedeutung für das jüdische Volk und für die Erforschung der Quellen der Rechtswissenschaft habe. Ausweislich des Literaturverzeichnisses hat er jedoch kein nach der Erstauflage erschienenes Schrifttum verwertet. Der Grund dafür geht aus dem Vorwort der Erstauflage hervor, wonach es seit dem Zweiten Weltkrieg keine Veröffentlichungen mehr über das jüdische Recht und seine Quellen gegeben habe und auch deutschsprachige Abhandlungen sämtlich vor 1930 erschienen seien. Goldfine konstatiert, dass eine Folge der nationalsozialistischen Zeit die Vernichtung des gesamten Fachbereichs dieser Wissenschaft sei, die nach seiner Einschätzung auch keine Fortsetzung mehr finden werde. Demgegenüber ist aber darauf hinzuweisen, dass gerade in neuerer Zeit und zwischen den Auflagen der zu besprechenden Schrift Arbeiten in deutscher Sprache einerseits über das alttestamentarische Recht (aus religionsgeschichtlicher Sicht etwa Hans Jochen Boecker, Recht und Gesetz im Alten Testament und im alten Orient, 2. Auflage,  1984; Eckart Otto, Das Gesetz des Mose, 2007), andererseits über jüdisches Recht (beispielsweise Andreas Gotzmann, Jüdisches Recht im kulturellen Prozess, 1997; Christoph Herfarth, Die Scheidung nach jüdischem Recht im internationalen Zivilverfahrensrecht, 2000; Justus  von Daniels, Religiöses Recht als Referenz, 2009) veröffentlicht wurden. Daneben gibt es Ansätze, das jüdische Recht durch einführende Kurzdarstellungen auch in der Juristenausbildung zu thematisieren. Ferner sind Erläuterungen des jüdischen Rechts im Internet zugänglich. Die Thematik scheint also nach wie vor auf erhebliches Interesse zu stoßen. Das jüdische Recht ist dadurch gekennzeichnet, dass die Glaubensgemeinschaft der Juden nach der zweiten Zerstörung des Tempels (70 n. Chr.) nicht mehr staatlich organisiert war und einer zentralen Gewalt entbehrte, die eine einheitliche Rechtsentwicklung ermöglicht hätte. So kam es zu der typischen pluralistischen Kultur, die sich dadurch behalf, dass die widerstreitenden Meinungen der Gelehrten in eine auf unterschiedliche Autorität gegründete Hierarchie gebracht wurden. Der Verfasser schildert im ersten von fünf Teilen des Buches in einem groben Überblick die Entwicklung des jüdischen Rechts, die zugleich mit der Geschichte des jüdischen Volkes einen Zeitraum von nahezu 4000 Jahren umfasst. Er hebt hervor, dass die Tora die Pflichten zwischen dem Menschen und Gott und zwischen den Menschen enthält und beide Beziehungen heilig sind. Die Halacha besteht aus einem rechtlichen Teil (auch Mamona = zivilrechtliche Angelegenheiten) und einem religiösen Teil (auch Isura = religiöse Angelegenheiten), die sich gegenseitig in der Weise beeinflussen, dass die rechtliche Halacha durch die religiöse Halacha ergänzt oder verbessert wird. Goldfine führt dazu ein  instruktives Beispiel an: Nach der Halacha verliert derjenige, der Geld verleiht, anders als bei der Verpfändung einer Sache, das Eigentum an den Geldstücken, so dass er das Geld nicht aufgrund Eigentums zurückverlangen kann. Die in der Halacha aufgeworfene Frage, ob der Darlehensgeber das Geld zurückverlangen könne, wurde von Rabbi Huna als sein legitimes Recht bestätigt, während Rabbi Papa die Auffassung vertrat, es gebe für den Darlehensgeber kein rechtliches Mittel und für den Darlehensnehmer keine rechtliche Pflicht, sondern nur ein religiöses Gebot, das Geld zurückzuzahlen, das aber durch das Tribunal erzwungen werden könne. Daraus wird nach dem Verfasser deutlich, dass eine Regelung aus dem religiösen Bereich zur Lösung eines Problems im rechtlichen Bereich herangezogen wurde. Im zweiten Teil wendet sich der Autor nach der Vorstellung der in der Zeit nach der schriftlichen und der mündlichen Tora verfassten sekundären Quellen (unter anderem auf Papyrusrollen geschriebene Dokumente und Flavius‘ Jüdische Altertümer) sowie einer Reihe von auslegenden Halacha-Sammlungen dem ersten wichtigen Grundstein des Talmud, der Mischna zu. Zu der von Rabbi Jehuda ha-Nassi (kurz: Rabbi) gegen Ende des 2. Jahrhunderts redigierten und herausgegebenen Mischna diskutiert Goldfine die Frage, ob der Rabbi nur eine systematische Zusammenstellung der damals existierenden Halachot oder eine verbindliche Gesetzessammlung schaffen wollte. Er schließt sich der letztgenannten, mehrheitlichen Deutung der Gelehrten an und begründet dies zum einen damit, dass der Rabbi sehr oft eine Meinung als endgültig hinstellte, zum anderen als wichtigstem Argument damit, dass die Zeit für ein Gesetzbuch reif gewesen sei. Aufgrund  zunehmender Streitigkeiten über die Halacha habe das an Einfluss und Macht verlierende oberste jüdische Gericht (das Synhedrion) nicht mehr ausreichend einstimmig entscheiden können. Als Folge davon seien mehrere Sammlungen der Mischna mit widersprüchlichen Halachot erschienen, so dass der Rabbi wohl eine einheitliche und verpflichtende Version habe schaffen wollen. Anschließend skizziert Goldfine die Entstehung des Jerusalemer (wahrscheinlich Anfang des 5. Jahrhunderts) und des bedeutenderen babylonischen Talmuds (um 500), wobei er die Auffassung bevorzugt, dass der Talmud kein Gesetz sei. Im dritten Teil werden die „Entwicklungsmethoden“ des jüdischen Rechts geschildert, beginnend mit dem Midrasch, der streng geregelten Auslegung der Tora, gefolgt von der sogenannten Gesetzgebung (Takkanot und Geserot) durch die Gelehrten, die von der Tora in bestimmten Bereichen zugelassen wird. Der Autor benennt hier eine Reihe von Verordnungen, beginnend bereits mit Moses und König David  bis zu den Geonim genannten Gelehrten und Leitern der Hochschulen (bis zum Ende des 6. Jahrhunderts oder der Mitte des 7. Jahrhunderts), die sich inhaltlich zum Beispiel mit dem Widerruf des Scheidebriefes, dem Erbrecht von Töchtern, der Zulassung des Klägereides (im Gegensatz zu dem von der Tora allein vorgesehenen Beklagteneides) oder der durch wirtschaftliche Änderungen erforderlich gewordenen Haftung auch der Mobilien für Schulden befassen. Als sich der Mittelpunkt der jüdischen Diaspora von Babylonien nach Westeuropa verlegte und kein Zentrum für die jüdische Rechtsentwicklung mehr bestand, ging durch die nunmehr lokale Verordnungsgebung die Rechtseinheit verloren, wofür Goldfine als Beispiel die nur im Westen verbotene Vielweiberei anführt. Zu den sogenannten Verordnungen der (gemeindlichen) Gemeinschaft (Takkanot ha-Kahal) weist Goldfine auf den Gelehrtendisput hin, inwiefern die Mehrheitsentscheidung die Minderheit binden könne. Als weitere Entwicklungsmethode neben Midrasch und Gesetzgebung gilt das Gewohnheitsrecht, durch das Meinungskontroversen entschieden, bestehendes Recht ergänzt und zwischen den Menschen geltendes Recht geändert werden konnte. Im vierten Teil behandelt die Arbeit die nachtalmudischen Quellen, in erster Linie die Kommentare der Geonim und die Stellungnahmen der Rabbiner. Hinzukommen schriftliche Entscheidungen und die Beantwortung von Fragen durch die Gelehrten und die Vorsitzenden der Hochschulen (Schot), von denen die älteren im Talmud enthalten sind und andere in Sammlungen zusammengestellt wurden. Der Verfasser nennt hier eine Zahl abgedruckter Entscheidungen von mehr als 250.000. Er vergleicht diese Entscheidungen mit den Präzedenzfällen des angloamerikanischen Rechts und sieht nur formelle und äußerliche Unterschiede. Von den Rechtssammlungen der Gelehrten der nachtalmudischen Zeit (Halachot und Pesakim), die im Gegensatz zu den Schot das Recht theoretisch und abstrakt behandeln, geht Goldfine unter anderem auf die Mischne Tora des Rabbi Mosche ben Maimon (Maimonides, Rambam, 13. Jahrhundert) ein, die er als Höhepunkt der Rechtsliteratur der gesamten Periode bezeichnet, und hebt hervor, dass das Werk beanspruchte, zusammen mit der Tora die alleinige maßgebende Quelle des jüdischen Rechts zu sein. Zur Mischne Tora entwickelte sich wiederum eine umfangreiche Literatur. Das von Rabbi Ascher be- Rabbi Jechiel (Rosch) verfasste Werk Piskej ha-Rosch unterscheidet sich von der Darstellung des Maimonides insofern, als der Richter nicht an die Auffassungen frühere Rechtsgelehrte gebunden sein sollte. Wie der Autor hervorhebt, waren ein weiteres bedeutsames Werk die Sifre ha-Turim (Bücher der Säulen) des Rabbi Jakob be-R. Ascher be- Rabbi Jechiel (um 1300), das gleichfalls weitere Bearbeitungen und Kommentare nach sich zog. Der letzte wichtige und bis heute maßgebliche Kodex ist der von dem sephardischen Gelehrten Rabbi Josef Karo im 16. Jahrhundert verfasste Schulchan Aruch (der gedeckte Tisch). Der letzte Teil geht kurz auf die Entwicklung des jüdischen Rechts in der Neuzeit ein. Insbesondere beschreibt der Verfasser die Zuständigkeiten der jüdischen Gerichte, wobei ihnen im deutschen Reich die Zuständigkeit für zivilrechtliche Angelegenheiten nach und nach genommen wurde, während sie im vorderen Orient bis zur britischen Mandatsübernahme bei den Rabbinergerichten verblieb, anschließend bis heute aber auf bestimmte familienrechtliche Bereiche beschränkt wurde. Die Arbeit behandelt differenziert die Einzelheiten der Entwicklung des jüdischen Rechts und vermittelt dadurch einen wertvollen Überblick für denjenigen Leser, der sich noch nicht näher in dem Fachgebiet befasst hat. Wünschenswert wäre ein Glossar der hebräischen Begriffe gewesen, deren Erläuterung der nicht sprachkundige Leser immer wieder im Text aufsuchen muss.

 

Bad Nauheim                                                            Reinhard Schartl