Gerlach, Christian, Der Mord an den europäischen Juden. Ursachen, Ereignisse, Dimensionen. Beck, München 2017. 576 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Der Mensch hat zu seinen Mitmenschen unterschiedliche Beziehungen, die von abgöttischer Hingabe bis zu tödlichem Hass reichen können, weswegen in seiner Geschichte zahlreiche Männer, Frauen und Kinder von Mitmenschen nicht nur verletzt, sondern sogar ermordet wurden. Den bisherigen Höhepunkt dieser Geschehen stellt nach allgemeiner Überzeugung der Mord an den europäischen Juden dar, wie er vor allem zwischen 1939 und 1945 in Europa stattfand. In seinem Mittelpunkt steht der aus nicht wirklich genau bekanntem Grund von Adolf Hitler als dem Reichskanzler des Deutschen Reiches auf ein breites Umfeld übersetzte Vernichtungswille.

 

Mit ihm beschäftigt sich das vorliegende beeindruckende Werk des 1963 geborenen, in Berlin in Geschichte, deutscher Sprache und Literatur, Soziologie und Erziehungswissenschaft ausgebildeten, 1998 bei Wolfgang Scheffler mit der Dissertation Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944 mit Auszeichnung promovierten, nach Tätigkeiten an dem Institut für Sozialforschung in Hamburg, an der Universität Freiburg im Breisgau, in Maryland, in Singapore und Pittsburgh 2008 an das historische Institut der Universität Bern berufenen Verfassers. Es gliedert sich in drei wesentliche Teile.  Sie betreffen die Verfolgung durch Deutsche, die Logiken der Verfolgung und die europäische Dimension.

 

In dem weitgespannten Rahmen seiner eindringlichen Untersuchungen über Gewaltbereitschaft und Gewaltausübung in gewalttätig gewordenen Gesellschaften berechnet er zwölf bis vierzehn Millionen nicht an Kampfhandlungen des zweiten Weltkriegs beteiligter, ganz überwiegend nichtdeutscher Opfer in 18 untersuchten europäischen Ländern (wie etwa Bulgarien, Italien, Kroatien, Norwegen, Polen, der Slowakei, der Sowjetunion oder Ungarn), davon etwa sechs Millionen Juden, drei Millionen nichtjüdischer Polen und drei Millionen kriegsgefangene Staatsangehörige der Sowjetunion. Ausgangspunkt dieser Untaten ist ein weit verbreiteter, viele Bevölkerungsschichten ergreifender Populärrassimus, dessen tatsächliche Umsetzung überwiegend auf bestimmte wirtschaftliche, soziale und politische Interessen in vielen Teilen Europas zurückgeht. Hieraus entwickelte sich beflügelt von unbeschränktem Nationalismus eine vorher kaum vorstellbare Ersetzung von humaner Solidarität durch zwischenmenschliche Feindschaft.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler