Drozdiak, William, Der Zerfall. Europas Krisen und das Schicksal des Westens, aus dem Englischen v. Gravert, Astrid/Remmler, Hans-Peter. orell füssli, Zürich 2017. 327 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Während der gesamten bisherigen Geschichte war der westliche, geographisch ziemlich vielgestaltige Teil des eurasischen Großkontinents niemals eine einzige politische Einheit, weil alle individuellen Versuche, Europa der Herrschaft eines einzigen Menschen oder einer einzigen Familie zu unterwerfen, an dem egoistischen Wesen aller Mitmenschen scheiterten. Erst nach dem zweiten Weltkrieg gelang auf der Suche nach Frieden durch Verständigung die Errichtung eines großen Staatenverbunds in dem Rahmen der Europäischen Union. Er erfasst aber noch nicht alle Gebiete Europas und ist bereits wieder der aus dem Egoismus erwachsenen Gefahr der Erosion ausgesetzt.

 

Mit dieser bedeutenden politischen Thematik befasst sich das vorliegende, durch einige Abbildungen veranschaulichte Werk des 1949 geborenen, nach einem Abschluss an der University of Oregon in den 70er-Jahren als ziemlich guter Basketballspieler in Italien, Spanien, Frankreich und Belgien agierenden und nach einem losen weiterführenden Studium an dem Collège d’Europe in Brügge viele Jahre als Korrespondent etwa der Washington Post aus Berlin und Paris und anderen Orten berichtenden Verfassers, der als langjähriger Präsident des American Council on Germany und Direktor des Transatlantic Center des German  Marshall Fund of the United States an der jüngeren Entwicklung des Verhältnisses zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Europa beteiligt war und die zugehörigen Verhältnisse hervorragend kennt. Er gliedert seine persönlich und spannend geschriebene Darstellung in zwölf lokal akzentuierte Kapitel. Sie betreffen Berlin als neues Machtzentrum, London als abtrünniges Reich, Paris auf der Suche nach einstigem Glanz, Brüssel als fragliche Hauptstadt Europas, Madrid als fragwürdige Mitte, das ewige Rom in einem ewigen Niedergang, Warschau zwischen Ost und West, Kopenhagen in grüner Gefahr, Riga in dem Schatten des russischen Bären, Athen an dem südöstlichen Rand, Moskau, Ankara und Tunis als schwierige Nachbarn und Washington mit der Illusion des „America First“.

 

Nach seiner umfangreichen Danksagung an dem Ende des Buches ist das sehr lesenswerte Werk das Ergebnis der Arbeit eines langen Jahres mit zahllosen Reisen, Interviews und Recherchen in ganz Europa, die ihn mit vielen Persönlichkeiten der Zeitgeschichte in Berührung brachten. Auf dieser Grundlage gelingen ihm zahlreiche überzeugende Einsichten in sein umfangreiches und wichtiges Thema. Ob und wie Europa oder auch nur die Europäische Union in der nächsten Zeit unter dem Druck der globalen Entwicklungen, Schwierigkeiten und Herausforderungen zerfallen wird oder kann, vermag auch aber auch er letztlich nicht vorherzusagen, weil der Lauf aller menschlichen Dinge von den vielfältigsten und überraschendsten Gegebenheiten abhängig sein kann, die auch der mächtigste Mensch der Erde bisher nicht allein in jeder Hinsicht nach seinem Willen gestalten kann.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler