Fünfzig (50) Jahre Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien 1966-2016, hg. v. Perz, Bertrand/Markova, Ina. New academic press, Wien 2017. 495 S., 40 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Mit einer fast 500 Seiten starken Publikation bilanziert das Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien das erste halbe Jahrhundert seines Bestehens. Anknüpfend an Impulsgeber wie die Österreichische Gesellschaft für Zeitgeschichte (1960) und den (damaligen) Verein Österreichisches Dokumentationsarchiv der Widerstandsbewegung (1963; später Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes DÖW) 1966 aus der Taufe gehoben, kam dem Institut innerhalb Österreichs eine Vorreiterrolle in der institutionalisierten universitären und außeruniversitären Zeitgeschichtsforschung zu; an den Universitäten Graz und Innsbruck sollten entsprechende Einrichtungen deutlich später, nämlich erst 1984 ins Leben gerufen werden. Bertrand Perz, der 2013 eine assoziierte Professur am Institut erhalten hat und der Österreichischen Gesellschaft für Zeitgeschichte vorsteht, hat gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Ina Markova die Herausgeberschaft des Sammelwerks übernommen, das sich die „Selbsthistorisierung“ des Instituts auf die Fahnen geschrieben hat. Dieser sei eine weitergehende Bedeutung dahingehend zuzuschreiben, als dass allgemein der Wandel der Rahmenbedingungen und der gesellschaftlichen Positionierung der Zeitgeschichte in Österreich während der vergangenen 50 Jahre daraus ersichtlich werden soll. Somit könne, so Institutsvorstand Oliver Rathkolb, „diese etwas ‚andere‘ Festschrift durchaus als historischer Leistungsnachweis für den Anspruch der Zeitgeschichte in der Gegenwart und Zukunft gesehen werden“ (S. 13).

 

In der Tat liefert der Band ein umfangreiches und facettenreiches Bild jener Jahrzehnte zeitgeschichtlicher Forschung, das drei Schwerpunkte setzt. Der erste besteht in der Dokumentation der personellen, räumlichen und thematischen Expansion des Forschungsfeldes und der Einrichtung, die, zunächst räumlich beengt in der Rotenhausgasse im 9. Wiener Gemeindebezirk untergebracht, Ende der 1990er-Jahre auf dem Campus Altes AKH eine großzügigere und angemessene Bleibe fand. Ein zweiter Schwerpunkt befasst sich mit der inhaltlichen und methodischen Ausrichtung der Forschungen, mit Konzepten, konkreten Projekten, aber auch mit den nie ganz zu vermeidenden Defiziten. Eine besondere Plastizität gewinnt die Darstellung dann in ihrem dritten Fokus, den persönlichen, das Atmosphärische einfangenden Erinnerungen der ehemaligen Studierenden und (zum Teil) späteren Institutsangehörigen Peter Autengruber, Irene Bandhauer-Schöffmann, Gerhard Botz, Ulrike Felber, Hans Hautmann, Peter Huemer, Wolfgang Kos, Klaus-Dieter Mulley, Peter Pelinka und Béla Rásky. Es sind liebevoll gezeichnete Miniaturen, die den Zauber einfangen, der dem Sprichwort zufolge allem Anfang innewohnt. Eine von Marianne Ertl gemeinsam mit den Herausgebern zusammengestellte Chronologie (S. 461 – 475) vollzieht dann abschließend den Weg des Instituts zwischen 1951/52 und 2016 in angemessener prosaischer Kürze nach.

 

Obschon wie viele seiner Generation nationalsozialistisch vorbelastet, brachte Ludwig Jedlicka, so führt Sybille Steinbacher aus, als erster Leiter das Institut auf einen guten Weg, wobei er sich in der wissenschaftlichen Ausrichtung zunächst am schon seit 1949 bestehenden Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München orientiert und intensive Kontakte gepflegt habe. Erst als Martin Broszat 1972 in München die Direktion übernahm, „auf einen aufklärerisch-kritischen Umgang mit Quellen setzte“ und „es ablehnte, die Selbstdeutungen der Zeitgenossen der NS-Zeit zur Forschungsgrundlage zu erheben“, kam dieser Austausch weitgehend zum Erliegen, da Jedlicka „sich in seinen eigenen Forschungen nie mit den Verbrechen des Dritten Reiches‘ (befasste), auch richtete er den Blick nicht auf die österreichische Gesellschaft und ihre Bezüge zum Nationalsozialismus oder auf die Strukturen der NS-Herrschaft in Österreich. Aber derlei Themen erarbeiteten seine Promovierenden, die er dazu offensichtlich auch animierte, darunter Gerhard Botz und Karl Stuhlpfarrer. […] Mit Erika Weinzierl, die 1979 als Jedlickas Nachfolgerin Ordinaria in Wien wurde, nahm das Institut für Zeitgeschichte München zwar keine intensive Korrespondenz mehr auf, unterhielt aber weiterhin freundschaftliche Verbindungen nach Wien“ (S. 59ff.). Eine vergleichende Betrachtung dieser beiden grundverschiedenen, einander wenig gewogenen Persönlichkeiten an der Spitze der Wiener Zeitgeschichte liefert Oliver Rathkolb, der „die größte Ähnlichkeit zwischen Jedlicka und Weinzierl im Engagement für Studentinnen und Studenten und in der Beliebtheit ihrer großen Überblickvorlesungen im Audimax“ erkennt (S. 109). Wie die erste Assistentengeneration den Aufbau des Instituts erlebt hat, schildern Anton Staudinger und Gerhard Jagschitz im Rückblick ihren Interviewern Johannes Kramer und Klaudija Sabo (vgl. S. 110ff.). Eine ausführlichere Würdigung erfahren die Mitarbeiter Karl Stuhlpfarrer (2009 verstorben), der sich bei der Dekonstruktion von Geschichtsmythen mit Bezug auf Italien, Südtirol und Slowenien Verdienste erwerben konnte (Bertrand Perz), Peter Malina und Gustav Spann als Proponenten der politischen Bildung (Ina Markova) und Siegfried Mattl (verstorben 2015; Gabriella Hauch, Albert Müller).

 

Aus der Reihe der Aufsätze, die sich mit der strukturellen Entwicklung und der inhaltlichen Ausrichtung des Wiener Instituts für Zeitgeschichte auseinandersetzen, seien an dieser Stelle nur einige markante Aspekte hervorgehoben. So hat Andreas Huber die Abschlussarbeiten zwischen 1965 und 2015 statistisch ausgewertet und die Ergebnisse in Tabellenform aufbereitet. Er kommt zum Schluss, „dass sich die Zeitgeschichte am Wiener Institut in den letzten 50 Jahren zusehends von der Ersten Republik und der Zwischenkriegszeit entfernte und sich seit Mitte der 1980er-Jahre verstärkt der NS-Zeit sowie der Geschichte der letzten 70 Jahre zuwandte“, und betont den Einfluss externer Faktoren (Waldheim-Affäre) wie der Personalentwicklung, mit der „ein deutlicher Auf- und Abschwung einzelner Themenfelder“ einhergehe (S. 265f.). Forschungsbereiche wie die Frauen- und Geschlechtergeschichte (Maria Mesner), Oral History (Regina Fritz), Visual History (Klaudija Sabo, Christina Wieder), Wissenschaftsgeschichte (Friedrich Stadler), Sportgeschichte (Agnes Meisinger, Rudolf Müllner) und die internationalen Beziehungen (Maximilian Graf, Elisabeth Röhrlich) werden in eigenen Beiträgen näher charakterisiert. Friedrich Stadler geht in seiner Abhandlung unter anderem stärker auf die Frage der Periodisierung der Zeitgeschichte ein (S. 316ff.). Bertrand Perz stellt den prekären Fall dar, wie die wegweisende Dissertation der Studentin Gisela Rabitsch aus 1967, „die erste umfassende Monografie zur Geschichte des Lagerkomplexes Mauthausen“ und Dokumentation der „Außenlager des KZ Dachau auf österreichischem Gebiet“ sowie überhaupt „Pionierarbeit […] für das damals noch nicht vorhandene Forschungsfeld Konzentrationslager“ (S. 334), dann von Hans Maršálek, dessen Mauthausen-Dokumentation in der Folge zum Standardwerk avancierte, mutmaßlich in unlauterer Weise ausgewertet und unterschlagen worden ist.

 

Eine unverzichtbare Grundlage für die Arbeit des Instituts stellen seine Materialbasen dar, insbesondere die Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte (FbZ) mit ihren Druckschriften und audiovisuellen Medien und die Sammlungen des hauseigenen Archivs, worüber Markus Stumpf sowie Robert Kaller, Christoph Mentschl und Albert Müller Auskunft geben. Hans Safrian analysiert die Anfänge der österreichischen Zeitgeschichtsschreibung im Kontext des Tauziehens um den angemessenen Zugang zu den Quellen (Stichwort Sperrfristen). Erst im Jahr 2000 seien hier mit dem Inkrafttreten des Bundesarchivgesetzes einheitliche Rahmenbedingungen fixiert worden, während im Denkmalschutzgesetz von 1923 Archivalien nur am Rande erwähnt und der Verfügungsgewalt eines zentralen Archivamts zugeordnet worden waren. Eine Alleinstellung genießt das Wiener Institut im Hinblick auf seinen privilegierten Zugriff auf das audiovisuelle Material des Österreichischen Rundfunks (ORF): „Seit 2011 bietet die FbZ via ORF-Archiv-Außenstelle die einzige externe Zugangsmöglichkeit zum seit 1955 gesendeten und digital vorhandenen Material des ORF. Eine Recherche-Station vor Ort erlaubt den Zugriff auf das ORF-Archiv“ (S. 181). Jährlich würden um die 80 akademische Abschlussarbeiten und um die 40 Arbeiten im Zuge von Lehrveranstaltungen, dazu diverse Forschungsprojekte, dieses exklusive Angebot wahrnehmen.

 

Trotz der fundierten Ausbildung, die das Institut seinen Studierenden vermittle, sei man nicht ohne Sorgen. In seinem Vorwort moniert Oliver Rathkolb übergreifend problematische Konstellationen, die zum Teil den universitären Sektor insgesamt, im Speziellen aber die Geisteswissenschaften und die Zeitgeschichte treffen. So müsse „der weitaus größte Teil an WissenschafterInnen nach ihrer Ausbildung mit einer extrem geringen Anzahl von Laufbahnstellen bzw. fixen Positionen rechnen“; die „Vielfalt an Kreativität und Innovationskraft steht einem unzureichenden Arbeitsmarkt gegenüber“, verbunden mit der „Gefahr, ins wissenschaftliche Prekariat abzurutschen“, eine unbefriedigende Situation, die viele Begabte resignierend zu einem „totalen Berufswechsel“ nötige. Derzeit werde „das innovative Potenzial der Zeitgeschichtsforschung in Österreich sehr stark aus den Bereichen der außeruniversitären und freien Forschung getragen, die vor allem aus Drittmitteln temporär finanziert wird“. Eine Aufstellung der zwischen 1982 und 2016 abgeschlossenen und der insgesamt zehn laufenden, vom Wiener Institut durchgeführten Forschungsprojekte ist im Anhang des Bandes (S. 478 – 490) einzusehen. Ergänzend komme hinzu, dass „leider in den letzten Jahren österreichweit bei Berufungen auf Zeitgeschichtslehrstühle die spezifisch österreichische Zeit- und Gegenwartsgeschichte meist vernachlässigt wurde“ (S. 12f.). Rathkolb kritisiert hier, ohne einer Provinzialisierung das Wort zu reden, im Kern den Trend zu einer unreflektierten personalpolitischen Internationalisierung, durch welche Kompetenzverlust eintreten und genuin österreichische Themen wie der Austrofaschismus, österreichische Eigenheiten des Nationalsozialismus und der Gedenkpolitik sowie Fragen der Neutralität zunehmend aus dem Gesichtskreis verschwinden könnten. Die in der Presselandschaft öffentlich aufgegriffenen Verwerfungen im – derzeit ausgesetzten – Berufungsverfahren um die Nachfolge Helmut Konrads in Graz stehen in einem engen Zusammenhang mit diesem Fragenkomplex. Von den 35 Ordinariaten der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz sollen, aus welchen Gründen auch immer, mittlerweile nur mehr drei mit Österreichern, die große Mehrheit hingegen mit Bundesdeutschen besetzt sein.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic